Sloterdijk: Zeilen und Tage

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III. Notizen 2013-2016, Berlin: Suhrkamp, 2023. 598 S. 34 €

Man sollte jeder Rezension eines solchen Buches mißtrauen, die sich weniger als zwei Monate Lesezeit genommen hat. Denn diese fast 600 Seiten Notizen sind eine schwindelerregende Achterbahn, mit Höhen und Tiefen und vor allem mit permanenten Wendungen, sie verlangen das aufmerksame und langsame Lesen. Auf anderthalb Seiten etwa wird man durchgeschüttelt durch Gedanken zum Burkaverbot, über Schimmelpilze in Dudelsäcken, zur Entmaoisierung in China, Überlegungen zur Etymologie des Wortes „cimetiére“ bis hin zu einer Komödie von Racine … und so geht es ununterbrochen weiter. Weiterlesen

Einladung Lesekreis Fontane/Sloterdijk

Es gibt da einen kleinen Lesekreis im Netz, auf einer Plattform, die sich Discord nennt. Dort versammeln sich einige, meist wohl junge, aber tendenziell eher konservativ oder rechts Orientierte und lesen gemeinsam Bücher, die dann zur Diskussion gestellt werden. Weiterlesen

Die toten Ritter der Kokosnuß

Eva Rex erinnert in ihrem kleinen, aber feinen Buch über die Ideologie des Transhumanismus[1] daran, daß Timothy Leary, der LSD-Prophet und eine der Ikonen der New-Age-Bewegung, seine sterblichen Überreste, also seine Asche, ins Weltall hat schießen lassen. Das sei ein ganz konsequenter Schritt im radikalen Entgrenzungsprozeß gewesen, auf dem Weg zur „ozeanischen Selbstentgrenzung“ oder besser doch zur: universellen Selbstentgrenzung. Rex hält die New-Ager trotz deren antimaterialistischer Grundeinstellung für Verwandte und Vorreiter der Transhumanisten, Singularitäts-Propheten und KI-Propagandisten. Daß das Silicon Valley ihre Heimstätte im Hippie-Staat Kalifornien fand, hält sie für keinen Zufall, sieht darin eher eine Kontinuität: die höchste Hochtechnologie ist Folge der Ablehnung und Auflösung aller Ordnungen. Weiterlesen

Sisyphos der Deutsche

Daß wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorzustellen haben, wie Albert Camus seinen Traktat beendet, ist ein schwer zu akzeptierender Gedanke. Vor allem, wenn man seine wohl irrige Prämisse mitbedenkt: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen“.

Es ist der heroische Blick, der uns stutzig machen sollte. Er scheint für unsere heutige Zeit kaum noch haltbar. Die letzte verbliebene Sisyphos-Aufgabe – so will es scheinen, wenn man sich seine Zeitgenossen betrachtet – hat davon wenig behalten. Die Rede ist vom Staubwischen, Aufräumen und Rasenmähen. Weiterlesen

Klopp – You’ll Never Walk Away

Entsetzen in der Fußball-Welt: Jürgen Klopp hört zum Saisonende als Trainer bei Liverpool auf, erfüllt seinen Vertrag bis 2026 nicht. Er zählt schon jetzt zu den ewigen Ikonen dieses besonderen Klubs.

So außergewöhnlich seine Leistung als Trainer ist, so gewöhnlich ist – bzw. wird sein – seine Entscheidung. Man kann das alles perfekt verstehen. Ein solcher Job zehrt unfaßbar an den Kräften: Jahr aus Jahr ein, Tag für Tag, Stunde für Stunde „hundertzehn Prozent“ – wahlweise auch zweihundert oder hunderttausend – zu geben, bringt den Menschen an seine Grenzen – besonders den modernen Menschen. Und da wird es für uns interessant.

