Der Sprung in den Glauben

Merkel im Focus

Merkel im Focus

Bei Anne Anne Will hat Bundeskanzlerin Merkel nun schon zum zweiten Mal ihr Erfolgsgeheimnis verraten. Daß sie ein mediokrer Kopf und „eindimensionaler Mensch“ ist, daraus macht sie kein Geheimnis, aber gerade diese Einfältigkeit beschert ihr Erfolg. Man kann ihr nur Hochachtung zollen, wie sie gerade dieses Format immer wieder nutzt, um die Gefolgschaft auszurichten. Sie wirkt sympathisch, sie lächelt angenehm, ja sie kann sogar kichern wie ein flirtendes Girlie – all das ist die Matrize, in die Mama Merkel ihre einfache Botschaft gießt. Nicht nur die zahme Interviewerin hängt gläubig an ihren Lippen, auch im Auditorium ist man schnell berückt und das mediale Urteil fällt zumindest teilweise euphorisch aus. Wir haben eine starke Kanzlerin – lautet die Subbotschaft, die TV-Rambos wie Til Schweiger auch direkt ausplaudern.

Starker Kanzler? Klingelt es da nicht irgendwo?

Argumente waren nicht vonnöten, um die Anhänger zu bestärken und die Kritiker zu sedieren. Stattdessen bemüht Merkel transzendente Kategorien: Glaube, Hoffnung, Logik.

Die Pfarrerstochter kennt ihre Bibel: „Denn wahrlich ich sage euch: So ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so mögt ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin! so wird er sich heben (Mt. 17.20) Auf Kanzlerdeutsch lautet der Satz: „Deshalb wünsche ich mir möglichst viele, die mit daran glauben, dann kann man auch Berge versetzen“. Realität spielt keine Rolle mehr, sie wird durch Wunsch und Glaube und immanente Vergatterung ersetzt. Ihre Logik ist noch immer die gleiche: Wenn es schief geht, dann habt ihr nicht genügend geglaubt, ihr Kleingläubigen. So wie die SPD, die sich klein mache. Damit ist im doppelten Sinne alle Verantwortung von ihr genommen.

Kierkegaard nannte das den „Sprung in den Glauben“ und die „Kreuzigung des Geistes“ – der wahre Glaube enthält immer ein irrationales Element: Credo qia absurdum, brachte Tertullian es auf den Punkt. Ist man einmal in diesen Kreidekreis gesprungen, kann man auch die Schwerkraft überwinden und Berge versetzen. So kann man jeden aufkeimenden Zweifel überwinden: „Ich bin auch manchmal verzweifelt. Aber dann hoffe ich, daß aus der Verzweiflung wieder etwas Vernünftiges wird.“, kontert die Kanzlerin. Das Berufen auf die Vernunft stellt hier einen Kategorienfehler dar, denn Merkel steht gerade nicht in der aufklärerischen Tradition. Mit „etwas Vernünftiges“ meint sie etwas in ihr Weltbild passendes.

Die zweite höhere Instanz, auf die sie sich beruft, ist die Logik: „alles ist gut durchdacht und auch logisch“ und um uns gänzlich davon zu überzeugen, gesteht sie, noch nie so viel nachgedacht zu haben. Ein paar auswendig gelernte Zahlen, nach denen niemand gefragt hatte, sollen den Eindruck umfassenden Wissens und von Kompetenz erwecken. Daran verrät sich diese Logik – es ist nicht die Logik, es ist ihre Logik, es ist die Logik des Kremls, in dem das Licht noch brennt. Wenn Merkel auch nur eine Spur Verständnis von Logik hätte, dann würde sie die Prämissen befragen; sie aber denkt nur vom Ende her und dieses Ende wiederum legitimiert sich aus der Gesinnung. So entwirft sie eine Heilslehre und das Erschreckende ist, daß große Teile der Bevölkerung und der Medien tatsächlich an ihren Lippen hängen und beruhigt ins Bett gehen, weil sie, die starke Kanzlerin, es weiß, es kann, einen Plan hat, nicht abweicht, nicht umsteuert … (Im Focus z.B. wird, ganz Staatsfernsehen, ein zögerlicher Zwischenapplaus zum „begeisterten Applaus“ hochstilisiert.) Das sind für eine Demokratie äußerst bedenkliche Gehorsamsäußerungen, einer sich einem Gesinnungsdiktat ergebenden Gläubigkeit.

Elf Jahre Bundeskanzlerschaft sind offensichtlich für jeden zu viel – wenn selbst eine Nullachtfünfzehn-Person sich danach für unfehlbar halten kann. Das große ICH strahlt überall durch, da helfen auch die Beteuerungen nichts, man nehme die Sorgen der Menschen ernst. Auch wenn sie „verständlich“ seien und sie allen zuhöre, falsch sind immer die Sorgen und irrend immer die Sorgenden. Interessanterweise bemüht Merkel auch die Kategorie des Dienstes, die man normalerweise dem rechten Spektrum zurechnet. Warum gerade ihre Politik Deutschland dienen solle, bleibt offen, Begründungen werden durch Visionen ersetzt, die sich wiederum auf einer totalitären Moralkategorie gründen: Das krumme Holz der Humanität. Dialektisches oder gar rhizomatisches Denken ist Merkel fremd und unbegreiflich.

Aber wer genau hingehört hat, dem ist nicht entgangen, daß es sich um eine Fassade an Selbstsicherheit handelt. Zwei Mal erwähnte Merkel unaufgefordert Heidenau, den Ort, an dem sie im späten August zum ersten Mal mit direkten Angriffen auf ihre Person konfrontiert war. Meinungsumfragen sind Papier, die nimmt man aus einer Distanz wahr, aber unmittelbarer Kontakt mit dem Unwillen kann so manche Lebenslüge erschüttern. Unvergessen bleibt der letzte Auftritt Ceausescus, wie ihm das Gesicht einschlief, als die Menge sich plötzlich nicht mehr konform und wie erwartet verhielt und das, obwohl er wußte, wie es gärt im Lande.

Heidenau, Merseburg, der CSU-Parteitag … das sind die Orte, live, die auch eine Angela Merkel erschüttern können. Und sonst wohl nichts mehr.

Islamophobie

Findling

„Solange der Islam in der Minderheit ist,
wird er sich auf die Religionsfreiheit berufen,
wenn er in der Mehrheit ist,
wird er sie abschaffen.“

Forumsbeitrag eines Zeitungslesers

Wahrscheinlich hat er nur Peter Hammond gelesen oder dieses Video gesehen:

„Zeit“ der Entgrenzung

Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Leitmedien nicht Aussagen von AfD-Granden skandalisieren und daraus ein Entgrenzungsskandalon der politischen Diskussion extrahieren.

Die eigenen Grenzverletzungen scheint man dabei nicht sehen zu wollen oder sehen zu können. So geschah es nun mehrfach, daß die Presse bewußt in den ansonsten sakrosankten Familienrahmen eindrang.

Angefangen hatte diese unselige Art wohl mit Frauke Petrys Ehemann, einem Pfarrer, der sich nach der Trennung medienwirksam von der Politik seiner Noch-Frau, die er lange „still ertragen“ hatte, distanzierte und glaubte, der „Zeit“ beichten zu müssen. „Herr Petry predigt Liebe“, heißt der Artikel sinnschwanger und Frau Petry? … Subtil!

Gipfelpunkt war dann eine böse Ohrenbläserei erneut in der „Zeit“, in der Björn Höckes gesamte Familie einbezogen wurde: „Mein Mitschüler, der rechte Agitator“. Darin versuchte ein ehemaliger „Klassenkamerad“, sich Zugang zu Höcke zu erschleichen, wird abgeblockt und reagiert mit unseriösem Verbreiten von Interna: private Photos werden gezeigt, Briefe zitiert, Wohnadressen genannt, Familienverhältnisse offengelegt und psychoanalysiert, Gehaltsangaben ausgeplaudert, alte Lehrer und Kommilitonen ausgequetscht, in Zeitungsabos gestöbert, in der Geschichte des Vaters wie in einem Papierkorb gewühlt, Kondolenzlisten kontrolliert und sogar das väterliche Grab durch fremde Neugier geschändet usw. Gipfelpunkt der Dummheit – die an die schlimmsten Zeiten der Huffington Post erinnert – ist der Vorwurf, Höcke habe seinen Schülern den massenpsychologischen Klassiker Gustave Le Bon empfohlen – übrigens auch eine Empfehlung von mir! – und den hätten die Nazis ja gern gelesen … die lasen übrigens auch Goethe und Schiller.

Höcke selbst hatte im Vorfeld des Artikels zu einem Fragebogen Stellung genommen, der ihm von der „Zeit“ zugesandt worden war.

