Die Evidenz des initialen Bildes

Wenn ich sage, wir sollten den Bildern aus dem Nahen Osten mißtrauen, dann dürfte das bei Lesern dieses Blogs nur Gähnen hervorrufen. Auch dann, wenn ich ergänze: die Bilder beider Seiten, die der Palästinenser ebenso wie der der Israelis.

Der moderne Krieg wird vor allem mit Bildern geführt und nicht mit Bomben. Die Bomben besitzen nur eine unmittelbare Realität für jene, die unter ihren physischen Wirkungen leiden; entscheidender für den Krieg, seinen Fort- und Ausgang sind in der globalen Welt nicht die Taten, sondern die Bilder als Botschaften der Taten. Was nicht gefilmt, nicht registriert wurde, spielt keine Rolle, so wie ein an einer Person begangener Diebstahl, den sie nicht bemerkt, bedeutungs- und folgenlos bleibt, weil es kein Vermissen gibt.

Da nun aber – wie es scheint – nahezu jeder Mensch mit einem Bildgenerator umherläuft, werden wir von Bildern überschüttet, von gesehenen und (noch) nicht gesehenen. Was diese Bilder zeigen, können wir in den meisten Fällen nicht wissen, weil wir weder Ort noch Zeit oder die Umstände des Ereignisses erfahrungsgemäß abdecken können. Vor allem dort, wo sie wesenhaft erfahrbare und bereits erfahrene Situation wiedergeben, wo wir also glauben, eine situative Einschätzung geben zu können, sind wir manipulierbar, weil uns die erfahrungsgesättigte Vergleichbarkeit eine Urteilssicherheit suggeriert, die zwar meistens zutreffend sein dürfte, aber just die Tür zur Täuschung öffnet.

Um so mehr trifft das für Situationen zu, die wir nicht selbst erfahren haben – wie etwa ein Krieg oder ein Bombardement.

Und da reden wir noch gar nicht von aktiver Manipulation durch Bildbearbeitung, Neuschöpfungen durch Künstliche Intelligenz, Perspektivtäuschungen, Entkontextualisierung und dergleichen Tricks, sondern nur von dem, was evident zu sein scheint und uns aber rätselhaft bleiben muß, weil wir „nicht dabei waren“.

Wir sehen also – oder sehen auch nicht: Vorsicht ist geboten, um so mehr, da beide Kriegsparteien und alle interessierten Fraktionen zur Lüge bereit sind und alle Möglichkeiten nutzen werden – neben den Waffengängen – den Konflikt auf der Propaganda- oder Ideologieseite zu gewinnen.

Es gibt aber eine Ausnahme von dieser Regel und das ist das initiale Bild. Was wir am 7. Oktober dieses Jahres und an den darauffolgenden Tagen gesehen haben, ist hochgradig authentisch – das ist passiert, so, wie wir es zu sehen bekamen: das Massaker auf dem Festival, die umherstreifenden und alles tötenden Hamas-Leute, das Abschlachten der Menschen, das Niederbrennen der Kibbuze … all das hat es gegeben und wir haben es gesehen. Die enthaupteten Babys hingegen nicht – da hätte man schon skeptisch sein müssen.

Der Beweis der Echtheit liegt in der Unmittelbarkeit der Bilder, die so brutal und so schnell waren, daß es keinen Filter gegeben haben kann. Niemand war vorbereitet, keiner konnte das einordnen, es gab niemanden, der damit etwas erreichen wollte – es war einfach da. Und zwar in großer, sich selbst bestätigender Zahl und Perspektive.

Wenn wir jetzt hingegen beispielsweise die Toten und Verwundeten im Gaza-Streifen sehen, die blutigen Kinder in den Armen verzweifelter Eltern oder Helfer, dann sind diese Bilder nicht weniger grausam und schwer zu ertragen, aber es fehlt ihnen die Unmittelbarkeit der initialen Evidenz. Wir sollten ihnen mißtrauen!

Das heißt nicht, daß sie lügen würden oder daß wir das unterstellen sollten. Die meisten dürften ebenso glaubwürdig sein, wie die frühen Bilder – wir können es nur nicht wissen.

Wir können aber wissen und sehen, daß unter diesen Bildern immer wieder welche auftauchen, die nicht die Wahrheit sagen.

Neben den zahlreichen offensichtlichen Fälschungen gibt es immer wieder auch zweifelhafte Aufnahmen und daraus generierte Geschichten, die der Betrachter selbst als solche vermuten kann.

So wurde uns vor ein paar Tagen die Nachricht übermittelt, Israel habe einen Flüchtlingstrack bombardiert, u.a. direkt einen LKW, auf dessen offener Fläche jede Menge Menschen, vor allem Kinder saßen. In einer ersten Sequenz wird uns der Transport von einem Fenster aus gezeigt. Die Tatsache, daß der Filmende das Fahrzeug gleich dreimal in den Fokus nimmt, war von Beginn an verdächtig. Ein zweiter Schnipsel soll uns just dieses Fahrzeug zeigen, nun zerbombt, darauf Kinderleichen, die den „direkten Einschlag“ zwar nicht überlebt haben aber dennoch – soweit man sehen kann – individuell erkennbar sind. Das sind zu viele Ungereimtheiten, um nicht mißtrauisch zu machen, um nicht eine gestellte Szene in Erwägung zu ziehen. Welche der beiden Varianten die Wahrheit zeigt oder ob überhaupt eine, kann ich nicht bestimmen – ich mißtraue nur den Bildern und der Bildgeschichte.

