Repräsentieren die Ahmadiyya die Muslime?

Deutschlandweit für Aufregung sorgten die Aussagen der Rundfunkrätin Khola Maryam Hübsch in der Sendung „Hart aber Fair“ vom 29.4.24. Sie trat dort als Vertreterin der muslimischen Gemeinden auf und sprach zu den Forderungen nach einem „Kalifat als Lösung“ für Deutschland. Diese Forderung wurde auf einer Hamburger Demonstration von ca. 1000 Muslimen erhoben und schreckte die deutsche Öffentlichkeit für einen Moment auf.

Khola Maryam Hübsch gehört der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an. Es ist nicht das erste Mal, daß Vertreter dieser Glaubensrichtung öffentlich Rede und Antwort stehen und die Muslime in ihrer Gesamtheit vertreten sollen. Und es ist wohl auch kein Zufall, daß die Medienhäuser sich gern auf die Ahmadiyya verlassen, gelten sie doch als besonders zahm und friedlich. Aber stimmt das? Und sind sie repräsentativ? Um das zu erfahren, muß man sich mit Lehre, Tradition und Gemeinde beschäftigen – dies soll in zwei Durchgängen geschehen:

Die Gemeinde wurde 1889 im damaligen Britisch-Indien, heute Pakistan, von Mirza Ghulam Ahmad gegründet. Die Basissprache ist Urdu und nicht Arabisch. Ahmad entwarf eine auf Koran, Hadith und Sunna basierende Lehre, in die ganz deutlich auch hinduistische, buddhistische und in Spurenelementen auch christliche Bestandteile einflossen. Er selbst bezeichnete sich als Mahdi, also als Endzeitprophet in der Nachfolge Mohammeds und als erster Kalif der Ahmadiyya.

Der Mainstream-Islam mußte seine in zahlreichen Werken niedergelegte Lehre aus mehreren Gründen ablehnen. Zum einen wird der Anspruch, der neue Messias zu sein, als schwere Häresie verstanden, zum anderen findet seine allegorische Interpretation des Korans ebenso wenig Verständnis wie seine stark selektive Lesart und auch die Behauptung, Jesus sei nicht auferstanden – der Koran verneint die Kreuzigung ohnehin –, sondern als Hochbetagter in Kaschmir verstorben, wird nicht ernst genommen. Tatsächlich werden die Ahmadiyya meist gar nicht als Muslime anerkannt, die Islamische Weltliga belegte sie mit einer Fatwa und bis zum heutigen Tag leiden sie unter Unterdrückung und Terror in Pakistan.

Mit 10-15 Millionen Bekennenden, hauptsächlich auf dem indischen Subkontinent und in Schwarzafrika, aber bereits mit Vertretungen in 190 Ländern, stellen sie weniger als 1% aller Muslime. Auch in Deutschland repräsentieren sie mit ca. 40 000 Gläubigen nur 0,8% der Muslime. Gemessen daran ist ihre mediale und öffentliche Präsenz – selbst Jörg Meuthens erster Besuch einer Moschee war seinerzeit ein Gang zu den Ahmadiyya – vollkommen überdimensioniert. Dafür gibt es mehrere Gründe, theologische wie soziale.

Bereits der Gründer schwor seine Gefolgschaft auf eine militante Gewaltlosigkeit ein. Der ausgeprägte missionarische Furor sollte sich ausschließlich argumentativ in Überzeugungsarbeit austoben. Das kann nur gelingen, wenn die Diskutanten hoch gebildet und perfekt in die jeweilige Gesellschaft integriert sind. In starkem Kontrast zu weiten Teilen der muslimischen Gesellschaften in Deutschland, weisen die Ahmadiyya eine starke Bildungsaffinität auf, achten auf korrektes Auftreten, sprachliche Eloquenz, bürgerliche Einordnung in das gesellschaftliche und berufliche Leben und vertreten einen deutlichen Patriotismus im jeweiligen Heimatland.