Am Schluß wirbt das Blatt unverhohlen um Informelle Mitarbeiter im Casus Höcke – Denunzianten, Petzer, Informanten werden gebeten, in einen „Anonymen Briefkasten“ Material einzusenden. Daß es sich um eine konzertierte Aktion handelt, legt auch dieser Artikel nah. Widerlich, um es mal mit Heiko Maas zu sagen – der sich übrigens auch gerade von seiner Frau getrennt hat …

Und nun also Gaulands Tochter, ebenfalls evangelische Pfarrerin und ebenfalls in der „Zeit“, die des Vaters Äußerungen über als emotionale Erpressung genutzte Kinderaugen „schrecklich“ findet. Organisierter Familienzwist als politisches Mittel.

Wird man morgen den Großonkel Meuthens ins Licht zerren oder einen vergessenen von Storch oder werden Paparazzi Poggenburg durch die Gardine dabei abfilmen, wie er sich braune Schokopaste aufs Frühstücksbrot schmiert?

Nun kann jeder jede Äußerung eines jeden „schrecklich finden“ oder „still ertragen“, nur ändert das nichts daran, daß eine öffentliche Stimme eine repräsentative Stimme sein sollte und wen bitteschön repräsentieren Töchter, Väter, Ehemänner, wenn nicht sich selbst? Und es ändert auch nichts daran, daß diese Versuche, Politiker über private Interna persönlich zu treffen, maßlos und unanständig hoch drei sind!

Hoffnung und Reue

Nach dem Essen werden sie oft gesprächig, die syrischen Flüchtlinge. Es gab gewürzten Fisch, Pommes, Tomaten, Spiegelei, Bohnen mit Knoblauch und Rosenkohl. Letzteren fand ich im Kühlschrank – sie wußten damit nichts anzufangen. Er war in einer Sammelkiste der Tafel. Schon beim gemeinsamen Kochen fängt Khaled zu sprechen an.

Als wir satt am leergeräumten Tisch sitzen und er sich eine Zigarette gedreht hat, sprechen wir über Syrien. Khaled erzählt, daß Assads Truppen jetzt vor seinem Heimatdorf stünden. Er hatte seine Cousine gesprochen. Gemeint ist die Stadt Daal, nördlich von Daraa, unmittelbar an der jordanischen Grenze. Daraa war eine schöne und antike Stadt. Dort begannen 2011 die Unruhen gegen Assad. Heute ist die Stadt ein riesiger Trümmerhaufen – es genügt bei Google-Bilder den Namen einzugeben und die fürchterlichsten Aufnahmen springen einem entgegen. Nicht jeder verträgt das, daher Vorsicht!

2012 floh Khaled in den Libanon und verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau. Nur die weiblichen Familienmitglieder sind noch in der Stadt. Aber der Libanon ist in diesem Teil schiitisch und die Syrer sind Sunniten. Überall gibt es Schikanen und Anfeindungen. Drei Mal wird er auf offener Straße von Hisbollah-Milizen ausgeraubt und geschlagen – weil er Sunnit ist. Und 2015 sagt ihm sein Arbeitgeber am Zahltag: Heute kein Geld – und schickt ihn wie einen Hund weg. Da hat er sich entschlossen, den Weg nach Deutschland anzutreten.

Ob er es bereut habe, frage ich ihn. Er ringt um Worte und kann es auch nur auf Arabisch sagen. Hussain muß übersetzen: Ja, manchmal schon, aber es gab keine andere Wahl. Was soll er denn machen und nun ist es, wie es ist. Alles liegt in Gottes Hand.

Umberto Eco über Migration

Die Rassisten müßten theoretisch eine aussterbende Rasse sein. (Eco)

Noch einmal Eco! Unter allen Nachrufen auf den großen Mann stechen die Worte Arno Widmanns von der Berliner Zeitung heraus – zumindest auf den ersten Blick und von den Flüchtigkeitsfehlern abgesehen; eine Zweitlektüre läßt Zweifel aufkommen. Immerhin macht er auf einen äußerlich unscheinbaren Text Ecos aufmerksam, der den geäußerten Genieverdacht zu bestätigen scheint. Wenigstens was den aus der Geschichte heraus denkenden Visionär betrifft. Schon vor fast 20 Jahren beschrieb der polyglotte Polykulturalist zwei Erscheinungsweisen der Jetztzeit. Die Entartung der politcal correctness zum Fundamentalismus und die Migrationsströme des dritten Jahrtausends – nach christlicher, besser eurozentrischer Rechnung.

„Die Migration, die Toleranz und das Untolerierbare“ heißt das Traktätchen – es zeigt auch Ecos blinden Fleck oder seine Zeitgebundenheit. Trotzdem hat Widmann recht: Hätte man Eco damals verstehend gelesen, wir müßten nicht vor einem derartigen Scherbenhaufen aus mißlungener Humanität, gesellschaftlicher Zerrissenheit, Bigotterie und schnell zusammengeschusterten Notlösungen stehen. Eco setzt für das neue Jahrtausend ein „Gemisch von Kulturen“ voraus, er sieht ein Europa, das dem New York der 90er Jahre ähnelt. Dort

„erleben wir die Negation des Konzepts vom melting pot, verschiedene Kulturen existieren nebeneinander, von den Puertoricanern bis zu den Chinesen, von den Koreanern bis zu den Pakistani; einige Gruppen haben sich miteinander vermischt (wie Italiener und Iren, Juden und Polen), andere bleiben getrennt (in verschiedenen Vierteln, wo sie verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Traditionen pflegen) und alle treffen sich auf der Basis einiger allgemeingültiger Gesetze und einer allgemeingültigen Verkehrssprache, des Englischen, das jeder leidlich genug spricht, um sich verständigen zu können.“

Hier muß man freilich Einspruch erheben. Mittlerweile ist die Zweisprachigkeit in den USA ein anerkanntes Problem geworden. Der Süden ist hispano- der Norden anglophon und immer weniger Menschen lernen die andere Sprache. Es wurde sogar schon die Teilung des Landes angedacht. Vor allem aber übergeht Eco einen wichtigen Fakt, den er zwar nennt, aber nicht zu denken wagt. Warum, so muß man sich doch fragen, haben sich Italiener, Iren, Juden und Polen – Deutsche dürften auch dazu zählen – miteinander vermischt, wohingegen Puertoricaner, Chinesen, Koreaner oder Pakistani „nebeneinander existieren“? Es liegt auf der Hand: die kulturellen und religiösen Differenzen sind zu gravierend. Es genügt Ed McBain zu lesen, den großartigen Krimiautor – der hat in über hundert Romanen anhand der „Big Bad City“ die Phänomenologie der Migration, die Eco fordert, schon längst entworfen … spannend zu lesen, aber kein schönes Bild.

Aber Eco will eigentlich die Abstraktion und die Kritik, die Unterscheidung und da wird er wieder wichtig. Es ist die (Im)Migration:

„Man sollte den Begriff der ‚Immigration‘ von dem der ‚Migration‘ unterscheiden. Immigration liegt vor, wenn einige Individuen sich aus einem Land in ein anderes begeben. Immigrationsphänomene können politisch kontrolliert, begrenzt, gefördert, programmiert und hingenommen werden. Nicht so die Migrationen. Gleich ob sie gewaltsam oder friedlich daherkommen, sie sind wie Naturphänomene. Sie treten ein und niemand kann sie kontrollieren. Migration liegt vor, wenn ein ganzes Volk aus einem Gebiet in ein anderes zieht (wobei es nicht relevant ist, wie viele von ihm im Ursprungsland bleiben, sondern wie radikal es die Kultur des Landes, in das es eingewandert ist, verändert).“

Dann unterscheidet Eco zwischen verschiedenen historischen Migrationsformen – eine Arbeit, die endlich fortgesetzt werden müßte.

Sind Migrationen wie Naturphänomene? Ja und nein! Selbst ein berstender Staudamm – wie die Mossul-Talsperre – wäre ein Naturphänomen, wenn es denn eintritt, und doch von Menschen gemacht. Daß es im Zeitalter der Globalisierung und Verflüssigung, „in einem Klima großer Mobilität“ – das hat Eco als einer der ersten gesehen – zu geschwinden Strömen, plötzlichen Wirbeln und überraschenden Wellen auch an Menschen kommen wird, ist unvermeidlich, das konkrete Wie aber beeinflußbar.

„Immigration haben wir nur, wenn die Immigranten (die aufgrund einer politischen Entscheidung aufgenommen worden sind) in großer Zahl die Lebensweise des Landes, in das sie einwandern übernehmen, Migration dagegen haben wir, wenn die Hereinströmenden (die niemand an der Grenze aufhalten kann) die Kultur des Landes radikal verändern.“

Sowohl Anzahl als auch Abstand dürften entscheidend sein.