Gestern wurde nun ein Krankenhaus zerstört, es soll 500 Tote gegeben haben, Patienten, aber auch viele Schutzsuchende, die sich im Komplex sicher wähnten. Sofort schob man sich gegenseitig die Schuld zu. Auf antiisraelischen Seiten wurde gleich von Menschheitsverbrechen gesprochen, die Israelis hingegen wollen Beweise dafür liefern, daß es sich um eine fehlgeleitete Hamas-Rakete gehandelt hat … Wir können es nicht wissen, wir sollten daher von zu schnellen Einreihungen absehen.

Es ist durchaus wahrscheinlich, daß israelische Raketen ihre Ziele verfehlen, es kann auch sein, daß es individuelle Fehlentscheidungen gibt, selbst einen bewußten Beschuß kann man nicht ausschließen, auch wenn es mir schwerfällt, dafür ein rationales Motiv zu finden.

Umgekehrt wissen wir, daß die Hamas ihre Raketendepots bevorzugt im Windschatten von Krankenhäusern und Schulen anlegt, und damit Zivilopfer provoziert. Entweder Israel scheut den Beschuß wegen der Kollateralschäden oder aber man hat sie und kann sie unmittelbar im Infokrieg verwerten.

Der gestrige Angriff oder Unfall könnte eine Zäsur werden, daher auch der verbitterte Kampf um die Bilder. Wir als Außenstehende können noch nicht mal wissen, ob es ihn überhaupt gegeben hat. Hektische Bilder vom Inneren der Klinik erweisen sich schnell als bereits drei Tage alt und auch von denen wissen wir nicht, was sie eigentlich zeigen.

Das Cui-Bono-Argument halte ich in vielen Fällen für ein sehr schwaches, denn es beruht auf der seltsamen Prämisse, daß Menschen immer rational handeln müßten. Wenden wir es aber an, so scheint m.E. die Hamas mehr von einem derartigen „Menschheitsverbrechen“ zu profitieren: es relativiert die eigenen Verbrechen, es solidarisiert, es garantiert vielleicht sogar das eigene Überleben, denn sollte der Vorfall einen „arabischen Aufstand“ auslösen – schon wenige Minuten nach der Explosion liefen die unangenehm erhitzbaren Massen in aller Herren Länder empört auf die Straße, auch in Deutschland –, dann könnte das das Ende des Krieges gegen die Hamas sein, bevor er eigentlich begonnen hat.

Auch hier will man mit fragwürdigen Bildern beeinflussen. Im Netz geht die „Analyse“ eines „Marine Corps Veteran Expert“ rum, die den Einschlag aufgrund von Lautvergleichen, Soundanalysen als israelischen identifizieren will. Auf den ersten Blick sehr überzeugend. Eine Menge an Fachwissen soll die Authentizität bestätigen, hat aber mit dem Vorfall nichts zu tun.

Entscheidend ist nur eine Frage: Was sehen wir bei jenem Einschlag in der Dunkelheit? Woher wollen wir wissen, daß dieser Einschlag gerade der betreffende war? Warum filmt jemand in die Dunkelheit hinein und fängt dann just diesen Angriff ein? …

Zu viele Fragezeichen, um sich zu Positionierungen verleiten zu lassen.

Mir ist egal, wer sich auf welche Seite schlägt. Es wäre mir schon genug, wenn man sich mit Urteilen über Dinge, die man nicht kennt und von denen man nichts versteht, zurückhält.

auch so kann man es sehen

2 Gedanken zu “Die Evidenz des initialen Bildes

  1. Amy schreibt:

    Die isolierte Betrachtung, die notwendig ist, um ein Bild als initial zu empfinden, behagt mir nicht. Kein Konflikt beginnt mirnixdirnix von einem Tag auf den anderen, selten bis nie ist etwas vollkommen unprovoziert, praktisch immer gibt es bekannte und unbekannte Vorgeschichten und -geschehnisse.

    Ich sehe hier keinen Grund, Bilder vom vermeintlichen Beginn eines Konfliktes, eines Krieges oder auch nur einer neuen Stufe derselbigen großartig anders zu bewerten als alles darauffolgende – schon garnicht im Sinne davon dass diese authentischer wären.

    Eher würde ich im Zweifel sogar das Gegenteil für wahrscheinlicher halten, da besagte Bilder, die als initial dargestellt werden sollen, entscheidend und von zu großer Wichtigkeit sein dürften, als dass man hier zwangsläufig etwas Echtes im Sinne von Authentizität unterstellen sollte, selbst wenn das zu Sehende exakt so passiert ist.