Gern brüstet man sich mit hoher Hochschulabschlußquote, geringer Arbeitslosenquote und einen Nobelpreisträger hat man auch vorzuweisen. Die Ahmadiyya sind statistisch gesehen Vorzeigedeutsche. Dies und das dauernde Mantra der Friedfertigkeit, das auch über einen eigenen Fernsehkanal verbreitet wird,  macht sie für Politik und Medien interessant, denn sie stellen genau das dar, was man sich in jenen Sphären wünscht. Khola Maryam Hübsch, die Tochter eines deutschen Konvertiten, ist dafür ein Paradebeispiel: jeder kennt sie aus Funk und Fernsehen, wo sie die Rolle der selbstbestimmten und gebildeten Muslima gibt, ohne daß man in der Regel erfährt, wie wenig repräsentativ sie für die deutschen Muslime ist. Legendär ein Streitgespräch mit Abdel-Samad.

An der Friedfertigkeit ist vorerst nicht zu zweifeln – sie ist den Schriften der Ahmadiyya durch die einseitige und selektive Wahrnehmung des Koran und des Lebens Mohammeds systemisch angelegt (man nimmt nur die Barmherzigkeit wahr, vergißt oder rationalisiert die dunklen Seiten), sie manifestiert sich in allen Entäußerungen, selbst in den baulichen und architektonischen.

Schaut man sich die vollendeten Moscheen in Deutschland an, so bestechen diese durch eine simple, bescheidene, der jeweiligen Region und Umgebung angepaßten Bauweise in stets perfektem Pflegezustand. Zudem sind die Ahmadiyya vielfältig sozial engagiert – sie sind mithin die erste muslimische Gemeinde Deutschlands, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und damit den großen christlichen Kirchen gleichgestellt wird. Trotzdem sollte man das „vorerst“ nicht unterschlagen, denn noch waren sie nirgendwo in der Lage, eine Mehrheit und also Macht zu erreichen, noch sind die Islamkritiker alle beruhigt. Warum?

Der Reaktor der Ahmadiyya wird von einer eschatologischen „Missionierung“ angetrieben. Den Begriff der Missionierung lehnt man dabei ab, wie der Leipziger Imam Arif mir auf Nachfrage schrieb, denn gemäß Vers 76.10 – „Wir speisen/versorgen euch nur um Allahs willen. Wir begehren von euch weder Lohn noch Dank“ – ist es nicht gestattet, „für all das, was wir für irgendjemanden tun, irgendeine Gegenleistung zu erwarten, auch nicht die, daß die Person zu unserer Gemeinde konvertiert“, mehr noch, sind Beitritte von „Personen, welche die Lehre des Islam nicht beherzigt haben“, also den Islam nicht als spirituelle Lehre erkennen und leben, nicht erwünscht, was immerhin den hohen Anteil an pakistanischstämmigen Ahmadiyya in Deutschland erklärt. „Hinterhältigkeit und das Ausnutzen von Unkenntnis oder Notsituation einer Person, um sie für sich zu gewinnen, halten wir für völlig unvereinbar mit den Lehren des Islam“, was heißt, daß die „Missionierung“ oder „Aufklärung“ durchaus nicht mit dem Ziel der Konvertierung erfolgt.

Es wäre falsch, wenn man derartige Äußerungen a priori als „Verstellung“ oder gar „Lüge“ vorverurteilt. Überhaupt wird jedes Gespräch mit Muslimen, ganz gleich welcher Observanz, verunmöglicht, wenn das – meist unverstandene und mißbrauchte – Taqiyya-Prinzip undifferenziert unterstellt wird. Auch wenn der Islam in vielfältigen Ausformungen eine Diskurskultur nur schwer ermöglicht, wird auch die letzte Hoffnung darauf erstickt, wenn extreme Auslegungen durch Islamophobiker alle argumentativen Öffnungen vermauern.

Trotzdem bleibt folgende Tatsache: Die Ahmadiyya verstehen sich als Reformbewegung des Islam mit dem Ziel des friedlichen „Endsieges des Islam“. Der Ahmadiyya-Islam wird allen anderen Religionen als überlegen dargestellt, die er letztlich überwinden will. Das Ziel ist die Ein-Religion-Welt, ist ein weltumspannendes Kalifat, das Mittel ist der verbale, der argumentative Djihad.