„Solange man es mit Immigration zu tun hat, können die Völker hoffen, die Immigranten in einem Ghetto zu halten, damit sie sich nicht mit den Einheimischen vermischen. Ist es Migration, dann hilft kein Ghetto mehr, und die Vermischung wird unkontrollierbar. Die Phänomene, die Europa heute noch als Fälle von Immigration zu behandeln versucht, sind indessen schon Fälle von Migration. Die dritte Welt klopft an die Pforten Europas, und sie kommt herein, auch wenn Europa sie nicht hereinlassen will. Das Problem ist nicht mehr, zu entscheiden, ob in Paris Schülerinnen mit dem Tschador herumlaufen dürfen oder wie viele Moscheen man in Rom errichten soll. Das Problem ist, daß Europa im nächsten Jahrtausend ein … vielrassiger, wenn man lieber will, ein ‚farbiger‘ Kontinent sein wird. Ob uns das paßt oder nicht, spielt keine Rolle: Wenn es uns gefällt, umso besser; wenn nicht, wird es trotzdem kommen.“

Darin die Aufforderung zu erkennen – wie Widmann das tut – einer problematischen Sache eine freiwillige Affirmation entgegenzusetzen, um sie dann als Problem aus dem Zirkel der Aufmerksamkeit gezaubert zu haben und sie vielleicht sogar positiv voranzutreiben – als quasi-marxistischer Helfer der Geschichte –, entbehrt der Logik, die hier ohnehin verletzt wird. Liest man diese Zeilen genau, dann fällt der Kategoriensprung auf. Gleichsam im Nebensatz schwenkt Eco vom ethnischen und kulturellen Fokus auf den religiösen. Ob er es nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte, er meidet jedenfalls diese Auseinandersetzung, was umso erstaunlicher ist, als er im nächsten Abschnitt ausführlich über den wachsenden Fundamentalismus und Integralismus spricht, ohne auch nur das Hauptproblem zu benennen: die Einwanderung einer Fundamentalreligion, deren innerster Kern der totale Integralismus ist.
Die Kernfrage der Zukunft wird sein, wie die „Offene Gesellschaft“ mit sich rasch vermehrenden geschlossenen Ideologien umgehen wird: bleibt sie offen, wird sie an ihrer Offenheit schon numerisch untergehen, bekämpft sie das Geschlossene, ist sie nicht mehr offen. Ecos Trost, daß diese Ein- und Unterwanderung wie im dekadenten Rom sich über Jahrhunderte hinziehen könnte, ist angesichts der vollkommen anderen Mengen und der Fluidität auf allen Ebenen leider wohl ein Selbstbetrug.

Schließlich widmet er sich dem Begriff der Toleranz. Auch hier sind Licht und Schatten eng beieinander. Erfrischend ist, den Begriff nicht als Ideologem behandelt zu sehen:

„Intoleranz beginnt vor jeder Doktrin. In diesem Sinne hat sie biologische Wurzeln … Intoleranz gegenüber dem Andersartigen oder Unbekannten ist beim Kind so natürlich wie der Instinkt, sich alles, was es haben will, einfach zu nehmen. … Es ist jedoch nicht so, daß die Doktrinen der Verschiedenheit diese rohe Intoleranz hervorbrächten. Im Gegenteil, die Doktrinen machen sich einen bereits diffus vorhandenen Bodensatz von Intoleranz zunutze.“

Gegen diese rohe Intoleranz könne keine Theorie und kein Intellektueller etwas ausrichten. Sie in die politische Rechnung von vornherein mit aufzunehmen – das scheint die Konklusion daraus zu sein – ist ein Akt staatskluger Weisheit, sie auszuschließen und mit Moralin zu übergießen – was wie ein Brandbeschleuniger wirkt – dagegen politische Dummheit. So verabscheuenswürdig die zahlreichen direkten Angriffe auf Flüchtlinge sind, sie waren so vorhersagbar und damit auch einrechenbar wie der morgige Sonnenaufgang.

Leider hat Eco es hier versäumt, den Begriff der Toleranz näher zu beleuchten, obwohl er der italischen Sprache entstammt: „tolerare“. Er bedeutet nicht „anerkennen“, wie viele meinen, sondern „dulden, ertragen, aushalten“. Goethe hingegen hatte das Problem bereits erkannt. Dabei muß man genau auf die grammatischen Subtilitäten achten, wenn er in den Maximen und Reflexionen schreibt:

„Toleranz sollte eigentlich eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Quelle: Umberto Eco: Vier moralische Schriften. München 1998

Sensibles Thema

Ich weiß, es ist eine sensible Frage, ein gesellschaftliches Tabu ersten Ranges, über das man nur hinter vorgehaltener Hand spricht (ganz ohne böse Ironie) oder besser noch gänzlich schweigt, nur unter allerallerbesten Freunden vielleicht …, ein empfindsames Thema, eigentlich vollkommen politisch inkorrekt und mancher Leser – was mir sehr leid täte und wofür ich mich pflichtgemäß schon mal vorab entschuldigen möchte – wird die Grenzen des guten Geschmacks oder sogar der Moral überschritten sehen, mich vielleicht sogar einen Unmenschen oder schlimmer noch Rassisten nennen – dabei glaube ich nicht und behaupte auch nicht, daß es sich um eine Frage der Rasse im eigentlichen oder auch nur im weitesten Sinne handelt und überhaupt distanziere ich mich von Rassismus und solchen Sachen –, man wird mich möglicherweise mit Sarrazin in einen Topf werfen – was der liebe Herrgott verhindern möge –, aber ich sage es jetzt trotzdem, betone aber ausdrücklich, daß ich nicht über alle Eritreer spreche, diese fast sechs Millionen Menschen, noch nicht einmal über die meisten, also durchaus nicht behaupte, daß das Eritreer-Sein bzw. weil sie Eritreer sind, dafür verantwortlich sei, und ich spreche auch nicht über d e n Eritreer an sich, sondern nur über die wenigen, die ich kenne (und die ja kaum repräsentativ sein können), also 21 Menschen eritreischer Abstammung, alle jung, zwischen 18 und 35 Jahren, Christen und Muslime, Männlein und Weiblein gleichermaßen, letztere auch schwanger – was im Einzelfall eine Erklärung hätte sein können –, daß also diese mir bekannten Eritreer alle, durch die Bank, eines, neben ihrer Herkunft und Hautfarbe – das darf man doch sagen? – eines gemeinsam haben, nämlich, nämlich …: Halitosis, also, also ich meine also … Mundgeruch. Richtig schweren Mundgeruch, kein Knoblauch etwa, das auch, aber ich habe nichts gegen Knoblauch, sondern solchen, der es dem Gegenüber schwer macht, unbefangen zu bleiben, Würgereiz erzeugt, der instinktiv dazu zwingt, den Kopf zur Seite zu nehmen, die Hand vor die Nase …

Fragt mich nicht warum. Statistisch sind 90% aller Fälle von Foetor ex ore, wie die Ärzte auch sagen (gegoogelt, gebe ich zu), im Mund- und Rachenraum verursacht und tatsächlich ist der Zahnstand bei einigen schon optisch sehr prekär. Verfärbungen sind weit verbreitet, Zahnarztbesuche häufig, nicht selten mit Extraktionen, auch – Ob das schon eine Form des diffusen Rassismus ist? Oder hat es mit den Krankenkassen zu tun? – Mehrfachextraktionen. Als ich z.B. Früchte behandelte und Proben reichte, wollten zwei nicht kosten und zeigten auf den Mund – vermutlich Säurevermeidung aufgrund sensibler Zahnhälse oder Karies.

Ich mag meine Eritreer – es sind liebe, nette, bescheidene Menschen, aber es ist nun mal, wie es ist. Hätte ich besser schweigen sollen?

Mei Arzgebirg wie bist de schie

Die Ausschreitungen von Clausnitz treffen mich besonders hart. Denn ich kenne diese Leute. Diejenigen, die im Bus sitzen, weinen, vor Wut und Abscheu gegen die Scheibe spucken, sich aneinander klammern und sich nicht aus dem Bus wagen, diejenigen, deren schlimmste Alpträume soeben Realität wurden: Neu ankommen, hoffnungsvoll und ängstlich zugleich, und vehement abgewiesen, ja angefeindet zu werden.

Aber ich kenne auch die anderen, die draußen stehen, in warme farbige Jack-Wolfskin-Jacken gekleidet, Jeans, Handschuhe – sie frieren nicht, ihnen fröstelt nur vom Warten, aber nun sind sie heiß und haben rote Köpfe.

Nicht persönlich kenne ich diese Leute, aber ich erkenne sie an ihrer Sprache. Zu behaupten, es wären hundert gewesen, könnte übertrieben sein. Man hört ein, zwei Dutzend, der Rest dürfte aus Schaulustigen bestanden haben, auch „Widerständlern“, doch nicht bereit, aktiv verbal gewalttätig zu werden. Auch muß man vorsichtig sein – wir haben nur den einen Blick in einem kurzen Zeitfenster und wissen nicht, was die andere Seite – die mit den aufgerissenen Augen – gesehen und getan hat. Gerade weil ich diese Leute kenne, gehen sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie einfach, wie billig ist es doch, zu schreiben: Ich – als Vogtländer, Sachse, Deutscher – schäme mich. Eine einstudierte Demutsübung, Usus mittlerweile in solchen Fällen …

Das Erzgebirge liegt gleich hinter dem Horizont. Aue und Schwarzenberg und Annaberg-Buchholz und Schneeberg … gehören zur näheren Heimat. Die Leute sprechen dort ein Idiom, das dem meinen (ich kann mich davon auch emanzipieren) sehr ähnelt. Würde ich diese Männer persönlich kennen und ginge ich zu ihnen, um zu fragen: „Du, Günther, kannst du mir mal die Dachrinne reparieren“ oder: „Rainer, ich bräuchte am Wochenende mal deine Hilfe. Wir bereiten das Schulfest vor.“ oder dergleichen, dann würden diese Männer mit großer Wahrscheinlichkeit nicken, lächeln und stünden auf die Minute genau an der Türschwelle und legten los … und wären danach entrüstet, wenn man ihnen einen Fuffi in die Hand drücken wollte.