Das Handtuch zu werfen, bevor Ruf, Aufgabe oder Vertrag erfüllt worden sind, liegt im Trend und wird in Zukunft wohl weiter um sich greifen. Hätte ein erfolgreicher Trainer im besten Alter, von den Fans geliebt und verehrt, so etwas vor 50 oder 20 Jahren auch tun können? Vermutlich nicht. Das süße Gift der work-life-balance-Ideologie steckt nun in unser aller Adern, etwas bis zum Ende durchzustehen, auszuhalten, ist kein positiver Wert mehr. Weiterlesen

Bauen Wohnen Denken II

Fortsetzung von: Bauen Wohnen Denken I

Die Doppelbedeutung des Wortes Raum als room und space könnte dazu verführen, das Wohnen vornehmlich als räumliches Phänomen zu begreifen. Rosenstock-Huessy betonte hingegen den Zeit-Aspekt, nannte die Architektur eine „Kalenderkunst“ und betonte, daß „jeder Raum einem anderen Zeitkreis angehört“, einen „besonderen Zeitsinn bildet“ und „verschiedene Zeiterfüllungen verlangt“, daß es eine „Wohnstubenzeit“ oder eine „Küchenzeit“ gebe, daß etwa die „Zeitluft, die das Wohnzimmer ausatmet, kürzer und beschwingter“ sei. Jedes Zimmer einer Wohnung habe eine eigene Botschaft: „So sagt also die Küche: Ich bin aktiv. Die Wohnzimmer sagen: Wir leben gesellig … Das Elternschlafzimmer hütet das Geheimnis: Wir werden geliebt …“ und aus alldem ergibt sich die „Vollgestalt“, dort, wo Menschen wahrlich wohnen – „die moderne Bauweise hat die Räume aus der Zeit herausgerissen – leben wir „in der Spannung der Vollzahl der Zeiten“[1]. Weiterlesen

85 Jahre Helmut Lethen

Von Lethen lernen

„Es ist ja auffällig, wie in Augenblicken der Depression die Linke zu den Konservativen schielt.“ Helmut Lethen

Müßte ich unter Helmut Lethens Büchern eines wählen, dann wäre das nicht sein Hauptwerk „Verhaltenslehren der Kälte“, worin er die Topoi der Gefühllosigkeit und Frostigkeit in den „Lebensversuchen nach dem Krieg“ systemisch nachzeichnet, es wäre auch nicht sein lehrreiches Buch über Gottfried Benn, das bewußt keine Biographie sein will, sondern ein szenischer Einfühlversuch in einen hermetisch sich absondernden Paradigmenmenschen und es wäre schließlich auch nicht sein neuestes Werk „Die Staatsräte“, selbst wenn man es als lobenswertes Gesprächsangebot an den politischen Gegner mißverstehen kann, nein, meine Wahl fiele ohne zu zögern auf das schmale autobiographische Bändchen „Suche nach dem Handorakel“ und ich möchte sogleich hinzufügen, daß man es exakt als solches lesen müsse, nämlich als ein eigenes Handorakel! Vor allem die Rechte täte gut daran, dieses erzlinke Brevier genauestens unter die Lupe zu nehmen.

„Verhaltenslehren der Kälte“

Mit diesem Buch, das eine Ausweitung der in der Dissertation von 1970 gezogenen Kampfzone darstellt, hatte der Literaturwissenschaftler Lethen (* 14. Januar 1939) eine Art heimlichen Klassiker der 90er Jahre geschrieben – das Buch zirkulierte in den universitären Kreisen und wurde z.T. wie eine codierte Schrift unter Eingeweihten herumgereicht. Lethen reagierte damit auf ein seltsam steigendes und klandestines Interesse am konservativen Denken, das man bis dato als erledigt betrachtet hatte.

Heute liest man dieses Buch im schizophrenen Gestus: einerseits fragt man sich, was die damalige Welt derart in Aufregung versetzte, andererseits sagt ein Werk, das sich so eng an politische Zeiterscheinungen knüpft, heute etwas anderes als damals. Es steht unverwechselbar in einer bestimmten Tradition, deren offizieller Leuchtturm Klaus Theweleits voluminöse „Männerphantasien“ war. Theweleit übersetzte damit den Auftrag der 68er – die Nazi-Jagd – ins Akademische: plötzlich waren alle Nazis (was wir heute wieder konservativ nennen) und Nazismus war zudem extrem sexuell aufgeladen – eigentlich alles arme, ungefickte, in der Kindheit malträtierte und seelenverpanzerte Schweine: Täter-Opfer-Täter-„Dialektik“.