Insofern hat die Vorstellung eines trojanischen Pferdes eine gewisse Berechtigung – wie alle Utopien würde auch diese am Charakter des Menschen scheitern. Kritiker sehen die Gefahr in einem Verlust der „emotionalen Distanz zum Islam“, der uns hier in einer „weichgespülten Form“ entgegentritt, von Politik und Medien hofiert wird und dabei die überwältigende Mehrheit der Muslime in keiner Weise repräsentiert. Wesentliche Archaismen des Islam, wie etwa die sehr streng ausgelebte Geschlechtertrennung, Verhüllung etc., sind der Reform eben nicht zum Opfer gefallen (mit Konsequenzen: Ehrenmorde sind registriert) und können es auch nicht, solange man sich strikt auf das Heilige Buch beruft.

Vor allem aber ist es die immense intellektuelle Unterbietung des westlichen Kultur- und Geisteslebens – von der kann sich jeder überzeugen, der die Schriften der Ahmadiyya liest (die denen der Zeugen Jehovas nicht ganz unähnlich sind) –, die, bei aller Sympathie für den sanftmütigen und stilvollen Umgang, abschreckt. Dazu beim nächsten Mal …

Literatur: (alle Titel sind auf http://www.ahmadiyya.de/bibliothek/buecher/ als PDF oder EBook-Datei verfügbar):
Mirza Ghulam Ahmad: Philosophie der Lehren des Islam
Mirza Ghulam Ahmad: Botschaft der Versöhnung
Mirza Bashir ud-Din Mahmud Ahmad: Das Leben des Heiligen Propheten
Mirza Bashir ud-Din Mahmud Ahmad: Der Heilige Prophet Muhammad – Der Wohltäter der Menschheit, das vollkommene Vorbild und eine Barmherzigkeit für die Welten
Mirza Baschir ud-Din Mahmud Ahmad: Ahmadiyyat – der wahre Islam.

6 Gedanken zu “Repräsentieren die Ahmadiyya die Muslime?

  1. Die dem sunnitischen Islam – im Vergleich zu anderen Weltreligionen – innewohnende Ambiguitätstoleranz und Flexibilität

    1. machte es möglich, dass gleichzeitig verschiedene Qur’an-Lesarten, juristische sowie theologische Denkschulen oder zahlreiche unterschiedliche Sufi-Orden bestehen konnten, ohne das sich gegenseitig mit Exkommunikation und den daraus resultierenden Folgen gedroht wurde. Was nicht heißt, dass es keine Todesstrafen wegen Blasphemie oder halbinquisitorische Befragungen mit Folter gegeben hätte (bemerkenswerterweise waren es die Rationalisten, die in Bagdad Mitte des 9. Jahrhunderts zu diesen Maßnahmen griffen). Nur eben weit seltener als im Abendland.

    2. verhinderte eine Zersplitterung der sunnitisch-islamischen Glaubensgemeinschaft. Das „frühislamische Schisma“ hatte nicht wie im Christentum zur Zeit der Kirchenväter mit komplizierten theologischen Fragen zu tun, sondern kreiste um die Frage der Autorität. Zwei extreme Minderheitenpositionen wichen von Mainstream ab, nicht mehr und nicht weniger. Zum einen die Schiiten, die darauf pochten, dass jemand aus der Prophetenfamilie das Sagen haben solle. Auf der anderen Seite die Charidschiten, die überzeugt waren, dass es „der Gottesfürchtigste“ sein sollte – freilich, wen diese Gruppe dafür hielt. Es verwundert nicht, dass beide Extrempositionen sich in zahlreiche kleinere Splittergruppen aufteilten. Dem sunnitischen Islam hingegen folgen immerhin rund 90% der Muslime und er behielt mehr als ein Jahrtausend seine Einheit durch Vielfalt. Sekten wie die Ahmadiyya sind eher eine moderne Erscheinung und das ist kein Zufall.

    Bei aller Flexibilität und Ambiguitätstoleranz gibt es im sunnitischen Islam eine Doktrin. Dinge, die unverhandelbar sind. Dazu gehört, dass Muhammad (a.S.) der letzte Gesandte Gottes bis zum Jüngsten Tag ist.