Aber nun standen sie vor einem Hauseingang und schrien verängstigte asylsuchende Menschen an: „Weg!“, „Heem!“, „Naus!“, „Verpisst eich doch“, „Ab nach Hause“, „Raushoaln“ …, nun jubelten sie, als ein junger Kerl von einem Polizisten überwältigt und ins Haus gezerrt wurde, jetzt rufen sie „Wir sind das Volk“ und „Widerstand“.

Damit haben sie allen „Widerstand“ diskreditiert. Und sie beweisen, nichts, aber auch gar nichts verstanden zu haben. Mögen diese Frauen mit Kopftuch fremd und bedrohlich wirken oder diese hageren schwarzhaarigen Männer mit den Adlernasen … sie haben die geringste Verantwortung an der ganzen Misere. Sie sind die Schwächsten und wer wirklich glaubhaften „Widerstand“ leisten will, der sollte zuerst seine Empathiefähigkeit unter Beweis stellen (denn „Widerstand hat mit Entscheidungsfreiheit zu tun) und wer wirklich für das christliche Abendland zu kämpfen meint, der muß auch zeigen, daß er christliche und zivilisatorische Grunderrungenschaften umsetzen kann.

Warum aber mangelt es diesen Männern in solchen Situationen am einfachsten Anstand? Welcher Gesellschaft entstammen sie, die ihnen die primärsten zwischenmenschlichen Regeln aberzogen oder doch zumindest nicht anerzogen hat? Resultat welcher Erziehung und Geschichte sind sie? Jedes Land hat das Volk, das es verdient. Ein starker Grund, sich ein anderes Land zu suchen.

Ecco Eco!

Sobald ein Text für eine bestimmte Kultur „heilig“ wird, wird er Gegenstand des Spiels der argwöhnischen Interpretation und damit zweifellos überinterpretiert. (Umberto Eco)

Auch Unsterbliche müssen sterben. Vielleicht klingt das in deutschen Ohren pathetisch, denn schließlich sei Eco doch nur ein Bestsellerautor gewesen, wie es sie heutzutage zu tausenden gibt. Das wäre grob daneben!

Richtig ist: Eco schrieb Bestseller. Falsch ist: diese in die Phalanx der Schriften von der Stange einzureihen. Ecos Bestseller – genau genommen sind es nur zwei – „Der Name der Rose“ und „Das Foucaultsche Pendel“, sind hochkomplexe Logikexerzitien, randvoll mit philosophischen, semiotischen, literaturtheoretischen und historischen Fragestellungen. Wenn es je autopoetische Texte gegeben hat, dann sind diese beiden Romane der Idealtypus. Und dies alles zudem in eine fesselnde Handlung gepackt zu haben – Sherlock Holmes, den Eco liebte, sei dank –, dürfte nicht das geringste Alleinstellungsmerkmal gewesen sein.

Danach freilich, nach dem großen Erfolg, hatte der Schriftsteller die Leichtigkeit verloren. „Die Insel des vorigen Tages“ stellt den Übergang zu den zu sehr gewollten späten Romanen dar. Ecos Name jedoch machte auch den „Baudolino“, die „Königin Loana“ oder den „Friedhof von Prag“ zu gut verkauften Büchern. Für mich war die „Rose“ ein Schock und eine Offenbarung – um es im Original zu lesen, habe ich Italienisch gelernt.

Zwanzig Jahre vor dem Welterfolg (1962) war Eco den philosophischen Insidern längst ein Begriff. Sein Buch „Das offene Kunstwerk“ hatte wahrlich öffnende Wirkung. Es war die Eintrittskarte in die Welt der neuen avantgardistischen Literatur und Kunst und in die postmoderne Philosophie. „Die Poetik des ‚offenen‘ Kunstwerks strebt … danach, im Interpreten ‚Akte bewußter Freiheit‘ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpfbaren Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerks vorschriebe.“ „Netzwerk“ und „Labyrinth“ waren zwei seiner Schlüsselkategorien.

Im Osten war das noch Anfang der 90er Jahre Sprengstoff. Nun, nachdem man Zugang zu allen Quellen bekam, hat man sich durch die „Semiotik“ durchgearbeitet, und die „Philosophie der Sprache“, das Logikbuch „Der Zirkel oder im Zeichen der Drei“, in dem Eco eine Lanze für die logische Schlußform der Abduktion brach, dann die ästhetischen und literaturtheoretischen Schriften und „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“ und schließlich wollte man auch die zahlreichen Essays, Kritiken und Gespräche nicht verpassen – und immer, immer blieb man belehrt und um vieles reicher zurück.

Für Italien aber war Eco noch mehr! Er war eine Instanz, eine Institution, nach Benedetto Croce wohl der letzte seiner Art – Deutschland hat dergleichen schon lange nicht mehr zu bieten. Eco war das nationale Orakel. Als Historiker und Visionär, als Zeitanalytiker, Kommunikationspionier und als Kompendium war er berechtigt, zu allem eine maßgebliche Meinung zu haben – heute und in Zukunft wird man seinesgleichen nicht wiederfinden. Wo dieser humorvolle Ästhet und Genußmensch Zeit und Kraft hernahm, all das zu bewältigen? Auch das wird nun sein Geheimnis bleiben.

Ecce homo! Ecce Eco!

Empfehlung: Die Theorie der Abduktion bei Charles Sanders Peirce und Umberto Eco

Wenn alle mittäten

„Und wenn alle mittäten, wär‘s viel eher soweit“ – schrieb ein Leser dieses Blogs in den Kommentar und zitierte damit „Floh de Cologne“ aus der Rockoper „Koslowsky“ (1980). Darin wird die Geschichte eines polnischen Einwandererjungen erzählt, der sich umsonst abrackert „im neuen Wirtschaftswunderland“, der immer wieder auf fremdenfeindliche Vorbehalte stößt und die eiskalte Logik des Kapitalismus kennen lernt. So wird er Kommunist. So wird er zum Kommunisten gemacht, vom „Schlackenfahrer Schorsch“, der ihm bei Bier und Schnaps das Gesellschaftsgefüge darlegt und dann vom Kommunismus schwärmt. Dort fallen dann die schicksalsschweren Worte: „Wenn alle mittäten …“

Die Platte wurde bei Amiga verlegt, erlangte eine gewisse Verbreitung in der DDR. Ihre Botschaft entsprach komplett der ostsozialistischen Weltsicht.

Floh de Cologne

An dem Argument ist was dran: Es hätte mit dem Kommunismus vielleicht was werden können, wenn alle an einem Strick gezogen hätten. Aber leider, leider waren die Arbeiter zu faul, und die Genossen zu korrupt, und die Kapitalisten drüben zu gierig …tja, und so wurde es nichts mit dem Kommunismus. Schuld sind immer die anderen – das ist der Vorteil des „wenn“.

Aber die Ideologie, die linke Logik lebt fort. Etwa im „Wir schaffen das“ der Bundeskanzlerin. Wenn wir alle offen sind, wenn wir uns anstrengen, wenn wir keine Angst haben, wenn wir es als Chance begreifen, wenn die Länder Europas mitspielen, wennwenn alle mittäten …, tja.

Hussains Weg

Fast sind wir Freunde – also frage ich Hussain, ob er uns die Geschichte seiner Ausreise mitteilt. Er hat keine Geheimnisse …

Hussain abgemagert und erschöpft © AP Photo/Darko Bandic http://news.yahoo.com/look-migrants-carrying-them-europe-175047662.html

Hussain abgemagert und erschöpft © AP Photo/Darko Bandic

Am 17.8.2015 brechen in der Dunkelheit mehrere hundert Menschen auf. Fast alle stammen aus Idlib, einer Stadt im Norden Syriens. Jeder Flüchtling händigt einem Schmuggler 10 000 syrische Pfund aus, circa 30 Euro. Zu Fuß geht es über die türkische Grenze. Das türkische Militär hat – wie immer an solchen Tagen – gerade andernorts zu tun. Wir wissen ja, wie so etwas funktioniert. Einen Paßport hat Hussain nicht – es sei gefährlich, in Syrien einen Ausweis zu beantragen. Hinter der Grenze müssen sie drei Tage warten, dann fahren Busse vor. 200 türkische Lira (60 Euro) kostet das Ticket nach Izmir, sieben Stunden dauert die Fahrt, ein weiterer Tag wird verwartet. Weiter geht es nach Edrimit an der Küste. Lesbos liegt nun schon in Sichtweite, 20 km Wasser. Mit dem Boot geht es für 1200 Dollar nach Mytilene auf Lesbos, wo man erneut drei Tage zu warten hat. Schließlich Weiterfahrt nach Athen und von dort nach Mazedonien. Von der mazedonischen Polizei werden sie mit Schlagstöcken geschlagen, dürfen schließlich doch den Zug, der das Land durchquert, besteigen. Dort werden einem Polizisten von jedem Passagier 10 Euro in die Hand gedrückt. Die nächsten 100 Euro gehen an einen serbischen Busfahrer, der sie nach Ungarn befördert.