Lethen hebt sich dagegen positiv ab. Sein Ton ist ruhig und gelassen und versucht das offensichtlich Ideologische zu vermeiden, auch wenn seine Befunde ähnlich lauten – vielleicht ist da sogar was dran? Er konstatiert anhand der kurzen Epoche der „Sachlichkeit“ in Literatur und Kunst eben jenen Einbruch der Kälte, der zu Verpanzerungen – hier steht Wilhelm Reich Pate – führt und sich in einer „kalten persona“, in der „Kreatur“ und dem „Radar-Menschen“ realisiert. Und das zieht sich quer durch alle Schulen, von Brecht bis Jünger und von Serner bis Schmitt. Die Reaktionen sind nach der Kontingenzerfahrung des Krieges, den Nachkriegsunruhen und der Ungewißheiten Weimars verständlich. Sie führten zur Renaissance von „Verhaltenslehren“. Und davon gibt es die Menge und Lethen nimmt sie alle auseinander.

Das Buch sprengt den literaturtheoretischen Rahmen und greift weit und kenntnisreich und anstrengend in den Gedankensprüngen (es wird viel angedeutet) ins Historische, Psychologische, vor allem aber Philosophische über. Gerade letzteres ist beeindruckend: Lethen denkt genuin, anders als Theweleit, und produktiv.

„Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit“

In der Retrospektive, die uns Lethens „Staatsräte“ als Abschluß seines schmalen Oeuvres gestattet, stellt dieses Buch das Transitstadium dar, das einerseits die oft schwammigen Thesen der Verhaltenslehren konkretisieren will, zugleich aber die losen Fäden aufnimmt, die Theweleit im Kasus Benn liegen gelassen hatte, andererseits aber die Idee der „Staatsräte“ – die imaginative Konfrontation sich fremder, aber historisch ähnlich situierter Geister – vorwegnimmt, denn Benn wird nicht nur vor den historischen Hintergrund gestellt, sondern in szenisch konstruierten Kapiteln anhand von Bildern, Gesten, Tönen, Empfindungen, Konstellationen und Situationen, die nicht selten aus dem geschichtlichen Kontext gelöst werden, gegen seine Zeitgenossen abgesetzt und verkörpert. So informativ und beeindruckend die Einzelerkenntnisse sein können, so monoton ist der sich dahinter verbergende Grundgedanke, den zu wiederholen, das gesunde Stilempfinden sich sträubt.

Lethen setzt damit sein Projekt, die klima-topologische Kartierung der Jahre zwischen den Kriegen, die er in den „Verhaltenslehren“ exemplarisch andachte, fort. Benn hat ihn schon immer fasziniert. Nicht nur dessen klinischer Blick und die damit verbundene Kälte fesseln Lethen – zwischen Bewunderung und Abscheu –, sondern auch die Möglichkeit, Einblick in eine gesellschaftliche Komplexität zu geben, für die heutigentags schlicht und einfach die Charaktere fehlen. In Exkurse eingeteilte Kapitel beleuchten, mitunter sehr assoziativ, die Medizinsphäre, den Krieg, den Kolonialismus, die Emigration, die Erotik, Akademia u.v.m. Die Faszination des Linken am Rechten verleiht dem Experiment eine exzentrische Note – man erfährt über beide.

Lethen ist nicht nur ein Einfühlungsmeister, er gibt sich auch selbst preis. Denn das fast schon genüßliche Ausweiden intimer Details, die den Eis-Menschen Benn plötzlich ganz nackt und schutzlos präsentieren, verweist natürlich auch auf einen mutmaßlich im Spiegel-Stadium angesiedelten Willen zur Destruktion des so geliebten Gegenstandes. Es ist ein willentliches Spiel mit der Gefahr, eine Suche „nach Handlungsanweisungen“, die gerade dann, als sie hätte erfolgreich sein können – etwa in der Bewunderung der Widerrufsverweigerung und der Negierung des Schamzwanges, die starke Charaktere auszeichnet und „einzigartige Töne“ schafft – erschrocken zurückzieht und in den opaken „Sound der Väter“ flieht.