    Was nicht heißt, dass die sunnitischen Muslime Mirza Ghulam Ahmed nicht als Prophet sehen würden. Weit gefehlt. Selbstverständlich war M.G. Ahmed ein Prophet, und zwar ein britischer. Mit seinen eigenen Worten:

    ‘From my writings over a period of seventeen years, it has been proven that I am faithful and devoted to the British government, with heart and soul. I am the son of a father who was also a friend of this government. My faith is to obey the government and love the people; these are the conditions set for my disciples and followers who pledge allegiance to me. (Kitab al-Bariyya, S.9).

    Bemerkenswert auch seine Version des Glaubensbekenntnisses:

    Undoubtedly, my faith and doctrine – that which I emphasize, is that Islam comprises of two parts. One is obedience to Allah and the other is obedience to the government which has created peace and under whose protection we are safe from the oppressors – that is the British government. (Shahadat al-Qur’an, S.86)

    Und um nicht missverstanden zu werden, worin seine Lebensmission bestand:

    The greater part of my life has been spent in supporting and favouring the British government. I have written and published so many books against the theory of Jihad and the need for obedience to the British that if all these tracts and books were put together, it would cover fifty volumes (Tiryaq-ul-Qulub, S.25)

    An dieser Stelle sei auf einen bemerkenswerten Zufall hingewiesen. Das Aufkommen von solcher (und anderer) Sekten im Islam fiel zeitlich ziemlich genau auf die Zeit des europäischen Kolonialismus/Imperialismus. Im Fall von Mirza Ghulam Ahmed finden wir eine – wenn wir so wollen – clevere zusammengeschusterte Lehre, die weitaus einladender ist, als eine andere ebenfalls in kolonialen Zeiten gegründete Sekte, die sich ebenfalls britischer und bis heute amerikanischer Unterstützung erfreut: die wahabitische Sekte aus Saudi Arabien (die das ganze 19. Jahrhundert über weltweit von allen Gelehrten als ketzerisch definiert wurde, zumindest solange es noch formal ein islamisches Rechts- Staats- und Bildungssystem gab). Zunächst verkaufte sich Ghulam Ahmed lange Zeit als eine Art „innersunnitischer“ Erneuerer. Solche als „Mudschaddid“ bezeichneten Personen gab es alle hundert Jahre vielleicht ein, zwei Mal. Allerdings konnte sich niemand so wie er das tat als „Erneuerer des Glaubens“ bezeichnen, vielmehr musste er soviele eindrucksvolle Werke hinterlassen haben, dass ihn die Mehrheit der Gelehrten als solchen betrachteten. Ghazali ist hier wohl das bekannteste Beispiel.

    Gerade die Gewaltlosigkeit hat er sich bei den sufitischen Orden abgekupfert. Eine „Gewaltlosigkeit“, welche British-India lobpreiste und die Politik des Empires guthieß ist tatsächlich etwas ganz anderes: Komplizenschaft. Das islamische Original im traditionellen Umgang mit tyrannischer Fremdherrschaft verkörperte im muslimischen Indien vielmehr Khan Abdal Ghaffar Khan.

    Oder in Algerien – als Frankreich im Namen der civilisatrice – im 19. Jahrhundert eine Politik der verbrannten Erde anwandte – Abdel Kader der eben nicht unter dem Deckmantel der „Gewaltlosigkeit“ dies tolerierte oder gar pries, sondern im Gegensatz zu seinem Feind, der keine Gefangenen zu machen pflegte, verletzte gefangene französische Soldaten pflegte, was einen gewissen Henry Dunant inspirierte.