Vier Tage verbringt Hussain im berüchtigten Lager in Röszke, an der serbisch-ungarischen Grenze. In Röszke wird er von einem englischsprachigen Journalisten photographiert und interviewt – der Artikel erscheint in Großbritannien, Kanada, den USA, Brasilien und anderswo. Abgemagert und erschöpft hält er seinen Schulausweis in die Kamera. Die Zustände dort sind katastrophal. Überall Müll, die Toiletten quellen über vor Exkrementen, die Stimmung ist aufgeheizt. Sie wollen nicht, werden aber von der ungarischen Polizei zur Registrierung mit Fingerabdruck gezwungen. Man gibt ihnen das Versprechen, daß Deutschland alle syrischen Flüchtlinge aufnehme, die Erstregistrierung in der EU also bedeutungslos für die Wahl ihres Ziellandes sei. Alle wollen nach Deutschland. Warum? Weil alle anderen auch wollen.

Schließlich landen sie in Budapest am Südbahnhof. Dort gelingt es Hussain einen Fahrschein nach Berlin zu lösen (150 Euro). An der tschechischen Grenze werden sie von der Polizei aus dem Zug geholt. Sie erhalten ein provisorisches Papier, das vorgibt, innerhalb von 15 Tagen die Republik zu verlassen. Weiter nach Prag. Wieder ein Ticket kaufen, diesmal nach Frankfurt/Main, dort hat Hussain einen Cousin. Erneut werden sie von der Polizei aus dem Zug geholt, diesmal der deutschen, diesmal in Dresden. Es ist der 4. September 2015 – dieses Datum steht in seinen provisorischen Papieren. Man bringt sie in die Erstaufnahme in Freiberg, wo sie einen Monat verbringen ohne negative Erfahrungen mit der deutschen Bevölkerung zu machen. Danach geht es Anfang Oktober nach Plauen. Alle Männer der von mir betreuten syrischen Gruppe stammen aus diesem Zug, kannten sich jedoch vorher nicht und kommen auch aus ganz unterschiedlichen Landesteilen. Jetzt wohnen sie in verschiedenen Stadtvierteln, oft mehrere Parteien in einem Haus.

Warum Deutschland, frage ich ihn. Alle wollen nach Deutschland. Dort kann man studieren, die deutsche Regierung unterstützt das. Er selbst hat mehrere Semester Civil Engineering studiert, will hier jedoch gern Mediziner werden, wie schon zwei seiner Brüder und eine Schwester. Ein bis zwei Jahre rechnet er, um die Sprache zu beherrschen. Auch arbeiten will er. Er hat Schulden, 3000 Euro, bei Familienangehörigen, die er schnell begleichen muß – das erwarte man von ihm. Ist seine Familie wohlhabend? Nein, ein Auto konnte man sich nicht leisten, der Vater war Bankangestellter und ernährte eine achtköpfige Familie. Es gibt entfernte Onkel, die hätten Geld und im Übrigen auch mehrere Ehefrauen.

Paradoxa – Muslime in DK

Eine scheinbar unbedeutende Szene im Alltagsleben wird in Dänemark gerade lebhaft diskutiert und stellt, wie ich finde, ein interessantes juristisches Paradox, vielleicht auch einen Blick in die Zukunft, dar.

Laut „Extra Bladet“ vom 22.11., erhielt ein Taxichauffeur eine Wiedergutmachung von 10 000 Kronen (ca. 1350 Euro) zugesprochen, weil er aufgrund seiner Religion ungleich behandelt worden war. Im Januar erschien er – übrigens zu spät, die vereinbarte Zeit nicht einhaltend – zu einem Bewerbungsgespräch bei seinem Kopenhagener Taxiunternehmen. Ausgeschrieben war eine Vertrauensstellung, in welcher „spezielle Kunden am Flughafen begrüßt und zum Taxi geführt werden sollten.“ Die Kundendienstchefin des Unternehmens empfing ihn – wie zuvor die  anderen Bewerber – trotzdem freundlich und reichte ihm die Hand, die er jedoch nicht entgegennahm, ihr stattdessen auf die Schulter klopfte und seine Verweigerung mit seiner Religion, dem Islam, begründete. Es handelte sich dabei um einen Muslim der zweiten Generation, also einen Mann, der in Dänemark geboren, gebildet und geschult wurde. Zwar erklärte er die Handschlagverweigerung unmittelbar mit den religiösen Vorschriften, doch war die Frau offenbar „not amused“ und reagierte abweisend.

Den Job bekam er nicht, er blieb einfacher Taxifahrer des Unternehmens, und da in der Begründung die Weigerung, Frauen die Hand zu geben, eine Rolle spielte – dies sei geschäftsschädigend, da es in besagter gehobener Stellung imperativ sei, alle Kunden und Kundinnen gleich zu behandeln – zog er vor den Kadi. Paradox: Gleichbehandlung versus Gleichbehandlung.

Der Chauffeur reichte Klage beim Gleichbehandlungsausschuß wegen Diskriminierung aufgrund religiöser Überzeugung ein und bekam die genannte Erstattung zugesprochen. In diesem Zusammenhang – um die Ungleichbehandlung nachzuweisen – beklagte er auch, daß die beim Empfang gereichten Lebensmittel Schweinefleisch – seit Generationen ein Hauptnahrungsmittel in DK – enthielten: „Es ist außerordentlich respektlos, daß nur Salami zum Frühstück angeboten wurde, da man doch wußte, daß es drei andere mit Namen wie Ahmet, Muhammed und Mehmet gab. Die essen kein Schwein, das weiß Gott und die ganze Welt.“

Zuvor berief er sich in seiner Begründung auf die Offenheit und Toleranz in der dänischen Gesellschaft: „Auch ich bin in Dänemark geboren worden und gebe mein Bestes für die Gesellschaft und das Dänemark, das ich kenne, steht für Verständnis, Offenheit, Vielfalt und Respekt. Man zwingt niemanden, etwas gegen seinen Willen zu tun und man nimmt Rücksicht auf des anderen Bedürfnisse.“ Es werden also jene Rechte eingeklagt, die man selbst – aus Sicht der anderen Partei – verletzt.

„In meiner Welt“, begründete er schließlich, „sollte jemand, der in einer Firma mit so vielen aus anderen Kulturen und Religionen sitzt, wissen, daß wir eine ganze Reihe Muslime sind, die Frauen die Hand eben nicht geben.“

Da das Unternehmen die Zahlung verweigert, bat der Kläger nun, die Angelegenheit dem Staatsanwalt vorzulegen. Es bleibt spannend zu sehen, wie das Gericht entscheiden wird, „ob ein Muslim das Recht haben soll, einer Frau – ohne Konsequenzen – auf Arbeit die Hand zu verweigern.“

In zahlreichen derartigen Fällen entschied sich die hypertolerante dänische Gesellschaft, auch die dänische Judikative, bisher für die Welt der anderen.

Wohl dem …

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein. –
Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist Du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein. –
Weh dem, der keine Heimat hat!

Nietzsche

Blick in die Zukunft II

Muhannad ist weg. Es hatte sich schon lange angekündigt, aber den Entschluß faßte er von einem auf den anderen Tag. Nun ist er in Hagen und wird wohl dort bleiben. Was sollte ihn in Sachsen auch halten? Von Anfang an fiel es ihm schwer, die Familie nicht bei sich zu haben.

In Hagen hat er syrische Freunde und irgendwo in Holland lebt eine Schwägerin. Nicht viel, aber eben doch ein wenig Familie in der Nähe – 200 km entfernt.
Wir telefonieren noch einmal. Er bedankt sich überschwänglich, sagt, ich sei wie ein großer Bruder für ihn. Auch mir tut es leid, er war mir einer der liebsten.

Wie wird seine Zukunft aussehen?

Er wird noch eine Weile kämpfen und vielleicht wird es ihm bei Freunden etwas besser gehen. Am Sinn, die deutsche Sprache zu lernen, hatte er zuletzt ein paar Mal gezweifelt. Dabei war er schon ganz gut und für seine 35 Jahre fast ein Vorbild an Fleiß. Er sprach von England, der Sprache wegen. Warum sich mit Deutsch abquälen?