    Das, was wir mittels div. Medien als Geschehnisse vermittelt bekommen, ist für mich nicht zu trennen von den vielen Ursachen und Gründen, weshalb das Geschehen erstens ‚passiert‘ und zweitens überhaupt darüber berichtet, es gefilmt, geteilt, in den Fokus gerückt wird. Hier existieren mannigfaltige Interessen auf allen (!) beteiligten individuellen und auch organisierten Ebenen und die wenigsten davon dürften lediglich dem oft vorgeblichen Zweck des neutralen Informierens dienen.

    Aktuell drängt sich wie auch bereits in den bekannten Konfliktszenarien der letzten drei, vier Jahre der Eindruck auf, dass man sich doch gefälligst für eine der präsentierten zwei Seiten entscheiden und in der Folge kräftig hassen, hetzen und sich ängstigen soll.
    Oder, fast noch schlimmer, Allem und Jedem misstrauen, nur das Schlechteste unterstellen und in der Folge ebenfalls hassen, hetzen, sich ängstigen.
    Oder ganz abschalten, mitgefühls- und mitleidlos werden, in der Folge erbarmungslos gegen Andere und auch sich selbst. Oder individuell in Angst erstarren und sich aus Allem raushalten. Oder von allem etwas.

    Allesamt keine so verlockenden Optionen und es ist imho wichtiger als je zuvor, hier einen kühlen Kopf und ein möglichst großes Herz zu bewahren und Mittel und Wege zu finden, sich nicht über Gebühr manipulieren zu lassen und dadurch mit den Dingen gemein zu machen, zum Schaden aller, besonders aber seinem eigenen.

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  2. Pérégrinateur schreibt:

    Allgemeiner Teil

    Das Einfallstor für Propaganda ist die Emotionalität der damit Traktierten. Um ein in der Sache besser treffendes Urteil zu haben, ist es immer am besten, wenn man Skeptiker und mehr noch Zyniker ist. Ich will sicher nicht anempfehlen, es zu werden, denn für viele ist dieser Zielzustand schlicht unerreichbar, just wegen ihrer Emotionalität. Außerdem ist er mit manchmal nicht erträglichen Nachteilen in der Wertschätzung durch andere verbunden, umgekehrt jedoch auch mit gewissen Vorteilen in der durch einen selbst.

    Ein Beispiel. Aus Anlass eines anderen Konflikts mit Eingeborenen zitierte ich Bierce:

    “ABORIGINIES, n. Persons of little worth found cumbering the soil of a newly discovered country. They soon cease to cumber; they fertilize.”

    Antwort meiner Gesprächspartnerin: „Aber das ist ja fürchterlich, das kann man doch nicht sagen!“
    Die meine: „Wieso denn nicht, wenn es doch stimmt?“

    Der Emotionalität gesellt sich dann bei den zumindest Anrationalistierten üblicherweise ein eigentümliches Bedürfnis nach Konsistenz der eigenen Anrichten zu diesem und jenem bei, jüngst schön zu beobachten bei der Frage nach dem Urheber der North-Stream-Sprengung. Welche Mühe man sich da oft gab, damit es nicht der gewesen sein kann, der es nicht gewesen sein darf! Inzwischen haben unsere NATO-treuen Medien die öffentliche Diskussion in dieser Frage ziemlich herabgefahren, nach der jüngsten Besser-so-Version waren es aber ganz bestimmt ukrainische Privatiers – für die Verteidigung von deren Land wir selbstverständlich keinen Aufwand und keine Mühe scheuen sollten.

    Wenn man mit großem Eifer die Völkerschaften mit ihren verschiedenen Herkünften und daraus natürlich rührenden verschiedenen emotionalen Affinitäten in einem Territorium mischt, dann baut man eine solide Rampe zu Zwist und Bürgerkrieg darin. Man kann das nur abwenden, indem man den Toleranteren die mentale Einstellung der Hartköpfigen aufzwingt, an welcher ja ohnehin nichts zu ändern ist. Solange aber der Zwist lebt, werden die Herrschenden zumindest bei Engagements hinten in der Türkei, wo sich die Völker schlagen, etwas vorsichtiger agieren – oder verlogener.

    Spezieller Teil

    Dass sie sich in der Zivilbevölkerung versteckten und diese damit als Schutzschilde missbrauchten, ist ein Vorwurf, den man gegen jede Art von Partisanen machen kann. Die mit den besseren und zielgenaueren Waffen fordern immer, dass der Feind sich doch bitte anständigerweise so dislozieren sollte, dass er von einem selbst ohne Kollateralschäden erledigt werden kann.

    Gesetzt, die Evakuierung des nördlichen Gazastreifens von Zivilbevölkerung gelänge – wird man dann je wieder zulassen, dass die Fortgegangenen zurückkehren können? Ich fürchte, das würde dann ein selbstverständlich grundfalsches arabisches Narrativ befördern.

    Empfehlung

    Ein für heutige Verhältnisse ungewöhnlich neutraler Artikel von Taki in Taki’s Magazine vom 14. Oktober 2023: The Present Tragedy

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