    Tatsächlich – auch wenn dies Hindutva-Theoriker gerne verschweigen – breitete sich der Islam im Subkontinent vor allem durch das Wirken von Orden wie der Chichstaniyya oder der Naqshbandiyya, die seit Jahrhunderten u.a. das „Dienst an der Menschheit“ eindrucksvoll praktizierte (die Konversion eines derart unzivilisierten Volkes wie der Mongolen – obwohl diese Herrschten und anfänglich die Untergebenen als Untermenschen betrachteten – ist ein Ergebnis davon) und Quranverse wie der im Artikel erwähnte waren selbstverständlich geläufig. In Bosnien ist dieser Sufi-Orden bis heute der am weitesten verbreitete und jenseits akademisch-historischer Forschungen kann ich das oben geschriebene auch aus persönlicher Erfahrung bestätigen. Der Islam ist Bosnien ist nicht deshalb tolerant, weil – wie westliche Journalisten gerne schreiben – die Leute dort nicht sonderlich religiös seien, sondern weil sich als einer der heute wenigen Orten (vielleicht wegen dem Inseldasein der muslimischen Gemeinschaft dort) die Ethik bis heute gehalten hat und aktuell (seit den letzten 10 Jahren) auf dem Balkan ein Revival erlebt, während der Wahabismus (der in den 90er unter dem Deckmantel saudischer Wohlfahrt Fuß fasste) sich im Niedergang befindet. Das blutige Schauspiel in Syrien scheint eine Rolle dabei gespielt zu haben…

    Was die Sufis in Indien anbelangt: Man kannte und schätzte auch von hinduistischer Seite das Wirken der Sufis, die über 1.000 Jahren quer über den dar al-islam keine esoterische Randgruppe, sondern wesentlicher spiritueller und ethischer Kern darstellten. Mit anderen Worten: die Sufik ist keine „Sekte“, sondern eine Disziplin wie die Theologie und die Jurisprudenz – Die isl. Heiligengräber werden auch heute noch sowohl von Muslimen als auch von Hindus aufgesucht. Allerdings heißt dies nicht, dass Sufis ausbeuterische Fremdherrschaft guthießen.(1) Auch hier unterscheidet sich der britische Prophet Mirza Ghulam Ahmed von allen anderen Glaubensverkündern des Monotheismus, die stets Ungerechtigkeit anprangerten (man denke an Jesus, der mit einem Seilstrick die Geldwechsler aus dem Tempel verjagt).

    Ein anderes Beispiel für eine moderne aus dem Islam entstandene Sekte unter Kolonialverwaltung, die ebenfalls europaweit (vor allem in Frankreich aber auch in Deutschland) keine Probleme mit dem Staat hat: Die Ahbash, gegründet im Libanon unter französischer Herrschaft im 20. Jahrhundert. In Berlin-Kreuzberg steht ein imposantes Zentrum, das interessanterweise mit keinerlei behördlichen Beanstandungen bezüglich der sichtbaren Minarette zu tun hatte wie ich aus eigener Erfahrung weiß – im Gegensatz zu traditionellen türkischen Gemeinden, die häufig mit derselben Polemik und behördlichen Stolpersteinen konfrontiert werden.

    Die Ahbash (Gründer: al-Harari) sind deshalb erwähnenswert, weil sie ihre Anhänger vor allem unter arabisierten Kurden aus dem Libanon haben. Auch hier sie stellen sie sich häufig als Wohlfahrtsorganisation vor und entwickeln einen doppelten Diskurs: gegenüber ihren westlichen Gesprächspartnern beteuern sie die Laizität und selbstverständlich die Emanzipation der Frau. Tatsächlich jedoch führen sie den vielleicht radikalsten und härtesten Diskurs innerhalb der muslimischen Gemeinschaften. Sie bezeichnen die meisten muslimischen Gelehrten als kuffar und stützen sich dabei auf Auslegungen, die vom klassischen Mainstream abweichen (in bestimmten theologischen Fragen, die aufzuführen hier den Rahmen sprengen würde). Ihre seltsamen Auffassungen sind tatsächlich ein Quell vieler Konflikte (z.b. dass man gegenüber einem kuffar unmoralisch handeln könne, d.h. ihn bestehlen, belügen (auch hier gebe es einiges aufzuführen) etc – es ist kein Zufall, dass die sogenannten „arabischen Großclans“ (arabisierte Kurden) kein Problem haben, ihre Version des Islams mit ihren Handlungen, die mit dem Mainstream-Islam, wie er seit über 1.000 Jahren gelehrt wird, nichts zu tun haben. Und auch hier wie bei der Ahmadiyya wird die „politische Gewaltlosigkeit“ gelehrt, zumindest deklarativ nach außen hin. Allerdings operieren die ahbash größtenteils unter jeglichem Radar, es würde mich nicht wundern, dass die meisten hierzulande noch nie etwas von ihnen gehört haben.