Der eigentliche Grund dürfte ein anderer sein – womöglich gesteht er es sich selbst noch nicht ein: Er weiß, daß der Wind sich in Deutschland dreht und auch, daß es keine Garantie für den Familiennachzug gibt. Merkels jüngste Äußerungen waren ein Schock – nun ist auch dieser Halt weg. Und ohnehin wird es für seine Frau und die vier Kinder schwer, Syrien zu verlassen. Sie haben noch nicht mal Papiere, müssen diese erst im Libanon beantragen und selbst wenn sie diese bekämen, den Weg über die Schlauchboote wird er, der vier Stunden im Meer ums nackte Überleben kämpfte, nicht akzeptieren … wie hohe Berge türmen sich die Probleme vor ihm auf. Er wird sie wohl nicht überwinden, er wird sie vermutlich umgehen.

Er wird zurück nach Syrien gehen, sein Leben riskieren. Er war es, der einen gemeinsamen Tod dem Getrenntsein vorzog. Vielleicht tut sich irgendwo im Nahen Osten noch etwas auf. Vielleicht hat er auch Glück und findet bald eine Arbeit oder vielleicht wird er nach Holland gehen …

Am wahrscheinlichsten ist der Weg zurück. Und dort wird er sich für uns verlieren.

Ein neuer Kanzler

Lesen Sie hier einen Artikel aus der dänischen Netzzeitschrift „Den korte avis“.
Zum Kontext der Zeitschrift: Auch die dänische Presselandschaft ist in linker Hand. „Politiken“, „Jyllands-Posten“, „Information“ sind Pendants zu unseren Hauptmedien, die „Berlingske Tidende“ entspricht in ihrem geringfügig konservativem Anspruch vielleicht der „Welt“. „Den korte avis“ füllt damit allein – sieht man vom stark religiös orientierten „Kristelig Dagblad“ ab – einen weiten Raum „rechts“ des politisch korrekten Spektrums. Geleitet wird sie von Ralf Pittelkow – einem führenden Intellektuellen des Landes – und Karen Jespersen, der ehemaligen Innen- und Gleichstellungsministerin. Beide sind ein Paar. Pittelkow ist marxistisch geschult, mir kam er zum ersten Mal als luzider Literaturkritiker Hans Kirks über den Weg. Für beide stellte die Mohammedkrise 2005 eine Zäsur und politische Kehrtwende dar. Ein Jahr später erschien eine viel diskutierte „Anklageschrift“ mit dem unzweideutigen Titel „Islamister og naivister“. Seither treten sie als leidenschaftliche und streitbare Debateure auf.

Angela Merkel führt Europa nicht mehr – sie flattert umher und baut Luftschlösser während andere handeln.

Deutschlands Bundeskanzlerin besuchte am Montag die Türkei. Hier versuchte sie die Vereinbarung über die Asylsuchenden umzusetzen, die die EU mit der Türkei ausgehandelt hatte. Bisher hat die Vereinbarung vom November überhaupt nicht funktioniert. Und man darf äußerst skeptisch bleiben, was daraus werden soll. Aber Merkel hat alles auf diese Vereinbarung gesetzt. In ihrem Universum ist es vor allem die Türkei, die die EU vor dem Asyldruck retten soll.

Andere Länder umgehen Merkel

Während Merkel redet und von der Türkei als EU-Retter träumt, haben eine ganze Reihe an Ländern nun die Sache in die eigenen Hände genommen, ohne die deutsche Kanzlerin. Sie haben damit begonnen, Mazedonien und Bulgarien dabei zu helfen, ihre Grenzen zu Griechenland zu schließen. Die Griechen haben in Bezug auf den Asylstrom nämlich überhaupt nichts im Griff. Die Asylsuchenden bewegen sich vollkommen ungehindert durch das Land und in Richtung Europa. Dem wollen nun eine Reihe an Staaten ein Ende bereiten. Sie wollen besonders Mazedonien helfen, den Asylstrom zu stoppen. Mazedonien wird mit anderen Worten die äußerste Grenzverteidigung der EU, selbst wenn das Land gar kein EU-Mitglied ist. An der Spitze dieser Aktion steht Ungarn. Es ist jenes EU-Land, das die größte Entschlusskraft bewiesen hat. Angela Merkel führt Europa längst nicht mehr – sie flattert umher und baut Luftschlößer, während andere handeln.

Das türkische Fiasko

Das Abkommen der EU mit der Türkei geht davon aus, daß die Türken den enormen Asylstrom von der Türkei nach Griechenland abbremsen sollen. Besonders die Asylsuchenden aus Syrien sollen in der Türkei bleiben. Im Gegenzug soll die Türkei 22 – 23 Milliarden Kronen von der EU erhalten. Darüber hinaus soll es die Türkei einer EU-Mitgliedschaft näher bringen, und es soll die Visumsfreiheit für türkische Bürger in die EU eingeführt werden. Bislang war dieser Plan ein Fiasko. Trotz des Winterwetters sind allein seit Neujahr 68 000 Asylsuchende von der Türkei auf den griechischen Inseln angekommen (laut Jyllands-Posten). Vielleicht erweist sich die Türkei als zaghaft, denn bisher hat sie noch kein Geld von der EU erhalten. Aber es herrscht prinzipiell eine große Unsicherheit, was die Türkei letztendlich wirklich leisten will. Das Risiko ist ganz klar, daß die EU der Türkei handfeste und problematische Zugeständnisse macht, während die Türken sich damit zufrieden geben, ein paar taktische Gegenleistungen und schwammige Versprechungen zu machen.

Noch ein Schreibtischplan

Merkel jedoch hat ihr gesamtes Prestige und alle Hoffnungen auf diese Vereinbarung mit der Türkei gesetzt. Sie besteht darauf, daß das die Lösung sei, selbst wenn sie in der Realität kaum eine Begründung dafür vorbringen kann. Nun hat sie zusammen mit der holländischen Regierung einen neuen Plan entworfen. Man will der Türkei vorschlagen, daß sie die Bootsflüchtlinge aus Griechenland zurücknehmen soll. Als Gegenmaßnahme sollen sich die EU-Länder dazu verpflichten, 300 000 Asylsuchende von der Türkei zu übernehmen. Diese 300 000 sollen nach einem gemeinsamen Schlüssel auf die EU-Länder verteilt werden. Die gemeinschaftliche Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der EU, ist einer von Merkels Königsgedanken, der von einer ganzen Reihe von EU-Ländern voll und ganz abgelehnt wird. Eine vergleichbare Schreibtischkonstruktion kann man lange suchen. Sie wurde lanciert, ohne die EU-Staaten einzubeziehen.

Eine Grenze für die EU

Während Merkel weiter Luftschlösser baut, mit der Türkei in der Hauptrolle, haben andere EU-Länder eine weit realistischere Sicht auf die Dinge. Sie stellen fest, daß die europäischen Außengrenzen löchrig wie ein Sieb sind. Deshalb konzentriert sich ihr Einsatz darauf, eine neue Grenze für die EU zu bauen, und zwar eine, die auch hält. Sie soll in Mazedonien und Bulgarien stehen. Deutschlands nächster Nachbar Österreich unterstützt diesen Plan, dessen Triebkraft Ungarn ist. Ausgerechnet Ungarn, das man verunglimpft hatte, als es als erstes Land seine Grenzen schützte. Deutschland scheint diesen Plan nun anzuerkennen, setzt aber trotzdem alles auf die Allianz mit der Türkei.

Ein neuer Kanzler muß her

Die dänische Regierung sollte diesen einzigen seriösen Versuch, eine Außengrenze zu schaffen, der einen weitere massiven Flüchtlingsstrom durch den Balkan verhindern kann, voll und ganz unterstützen. Es kann auch notwendig werden, ähnliche Barrieren an anderen Orten zu errichten. Im Moment jedoch hält sich die dänische Regierung bedeckt. Vermutlich zögert man, Merkels Deutschland zu kränken. Die Frage ist also, wie lange Merkel und ihre Luftschlösser Deutschland kennzeichnen werden.

Sowohl Deutschland als auch die EU brauchen einen neuen Kanzler.

Quelle: © Den korte avis: Angela Merkel er ikke længere Europas leder (9.2.2016)

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Selbstreferenz

Die letzten Tage waren für diesen noch jungen Blog ein Rollercoaster. Plötzlich schossen die Leserzahlen astronomisch und exponentiell in die Höhe, aus aller Herren Länder wurde zugegriffen. Schuld daran war der Beitrag s k AfD a l ö s, der am 6. Februar gleich von interessierter Seite mehrfach auf großen Portalen verlinkt wurde, und gerade als sich die Wogen wieder zu glätten begannen, veröffentlichte die hier kritisierte Katharina Nocun (die ich natürlich – wie sich das gehört, wenn man über jemanden spricht – auf meinen Text aufmerksam machte) am 10. Februar einen weiteren sinngleichen Artikel in der FAZ, in dessen Kommentarteil zwei Leser wiederum meinen Beitrag verlinkten … was zu einer neuen Zugriffswelle führte. Die unberechenbare Dynamik des Netzes.