„Das Benn-Buch erschließt die Rückseite der Verhaltenslehren der Kälte, in denen die Personen von engelhafter Transparenz blieben, um den machiavellistischen Direktiven ohne den Widerstand spröder oder sumpfiger Leiber Folge zu leisten.“ (Helmut Lethen an den Verfasser)

„Suche nach dem Handorakel“

Daß Lethen ein Leben lang nach einem Handorakel – also einer sentenziellen Lebensanweisung – sucht, beschreibt diesen Menschen und Typus vorerst zur Genüge: Unsicherheit ist sein Habitus und das übersetzt sich im linken Denkschema zwangsläufig in Selbstkritik. So gesehen wird Lethens gesamtes Schaffen als verkappte Autobiographie deutlich und die „Verhaltenslehren“ sind letztlich nur das frühe Ergebnis der Selbstbesinnung. Der Leser hat ja längst geahnt, daß seine „Neigung, aus Büchern Verhaltenslehren zu machen, Schriften als imaginäres Reservoir von Bewegungsimpulsen zu begreifen“, am Grunde der literaturwissenschaftlichen Arbeiten liegt – die „Verhaltenslehren“ waren ein Durchgang durch mögliche (aber letztlich abgelehnte) Lebensentwürfe, ein Sich-messen an diesen.

Das ist ein Scheitern, keine Frage. Lethen gesteht es sich ein. Das Scheitern des 68ers und führenden Vertreters der KPD (AO), so angenehm ironisch und fast spielerisch er es auch präsentiert, ist symptomatisch und gestattet daher verallgemeinerungswürdige Konklusionen, mehr noch, es spricht laute und deutliche Warnungen auch an den rechten Aktivismus aus und sollte von der Rechtsintelligenzija aufmerksam studiert werden.

Lethens Scheitern – und damit das einer ganzen Generation revolutionswütiger Rationalisierungsritter – versteckt er in nette Anekdoten zu Beginn und zu Ende seines Orakels.

Zuerst führt er uns auf eine Konferenz zur Geschichte der wilden Jahre, wo er das linkslastige Publikum mit einer gewagten These schockieren will – „Die Leistung der marxistisch-maoistischen Apparate bestand darin, die frei flottierenden Umsturzenergien in ihr oberirdisches Bewegungssystem einzubinden“ (Erläuterung folgt) –, um selbst erschrocken festzustellen, daß ausgerechnet ein Vertreter des Verfassungsschutzes ihm recht geben wird.

Lethens Provokation vor Ort war es, „die Stabilisierungsleistungen von KBW, KPD-AO, KPD/ML und anderen Imitationen der III. Internationale“ hervorzuheben, „daß die Initiatoren der ML-Parteien … objektiv gesehen, der Stabilisierung der Republik gedient haben“, „daß die K-Gruppen der Bundesrepublik objektiv gesehen gutgetan“ haben, daß „die Apparate der verschiedenen marxistisch-maoistischen Parteien wie Kühlaggregate funktioniert“ haben, daß „militante Energien in den Kreisläufen symbolischer Praktiken aufgebraucht worden“ sind, daß „der Apparat ein selbstdestruktiver Trichter war, der Bewegungsenergien im Selbstlauf von Wiederholungen im Inneren verschlang, aber in der unübersichtlichen Situation der 70er Jahre stabilisierende Wirkung nach außen hatte“, daß die Kader „der objektiven Funktion der Staatserhaltung dienten“ und daß es letztlich zu einer „Symbiotik der Beziehung zwischen Protestakteuren und Massenmedien“ kam. Es war alles für die Katz!

Und am Ende des Buches erzählt er uns ein wenig verschämt und stolz zugleich, daß ausgerechnet Carl Schmitt einen seiner vernichtenden Texte mit Wohlwollen und sehr intensiv gelesen hatte.

Es war ein Hase-und-Igel-Spiel: Die Linke (der Hase) glaubte, das Tempo und die Regeln vorzugeben, aber „das System“, also das Seiende, also das Immer-schon-Daseiende, also das Konservative, das Schmitt nur symbolisiert, war immer schon da und hatte alles aufgesaugt, und ausgerechnet der Verfassungsschutzmann als Feindvertreter musste ihm das bestätigen. Es gab ein bißchen Tumult und Krawall und Chaos und Aufregung …, aber die Welt zog weiter ruhig ihre unausrechenbare Bahn. Statt „auf die Geschichtszeit projizierte Erwartungen, die Hoffnung auf Umsturz“, „erschließt sich ein Reich der Erfahrung“ und diese – „die Stunde der Empirie“ – kommt dann zwangsläufig als Überraschung, aus der man nur noch diesen Leitsatz generieren kann: „Prognosen und Ereignisse halten sich in getrennten Sphären auf. Im Strudel des Ereignisses scheint plötzlich alles kontingent.“