    Wer ist stellvertretend/maßgeblich?

    Um aus der Sackgasse von essentialistischen orientalistischen Fehldeutungen auf der einen und „es gibt nicht den Islam“ auf der anderen Seite, empfehle ich einen Vortrag von Abdullah Keeler. Auch andere Akademiker (diesbezüglich explodieren die Veröffentlichungen, die denselben Umstand in unterschiedlichen Diskursbereichen der islamischen Tradition aufzeigen) haben das aufgezeigt, was er als „Große Synthese“ bezeichnet. Im Gegensatz zum europäischen Diskurs (z.B. Geist-Materie) der von einem zum anderen Extrem neigt, gab es im Traditionellen Islam im Groben drei große „Abteilungen“. Zum einen die Naturwissenschaftler, zum anderen die Theologen und Juristen und zum Dritten die Sufiten (die für Psychologie, Ethik und Esoterik zuständig waren).

    Dass es für den typischen Europäer schwer ist, den Islam zu greifen liegt daran, dass alle Disziplinen unabhängig voneinander operierten. Dazu ein paar Beispiel von Denkern aus der islamischen Welt und wie man sie hier sah. So las ich in einer deutschsprachigen Biografie über den großen Universalgelehrten al-Biruni (der den Radius der Erdkugel berechnete und dem was wir heute wissen sehr nahe kam) die Vermutung des Autors, dieser sei vermutlich „Agnostiker“ gewesen. Warum? Weil in seinen Werken, ob als Mathematiker, Astronom, Philosoph oder Historiker er sich rein empirisch und wissenschaftlich ausdrückte. Was dem Autor jedoch entging: Al-Biruni war außerdem ein islamischer Rechtsgelehrter. Aber jedes Fach und jedes Gebiet hat seinen Jargon. Dasselbe finden wir auch bei Fehleinschätzungen zu Ibn Ruschd, Ibn Haldun – zu al-Ghazali ohnehin. Thomas Bauer („Die Kultur der Ambiguität“) haben hat dies ebenso wie Ahmad Shahab andere Autoren detailliert aufgezeigt.

    Kompliziert für den Westeuropäer, wenn er nach einem maßgeblichen Vertreter oder Ansprechpartner sucht, dass nach dem Untergang der islamischen Systeme und dem heutigen Chaos und Durcheinander das nicht leicht ist. An dieser Stelle sei nur kurz darauf hingewiesen, dass Bildungseinrichtungen wie das Zaituna College in Berkeley (hier ein Beispiel einer „Einführung in die Logik“, basierend auf einem klassischen islamischen Werk) oder das Cambridge Muslim College (hier ein Beispiel aus dem aktuellen Serial „Paradigm of Leadership“) einerseits versuchen, alttradiertes, maßgebliches islamische Disziplinen zu bergen, andererseits – und das ist das Ziel – zu untersuchen in welchen Bereichen man etwas in der heutigen Zeit beizutragen hat.

    Die Neue Rechte wird dies freilich rundweg verneinen. Aber, wie ein arabisches Sprichwort sagt, „die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter.“ Um nur ein Beispiel zu nennen: In Harvard wurde in der Geschichte der westlichen Rechtskultur neben Athen, Rom und Jerusalem nun auch Medina aufgenommen schlicht als Ergebnis entsprechender akademischer Veröffentlichungen bzw. dem Wirken genau jener neotraditionalistischer Bildungseinrichtungen, die ich anführte.

    Der europhile neurechte Akademiker kann sich entscheiden. Entweder er behandelt in klassisch orientalistischer Manier den Islam als Objekt, und schreibt „darüber“

    (1) vgl. Caroline Elkins – Legacy of Violence: A History of the British Empire (2023). Dieses 900seitige Werk beweist eindrucksvoll, dass Egon Flair nicht aus ideologischen, sondern aus rein fachlichen Gründen „Gegen den Strom“ schwimmt (wobei man nach solch einer Lektüre dem Mann einen Rettungsring wünscht). Von Rashid Khalilis The Hundred Years‘ War on Palestine zu schweigen – das u.a. die ideologische Staffelübergabe vom Empire zu den Zionisten aufzeigt (Letztere Schüler der Ersteren, wobei sie zwischen 1946-1948 ein wenig ungeduldig gegenüber ihren Lehrmeistern wurden). Die klassische „Terra Nullius“-Politik der Kolonialmächte hatte vor Jahrhunderten praktisch die gleichen Ergebnisse wie aktuell das gelebte zionistische Credo „A Land without a people for a people without a land.“

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    • Oder? Das „oder“ fehlt.