Zugriffswelle nach "s k AfD al ö s"

Zugriffswelle nach „s k AfD al ö s“

Nocuns neuerlicher Artikel ist nicht uninteressant. Einerseits spürt man, daß die hier geäußerte Kritik nicht spurlos an ihr vorbeigegangen ist – einige Punkte werden nun relativiert –, andererseits wagt sie es noch immer, mit platten Fehlinformationen, wenn auch argumentativ etwas besser abgefedert, zu arbeiten, ja, sie scheut nicht einmal davor zurück, meine Evidenzen als durch einen Kommentator für „widerlegt“ zu erklären:

FAZ: AfD keine konservative Partei

Aus der Zugriffsstatistik jedenfalls lassen sich interessante Schlußfolgerungen ziehen. Unterstellen wir den Lesern ein besonderes Interesse an der AfD und beachten wir die Herkunft der Leser, dann zeigen sich weltweit AfD-affine und AfD-averse Weltgegenden – was zuvörderst ein Interesse und kein Bekenntnis signalisiert.

Immer wieder hört man, daß Menschen das Land Deutschland verlassen wollen, wenn die AfD gewinnt oder nicht gewinnt. Die einen haben Angst vor „den Rechten“, die anderen vor dem status quo. Aber wohin? Schauen wir uns die vielsagende Karte an.

AfD Weltkarte

AfD Weltkarte nach Zugriffszahlen auf „seidwalk“

Grönland scheint demnach das Land der Wahl für all diejenigen zu sein, die für Deutschland alternativlos saubere Luft atmen wollen. Auffällig auch der weiße Streifen, der sich über die baltischen Republiken, Weißrußland, Ukraine bis hin zu Rumänien, Bulgarien und Griechenland zieht und – nebenbei gesagt – ziemlich genau jener „Bruchlinie“ folgt, die Huntington in seinem „Clash of Civilizations“ zeichnete (S. 253). Auch Südamerika, inklusive Chile und Paraguay – ein Schelm, wer dabei an Beatrix von Storch und die Kanzlerin denkt – sind noch frei von AfD-Sensiblen. Für Weltkulturfreunde bietet sich hingegen der gesamte asiatische Gürtel, von China sowie den mongolischen und turkischen Völkern über Indien bis ins arabische Kerngebiet, oder aber ganz Schwarzafrika an. Mit anderen Worten und grober Vereinfachung: die Länder des Islam.

PS: Auch im Spiegel hat man nun die Wahlprogramme entdeckt: traditionelle Werte wie Geradlinigkeit, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Disziplin, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Fleiß, Pflichtbewusstsein (und Heimatliebe sowieso) scheinen nach gewohnt selektiver Lese demnach schon suspekt.

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Finis Eritreae

Mit einem Mal: keiner da. Wir schauen uns fragend an, ergehen uns in Sarkasmus: „Erwarte nur das Unerwartete“ oder „Es kommt immer anders als man denkt“ – das haben längst alle verinnerlicht, die in der Flüchtlingshilfe zu tun haben. Also dann bis nächste Woche.

Die Woche darauf die gleiche Leere. Kein Mensch nirgends. Der Pfarrer weiß von nichts, die Kollegin weiß von nichts, ich weiß von nichts, das syrische Ehepaar, die zum ersten Mal hier sind, weil sie gehört haben etc., weiß auch von nichts. Adlan, Abraham, Awet, Fiori, Senaid, die eritreischen Freunde sind plötzlich verschwunden, die ganze 25-köpfige eritreische Gruppe abwesend. Dabei hatten wir gerade erst Bücher gekauft, dabei wollte Hailat seine Ausweisungsgeschichte – weswegen ich einen halben Tag mit Anwalt und Ausländerbehörde telefoniert hatte – besprechen (er wird wohl nach Italien ausgewiesen werden), dabei wollte Fiori die Sache mit der Arbeitsstelle klären, die wir organisiert hatten … Alles Makulatur.

Der Pfarrer ermannt sich und ruft Abraham an. Der tummelt sich zufällig im nahegelegenen Einkaufszentrum herum und verspricht, zu kommen. Etwas verlegen erklärt er uns: Sie alle haben einen Brief bekommen mit der Aufforderung, an einem Sprachkurs teilzunehmen. Fünf Mal die Woche, die meisten am Vormittag. Unser Kurs beginnt 18 Uhr. Aber sie haben keine Lust mehr, oder keine Zeit. Auch nicht auf unser privates Treffen Montagabend. „Du hast doch gesagt, wir sollten jede Gelegenheit nutzen.“ Dabei lächelt er betreten.

Das hat mich getroffen, ich muß es gestehen. Ich glaubte, eine persönliche Beziehung aufgebaut zu haben und nun das. Erfreulich, sie endlich in organisierten Strukturen aufgefangen zu sehen, aber warum ruft kein einziger an? Alle haben meine Nummer. Warum gibt es kein Bedauern, keine Reaktion? Darf man Dank erwarten? Nein! Endlich ergreift der Stoiker in mir, der kurzeitig erschüttert war, wieder die Oberhand. „Also dann, viel Glück“ – und weiter geht’s.

Appendix: Wenige Tage später ein Anruf. Eine Frau klagt ihr Leid. Sie betreue Afghanen, schaffe das aber nicht, sei ja nicht ausgebildet … und sie habe gehört, bei mir sei ein Kurs ausgefallen … ob ich nicht … Afghanen, keinerlei Vorkenntnisse, kein Englisch, Kommunikation mit Hand und Fuß, Ziel: Alphabet lernen. Ich mache aus meiner Unlust keinen Hehl. Wenn schon, dann will ich mit den Leuten reden, will selber lernen, will Erfolge sehen. Letztlich lasse ich mich breitschlagen – okay ich mach’s. Bald darauf ruft sie erneut an. Aus den Afghanen wird nichts. Die wollen nicht mehr. Einer von ihnen wurde mitten in der Nacht von der Polizei, mit Blaulicht und Hunden, aus dem Haus getrommelt und abgeschoben. Nun wissen sie, was ihnen bevorsteht. Sie sind ganz niedergedrückt. Sehen keinen Sinn mehr …

Also schlage ich Hussain, dem jüngsten meiner Syrer, eine zusätzliche individuelle Doppelstunde vor: Diskussion, deutsche Geschichte und Kultur einerseits, Arabisch und Koran andererseits.

Lesen Sie auch die grundlegende Auseinandersetzung mit Eritrea als Fluchtland: Eritrea unplugged

Notfall

Mohammed jammert wie ein Kind. Unruhig liegt er auf dem Bett – ein Mann wie ein Strich, 40 Jahre alt – und winkt mir verzweifelt zu, als ich eintrete. Sein Bruder Salim sitzt seelenruhig am Tisch und schaut auf sein Handy, sieht mich, steht auf, kommt zur Begrüßung. „Is he ill?“ frage ich, aber Salim versteht mich nicht. Stattdessen nickt Hussain: „very ill“.

Mohammed hört, daß wir über ihn sprechen, also steht auch er auf und kommt an die Tür. Aber nicht zur Begrüßung, sondern aus Verzweiflung. Er hängt sich an meinen Arm und redet auf mich ein. Verstört schaue ich Hussain an, der mir erklärt. Der Tinnitus ist es, der seit Tagen in seinem Kopf summt. Seit Nächten hat er nicht mehr geschlafen, tigert in der Wohnung hin und her und läßt auch die anderen nicht zur Ruhe kommen. Wie ein kleines Kind schaut er mich hilfesuchend an. Auch mit der Familie gibt es Ärger – seine Frau ist in der Türkei und will nicht kommen. Daß es in der Ehe Probleme gibt, weiß ich seit Wochen. Nun will er weg von hier, zu seiner Familie. Seit Wochen starrt er nur an die Wand, weiß nichts mit sich anzufangen, hat nichts zu tun, außer auf die Anrufe seiner Frau zu warten, die wiederum nur Ärger bescheren. Nun geht es weder vorwärts noch zurück: vorne keine Aussicht, hinten kein Halt.

Inzwischen liegt Mohammed wieder auf dem Bett und jammert. Ich setze mich zu ihm, er macht Platz und zieht mich zu sich hinunter. Er umarmt mich, klammert, zwingt mich, mein Gesicht an seine Schulter zu schmiegen. Ich rede beruhigend auf ihn ein, streichle ihn. Er nimmt meine Hand und küßt sie. Dann mimt er wieder das Summgeräusch, das seinen Schädel spaltet, und haut sich auf den Kopf.

„Wenn es Tinnitus ist“, lasse ich über Hussain übersetzen, „dann wird es lange dauern, dann muß er es akzeptieren, aber es wird vorübergehen. Je intensiver er daran denkt, umso schlimmer wird es …“ Aber das weiß er alles. Auch die Tabletten helfen nicht. Allmählich bekomme ich den Eindruck, der Mann dreht durch. Sein nächster Arzttermin ist in drei Wochen. Niemand weiß, was ein Mensch in Verzweiflung anstellen kann. …

Ich rufe den Rettungsdienst. Dort ist man nicht begeistert. „Wie alt ist denn der Mohammed?“, fragt man am anderen Ende. Offenbar gibt es auch juristische Schwierigkeiten. Schließlich kann ich ihn überzeugen, einen Wagen zu schicken. Mohammed küßt und herzt mich, als er es hört. Seine Not scheint groß.