Dieses Scheitern – und das zeichnet Lethen unbedingt aus – ist trotz des pessimistischen und resignativen Zuges auch ein ironisches und vor allem produktives und schon deswegen sollte dieses Büchlein, dessen tiefster Wert über die ideologischen Grenzen hinweg im strategisch-taktischen Bereich und in der Aufforderung zur Außensicht der eigenen Bewegung liegt, zum Vademecum des politisch aktiven Menschen werden, der das eigene Versagen möglichst verhindern will.

Und selbst wenn es das nicht wäre, müßte man es empfehlen. Es läßt die seelische Verfassung einer Generation begreifen, einer Generation, die uns nachhaltig geprägt, geformt und verformt hat, wir lernen die Seelenqualen kennen und verstehen – „War das Gift (des Nazismus) in den Kinderkörper gesickert?“, fragt sich noch der alte Mann –, die Besessenheit von d e r Geschichte. Man lernt einige ikonische Bücher dieser Jahrgänge kennen, bekommt intime Einblicke in die spezifischen Denkvorgänge. Es ist zudem ein Repetitorium der jüngeren Geschichte, das Namen und Ereignisse, wenn auch in loser Folge, rekapituliert und nicht zuletzt ist es ein Museum eines Duktus‘ – der die Lektüre Lethens mitunter erschwert –, der gerade dabei ist, auf ewig hinter dem Horizont zu verschwinden, jene Sprache der Soziologen, Literaten und Theoretiker, die sich an Adorno, Peter Weiß, Marcuse, Bloch, Habermas und Theweleit – jeder auf seine Art ein Sprachkünstler und Sprachblender – orientierten und deren Schriften wie Morsesignale unter elitären Eingeweihten gelesen werden müssen.

Und wenn man die eminenten Lehren dieses gewichtigen Büchleins verinnerlicht hat, dann darf man auch ein wenig triumphieren und Zeilen wie diese genießen: „Wie blauäugig ist es, davon auszugehen, eine Generation hätte sich völlig von der vorhergehenden gelöst? Man kann sich offenbar nicht dadurch von ihr abspalten, indem man sie moralisch verurteilt.“

„Die Staatsräte“

Dieses Buch beweist, daß der im „Handorakel“ angedeutete Bruch ernst gemeint war. Die akzelerierende Geschichte der letzten Jahre kommt ihm zuhilfe. Das „Handorakel“ schien der Eintritt in die Rente zu sein. Die Fronten wurden 2015 allerdings neu gezogen – auch in den Ehen und Familien. Der Schaukelstuhl muß bis auf weiteres warten.

Die „Staaträte“ sind eine Hin-Richtung im doppelten Sinne. Sie sind auch an eine andere Leserschaft gerichtet, den Rechten als solchen, und sie versuchen an vier exemplarischen Fällen – Carl Schmitt, Sauerbruch, Gründgens und Furtwängler – die Überlebtheit nationalkonservativen Seins nachzuweisen. Insbesondere Schmitt soll als Galionsfigur sachlich-fachlich, aber auch ethisch-menschlich begraben werden.

Sie sind aber auch der letztgültige Beweis von Lethens Spezialisierung. Das Buch wurde in den meisten Medien groß angekündigt als finale Abrechnung, tatsächlich ist es lediglich eine Variation des Lebensthemas. Es gibt dieses ikonische Bild, auf dem man den jungen Benn über das Mikroskop gebeugt sieht – dies ist die typische Geste Lethens selbst, allein der Objektträger wurde ausgetauscht und statt Benn und Jünger erscheinen nun Sauerbruch, Gründgens und Furtwängler neben Schmitt im Sichtbereich. Lethen ist – ganz wertfrei – ein Monothematiker, oder doch ins Positive gewendet, ein Variationist, der seit 45 Jahren in mehreren Anläufen das gleiche Buch schreibt und die gleichen Objekte unter sein Aufmerksamkeitsmikroskop schiebt.