      Danke für diesen Anriß. Es ist uns bewußt, daß das ein Meer ohne Ufer ist. Sie schwimmen darin, was auch eine Form der Ohnmacht ist. Ich würde es am liebsten meiden wollen. Durchaus auch, weil es – wie Sie sagen – zu kompliziert (für uns – aber wohl auch an und für sich) ist. Instinktiv reagiere ich eher mit innerer Unruhe auf solche Einblicke ins Unendliche. Und mit Abstoßung: aber es nützt ja nichts, „nun sind sie halt da“ und wir können uns nicht mehr in die Liebhaberei und Orientalismus flüchten. Ihr Text macht auch deutlich, daß wir nahezu machtlos vor der Vielfalt stehen, daß wir gar nicht verstehen können, was wir uns da aufgeladen haben. Würden wir wenigstens dieses Nicht-Verstehen oder Nicht-Verstehen-Können verstehen, dann könnte man zumindest eine Politik daraus ableiten. So sind wir selbst zu Objekten geworden, auch weil wir den Islam in unseren Grenzen nur als Objekt behandeln (können?).

      Will hier nur einen Punkt herausgreifen. Sie sagen sehr richtig: „Das „frühislamische Schisma“ hatte nicht wie im Christentum zur Zeit der Kirchenväter mit komplizierten theologischen Fragen zu tun, sondern kreiste um die Frage der Autorität.“

      Das war den Christen durchaus bewußt, daß die Theologie – im Begriff steckt bereits der Teufel des Spaltens, denn Gott und Logos werden getrennt – zugleich ihr Untergang sein wird wie auch die Garantie für eine lange Existenz.

      Es gibt in Jakob Knudsens theologischem Roman „Den gamle præst“ eine erhellende Szene. Die Kinder wählen sich Zahlen und gehen dann zum Vater: „Darüber konnten wir uns nicht einig werden, welche die beste dieser Zahlen sei, und ich wollte nicht anerkennen, daß die Zwei die geringere war. So gingen wir zum Vater um eine Entscheidung. Und er sagte, ohne nachzudenken: ,Die Zwei ist eine schlimme Zahl, das ist die Zahl des Teufels, das ist ja und nein‘. – ,Ja und nein – was ist das?‘ fragte ich, mir war ja angst geworden. ,Das nennt man auch Theologie‘, sagte er und lachte ganz leise.“

      Die Theo-Logie hat uns letztlich die Freiheit gebracht, aber sie hat auch Gott getötet und wird uns in den Abgrund reißen; dennoch war sie der Garant einer grandiosen 2000-jährigen Kultur, denn ihre Aporien haben das Geistesleben am Köcheln gehalten. Jetzt beißt sie sich mit der Lebenswelt.

      Der Islam ging exakt den anderen Weg und war just deswegen erfolgreich. Das Einfache schlägt das Komplexe. Aber auch er muß mit der Lebenswelt ringen, die sich wohl als die Siegerin erweisen wird. Und Siegen heißt hier verlieren. Ich würde nur gern im eigenen Saft ersaufen und nicht im fremden. Mehr kann man sich gar nicht mehr wünschen.

      Sie sehen: mir fehlt schon die Kraft, der fremden Ambiguität etwas anderes als Primitivismus entgegenzusetzen.