Auch den beiden jungen Helfern ist das Unbehagen anzumerken. Der junge kräftige Sanitäter liest sich die ärztliche Diagnose durch. Darauf steht, daß Mohammed vor drei Wochen eine psychiatrische Behandlung abgelehnt hatte. Er empfand es als große Schande – ein Mann geht nicht in die Anstalt. Nun trichtere ich ihm ein, daß er diesmal unbedingt zusagen muß, sonst senden ihn die Ärzte einfach zurück. Da stutzt er einen Moment, scheint mit sich zu kämpfen, nickt dann aber. Inzwischen ruft der Helfer in der Klinik an, ob ein Arzt mit Arabischkenntnissen im Dienst sei. Es gebe schon arabischsprechende Doktoren sagt er mir, während ein kurzes Lächeln über sein Gesicht huscht. Heute leider nicht. Also muß Hussain als Übersetzer mit. Er hatte sich auf unser Gespräch über Koran und Evolution gefreut – aber nun ist es, wie es ist.

Muslime sind – so steht es allerorten – besonders schicksalsergeben. So lehrt es Mohammed.

Echte Bereicherung

Die Erfolgsmeldungen glückender Integration und arkadischer Multikultiseligkeit reißen nicht ab und erobern nun auch das intimste Örtchen: den Abort.

Schon vor Jahren machte mich ein Bauleiter auf das Problem aufmerksam. Auf seiner Baustelle in Düsseldorf arbeiteten eine ganze Reihe an „Arabern“ und tatsächlich am Stammtisch fiel der für mich rätselhafte Satz: „Die können nicht mal richtig scheißen“. Als neugieriger Mensch fragt man nach, was zu einer wenig appetitlichen Tatortbeschreibung führte. Demnach wären die Toiletten über und über mit Fäkalien beschmutzt gewesen, die Klobrillen permanent hochgeklappt und Sohlenabdrücke auf den Keramikschüsseln deuteten auf schwierige Balanceakte hin. Ich konnte mir kein rechtes Bild der Szenerie machen.

Jahre später fiel der Groschen. Die Männer nutzten die Hockstellung. Über ganz andere Wege begann ich selbst an unseren Toiletten zu zweifeln. Tatsächlich stellte sich heraus, daß die Hockstellung, die Menschen seit Anbeginn der Zeiten und ganz instinktiv nutzten, wesentlich gesünder ist. Von Darmkrebs über Hämorrhoiden und Beckenbodenschwäche bis zur einfachen Verstopfung – alles kann mit der natürlichen Toiletten-Haltung behandelt, verhindert, geheilt werden. Ein einfacher Selbstversuch bestätigte die Theorie. Durch die Hockhaltung wird ein Einknicken des Dickdarmes verhindert, der automatisch beim Sitzen entsteht, es kommt zu einer schnelleren, einfacheren und vollkommeneren Entleerung.

Unsere Altvorderen wußten das noch, selbst die berühmten römischen Kloaken waren entsprechend konstruiert und nun erinnern uns viele Migranten – wenn auch mitunter auf unangenehme Art – an das alte Wissen.

FAZ, Focus und andere nutzen freilich auch diesen Vorgang, um gleich ein bißchen Ideologie einzuhämmern. Da hat ein Hamburger Professor also die „Multikulti-Toilette“ ausgetüftelt. Nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit wurde jetzt der Fußabtritt erfunden!

(Bild: TUHH / Triften Design / Sabine Schober)

(Bild: TUHH / Triften Design / Sabine Schober)

Dieses Patent muß ich nun anfechten, denn das ingenieurtechnische Genie meiner Ehefrau hatte diese Lösung schon vor Jahren realisiert. Hier das Beweisphoto:

P1020763

Einfach ein paar Styropor- und Holzplatten übereinanderlegen und miteinander verbinden (hier mit Klebeband), etwas niedriger als die Schüssel und fertig ist die Multikulti-Toilette.

Wir jedenfalls sind gewappnet für den ersten Besuch.

 

 

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Carneval

Karneval hat mit Fleisch zu tun. Und mit dem Fleisch haben meine syrischen Alumni ein Problem. Nicht nur Schweine-, sondern auch Beinefleisch. Aber eins nach dem andern.

„Il carne“ ist im Italienischen das Fleisch und „levare“ heißt „heben, aufheben“ auch im Sinne von „beenden“. Der Karneval oder il carnevale leitet also die vorösterliche Fastenzeit ein, jene symbolische Erinnerung an das 40-tägige Fasten Jesu, bevor er sich zum öffentlichen Auftreten entschied. Die „Fastnacht“ gibt das wörtlich ganz gut wieder. Eigentlich gibt es eine ganze Reihe an Parallelen zum Islam: Auch Mohammed fastete, meditierte und zog sich zurück, um seine Anzweiflungen zu überwinden und auch der Ramadan – der muslimische Fastenmonat – wird zumindest an seinem Ende ausgiebig gefeiert.

Nur einen gravierenden Unterschied gibt es: das Fleisch. Und zwar das sichtbare. Auch im Februar gehen junge Frauen kurz berockt durch die Straßen und schmeißen die Beine in die Luft und bieten gewisse Anblicke.

In Sachsen hat der Fasching, wie es hier heißt, keine allzutiefen Wurzeln und ich selbst bin auch kein großer Freund organisierter Fröhlichkeit. Aber für meine Syrer wäre ich gegangen – schließlich sollen sie deutsche „Kultur“ kennenlernen. Um ihnen eine Vorstellung zu geben, erkläre ich das Konzept und zeige ein paar Bilder. Und da wird es plötzlich schwierig. Einmal mal mehr fliegt das Wort „harām“ hin und her. Sich so zu kleiden, sei nicht harām. Die Mädels machen an sich nichts falsch – wenn es keine Männer gäbe. Aber Hingucken schon! Und wie soll man als junger Mann da nicht hingucken? Das Verführungsdilemma …

Also die Frage: wollen wir gehen? Khaled wäre dabei, Hussain druckst herum. Better not!

Zumindest was den Faschingsmuffel betrifft, ist er schon ein guter Vogtländer.

Haus und Auto

Syrische Flüchtlinge verkaufen Haus und Auto, um nach Deutschland zu kommen. Viele Leute fragten sich, wie das möglich sei in einem weitestgehend zerstörten Land. Wer sollte dort Häuser kaufen? Diese und andere „Widersprüche“ diskutierte ich mit meinen Syrern.

Was kostet der gesamte Trip. In diesen drei Fällen zwischen 2100 und 3000 Euro pro Person, alles einberechnet, von Syrien bis nach Deutschland: Schlepper, Busse, Züge, Sicherheitswesten, Nahrung …

Warum überquert man das Mittelmeer, wenn man in Istanbul über den Bosporus gehen kann? Das sei eine politische Entscheidung der Türkei, die den Zugang zum Übergang versperrt habe – ob das stimmt, weiß ich nicht.

Muhannad hatte den Horror selbst erlebt. Sein Boot war mit zu vielen Menschen belegt und kenterte mitten in der Nacht. Sie riefen die griechische und türkische Seewache an, es gab jedoch keine Reaktion. Also schwammen sie – sich ans Boot klammernd – circa vier Stunden bis ans Ufer.
Hussain mußte sich seinerseits in Deutschland einer Fußoperation unterziehen, da seine Füße durch lange Wanderungen entzündet waren.

Wer also kauft die Häuser in Syrien, einem zerstörten Land? Welchen Sinn soll es haben, Eigentum zu erwerben?

Geschäftsleute, Spekulanten und meist aus dem Iran! Demnach würden im Moment viele Iraner in Syrien Immobilien und Bauland erwerben und zwar als Geldanlage. Jetzt seien die Preise extrem niedrig, aber wenn der Krieg vorbei sei, dann würden diese Häuser – selbst die zerstörten – wieder an Wert steigen.

Aber warum überhaupt verkaufen? Die Situation sei diese: Immer wieder werden junge Männer – mittlerweile auch bis ins mittlere Alter – dazu gezwungen, in Assads Armee zu kämpfen. Sobald sich dieses ankündigt, hat man zwei Möglichkeiten. Entweder kämpfen, dabei aber gutes Geld zu verdienen, wiederum sein Leben riskieren für eine Sache, mit der man sich nicht identifiziert, oder aber zu fliehen. Und bevor man flieht, verkauft man eben, was man hat, und da die Spekulanten das wissen, diktieren sie die Preise. Muhannad hatte seinen KIA verkauft, sein Haus will er behalten, selbst wenn es zerstört werden sollte. Im Moment ist es wohl unbewohnt, die Familie lebt bei den Großeltern im Zentrum von Damaskus.