Das Paradoxe daran: er behandelt sie wie Krankheitserreger, wie Keime, deren gefährliche ansteckende Wirkung zur Isolation zwingt, deren Faszination ihn aber immer wieder zur Veröffentlichung und Sichtbarmachung verführt. Darüber hinaus hat er ihnen – insbesondere Schmitt, Benn und Jünger – fast alles zu verdanken, vom Vokabular, das man sich nicht selten ausleiht, über die Thematik und die nicht unoriginelle Idee, die angehimmelten verteufelten Größen durch quasi-kynische Verkörperlichung nach den Kretschmarschen Körperbau-Schemata vom Piedestal zu stoßen, bis hin zu den Konstellationen der dramatis personae. Noch nicht mal die „Entdeckung der Fiktion als bester Hilfskonstruktion“, die Idee der „fiktiven Konfrontation“, der „Geistergespräche“, der „Schattengefechte zwischen den Nicht-Reumütigen“, ist neu; auch sie wurde in der gegenseitigen Beäugung der drei Dauerprotagonisten nach dem Krieg bereits vorgeführt, etwa im Benn-Buch, und brauchte „nur“ noch auf andere Personen übertragen werden.

Die Konzentration auf ein Thema trägt ihre intrinsischen Vor- und Nachteile in sich: der Experte weiß, wovon er spricht und Lethens Wissensfundus ist beeindruckend, aber sein Fokus ist oft verengt und er muß die sich wiederholende Botschaft stilistisch, ästhetisch, dramaturgisch, inhaltlich oder sonstwie aufpolieren und radikalisieren, jedenfalls „neu“ und anders präsentieren. All das tat Lethen mit seiner Fiktion, die sprachlich deutlich abrüstet und somit sich auch einer bislang negierten Leserschaft öffnen will, aber manchmal hilft auch schon der Privatskandal, die gewünschte Aufregung zu generieren.

Vielleicht versteckt sich hinter alldem ein aufschlußreiches und verallgemeinerungswürdiges Paradox: Lethen – als Vertreter der intelligenten Linken – wäre ohne die Klassiker der Konservativen Revolution nie erschienen, er wäre ohne die „Verstrickungen“ und ohne die Schuld ein glühender Schmittianer und ein Verehrer Benns, Jüngers und Brechts, ein Bewunderer genuiner Denk- und Schreibleistung also … doch das gesellschaftliche Tabu zwingt ihn – und wie viele noch? – in die Distanz.

PS: Dieser Beitrag erschien vor 5 Jahren anläßlich des 80. Geburtstages. Seither sind zwei neue Bücher erschienen, seine Autobiographie und die Neuentdeckung des Großinquisitors auf der Suche nach dem Bösen –  und wir haben uns „auf eine Melange“ auch kurz kennengelernt. Die Besprechungen der beiden Bücher sind hier erschienen:

Helmut Lethens Raumfahrt durch die Zeit

Helmut Lethens Großinquisitor

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Sloterdijks Zähne und Nietzsches Regenschirm

Im dritten Band seiner „Zeilen und Tage“[1], einer Art Denktagebuch, lesen wir inmitten von philosophischen Reflexionen, politischen Analysen, Gesprächserinnerungen, Reisestrapazen, Tagesnotizen u.v.m. folgende überraschende Sätze: „Nach einem unbedachten Biß in hartes Brot liegen zwei abgebrochene Schneidezähne auf dem Tisch. Das Geräusch wirst du nicht so bald vergessen.“[2]

Was will uns diese Mitteilung sagen? Weiterlesen

Über den Gebrauch der Wörterbücher

Wörterbücher sind Fluch und Segen zugleich. Sie ermöglichen uns – das ist banal – den Eintritt in das Vokabular einer anderen Sprache. Sie sind jedoch menschengemacht und das begründet zum Teil, weshalb sie oft auch ein Ärgernis sind. Denn Sprache, als Produkt unbewußt sprachformender Zusammenarbeit von Millionen Individuen, von Generationen, der beiden ewigen Geschlechter, von gesellschaftlichen Schichten, von Literaturen und Stilen … überragt das individuell-Menschliche. Schon eine einzige Sprache ist größer als selbst ihr bester Theoretiker, umso mehr trifft das zu, wenn es sich um zwei Sprachen handelt. Weiterlesen

Der Sieg des Totalen

Ganz kleine Anekdote. Wollte gerade einen Gedanken Márais übersetzen, ein Abschnitt, der mich ganz persönlich traf – denn ich kenne das darin beschriebene Erlebnis. Der Dichter zitiert einen Kindheitsmoment, den er als den glücklichsten seines Lebens beschreibt. Er betrat als zehnjähriger Knabe das dunkle, leere Schlafzimmer seiner Mutter und wird vom blauen Licht übermannt, das Möbel und Kacheln, den Schnee auf Straße und Dächern reflektierend, in den Raum werfen. Da überkam ihn ein großes Glücksgefühl, das er seither zu wiederholen versuchte, es aber nie wieder fand. Weiterlesen

Die Blindheit gegen sich selbst

Die unauflösbaren Aporien der Gastfreundschaft hatte Sándor Márai in aller Klarheit gesehen und beschrieben: „Gast zu sein heißt Gefangenschaft“. Punkt! „Denn umsonst sagen die Gastgeber: Bei uns kann der Gast das machen, was er will! Er steht auf und legt sich hin, wann er will! Er ißt, was er will! Er soll sich nicht um die Gastgeber kümmern! …“ – natürlich machen Gäste und Gastgeber nichts anderes, als sich morgens bis abends umeinander zu kümmern, sie achten einander auf die Bedürfnisse und die Lebensweise, passen sich einander an.“ Weiterlesen

Wann ist es zu viel?

„Ich lag in der Sonne, listig verborgen in der Gebirgskette, die von dem Sand gebildet wird, den der Wind am Rand des Strandes aufweht … Irgendwelche Käfer – ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll – durcheilten diese Wüste eifrig mit unbekanntem Ziel. Und einer von ihnen, in der Reichweite meiner Hand, lag auf dem Rücken. Der Wind hatte ihn umgeworfen. Die Sonne knallte ihm auf den Bauch, bestimmt äußerst unangenehm für ihn, wenn man bedenkt, daß dieser Bauch es gewöhnt war, immer im Schatten zu sein – lag da und ruderte mit den Beinchen, und es war klar, daß ihm nichts blieb, als so monoton und verzweifelt mit den Beinchen zu rudern – und nach all den Stunden, die er da liegen mochte, ermattete er schon, lag im Sterben. Weiterlesen

Machiavelli neu gedacht

Machiavelli steht in der Öffentlichkeit noch immer unter dem Verdacht der Unmoral, man hält ihn für einen zynischen Machttheoretiker, der selbst die größten Verbrechen im Namen der Realpolitik legitimieren wollte. John McCormick stellt uns einen vom Kopf auf die Füße gestellten Machiavelli vor: als den ersten und bedeutendsten Demokratietheoretiker und nebenbei auch einen umgepolten Rousseau, dessen Egalitarismus sich als Mißtrauen gegen Arme entpuppt; er bescheinigt ihm Klassenelitismus und Verfechtung timokratischer Strukturen. Weiterlesen

Die Putzfrau

Wir gehören zu den Leuten, die, bevor das Zimmermädchen im Hotel kommt, noch einmal alles aufräumen und sauber machen. Was soll die Frau denn von uns denken? Daß wir verkommene Subjekte sind? Wir würden uns schämen, fände sie unser Zimmer schmutzig, das Bett nicht gemacht, die Toilette unappetitlich vor. Weiterlesen

Wie wir zu unserem Geld kommen

Vorsicht ist angebracht, man sollte wohl nicht allzuviel hineinlesen, aber die Tatsache, daß Sprachen das Problem des zu-Gelde-kommens verschieden lösen, ist nicht uninteressant. Das beginnt schon bei der Frage, warum gerade dieses vitale Interesse so divers ausgedrückt wird. Weiterlesen

Denk ich an Deutschland in der Nacht …

Dann bin ich um den Schlaf gebracht. Jeder, der in Deutschland Schulbildung genossen hat, sollte das Gedicht „Nachtgedanken“ von Heinrich Heine, wenigstens aber diese Zeilen kennen. Sie sind zum geflügelten Wort geworden.

Die meisten Leser auf diesem Blog werden vor allem das Gefühl kennen! Weiterlesen