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      • Ich würde nicht sagen, dass die Theologie Gott getötet hatte. Aus dem einfachen Grund, da es sehr wohl Theologie in der islamischen Welt gab, in der alle möglichen komplexen Fragen behandelt wurden, mehr noch, sie überhaupt die Entwicklung der christlichen Scholastik ermöglichte. Die Behauptung, der Islam habe sich aufgrund seiner kargen Einfachheit gehalten, ist heute in keiner ernstzunehmenden Universität, die sich damit beschäftigt, haltbar. Der entscheidenden Punkt, wieso sich Europa und die Islamische Welt anders entwickelten, lag an zwei Dingen sowie einem weiteren Faktor, den ich weiter unten kurz anführe 1. Die von mir erwähnte „Ambiguitätstoleranz“ und die daraus sich ergebende Mentalität. Daraus ergab sich 2. Der unterschiedliche Lösungsansatz zu denselben aufgeworfenen Problemen. Sowohl Ghazali als auch Descartes formulierten nach einem radikalen Zweifel ein „Cogito ergo sum“. Nun fand Ghazali die Lösung in der Beherrschung des Egos und der Reinigung des Selbst (um sich auch von möglichen Fehlurteilen, die sich einschleichen könnten), Descartes landet letztlich beim Materialismus. Es gibt einige Autoren, die Descartes (sein Mathelehrer übersetzte Werke aus dem Arabischen) des Plagiats bezichtigten. Schon Bertrand Russell wunderte sich, wie Descartes aufgrund seines Lebensstils in der äußerst knappen Zeit, die er fürs Schreiben aufwendete (noch dazu war der Mann kälteempfindlich, was sich tödlich für ihn auswirkte) soviel und das in jungen Jahren herholte. Die islamische Welt war eine Zivilisation, die über einen langen, sehr langen Zeitraum eine enorme Menge an Texte in allen Bereichen des Wissenserwerbs produzierte. Und es wurde penibel darauf geachtet, wer was von wem zitierte, durch Kommentare ergänzte und so weiter. Es ist also sehr gut dokumentiert, während Leute Descartes („die moderne Philosophie beginnt mit ihm“ heißt es bekanntlich) oder Leibniz (bei dem wiederum belegt ist, dass er unterschlug, wieviel er tatsächlich von Spinoza inspiriert wurde) scheinbar aus dem Nichts erscheinen.

        Alles, womit sich die christliche Theologie in ihren Glanzzeiten beschäftigte, findet sich ebenfalls in der islamischen Diskurstheologie. Mit Ausnahme vielleicht der Theodizee, da das Problem des Bösen bereits in den Hauptquellen ausführlich erläutert ist. („grenzenloses Meer“ ist tatsächlich ein wörtlicher Ausdruck Ghazalis für den Qur’an) Er beendete nicht die Philosophie im Islam, vielmehr widerlegte er argumentativ den Aristotelismus. Das arabisierte Wort „faylasuf“ (Philosophie) aus dem Griechischen entlehnt bezeichnet tatsächlich nur eine bestimmte philosophische Denkschule. Philosophie wurde jedoch weiterhin gelehrt, firmierte jedoch unter dem arabischen Wort für Weisheit, „Hikm“, und das auf hohem Niveau. Vor einiger Zeit stieß ich bsp. auf eine eine öffentliche Diskussion am Hofe Timur Lenks (also 300 Jahre nach Ghazali), indem ein at-Taftazani (ein klassischer orthodoxer Theologe) seinem mutazelitischen Gegner (rationalistische Denkschule, ziemlich kausalitätsfetischistisch, die den freien Willen betonte) bzw dessen aristotelische Kosmologie mit Leukipp/Demokrits Atomtheorie widerlegte. Solche Debatten wurden staatlich gefördert und waren Standart, solange die islamische Zivilisation wirtschaftlich florierte und man sich solche Bildungssysteme und Forschung leisten konnte. Die allmählich und schleichende Rückständigkeit war keine Folge religiösen Fanatismus sondern hängt sehr viel mehr mit dem Aufstieg Europas in Folge der Entdeckung Amerikas zusammen. Hierzu sehenswert ein aktueller Vortrag/Präsentation: „A History of Islam and Science“.

        Buchempfehlung zu dem Thema (die Mehrzahl der Übersetzung aus dem Arabischen fand in der zweiten großen Welle statt: der Renaissance und dauerte lange, sehr lange.

        Metaphysische Debatten seien sinnlos, insbesondere wenn m

        Vielleicht ist es hilfreich zu wissen, dass es einen Grund gab, wieso Aristoteles so sehr in der islamischen Welt geschätzt wurde: weil das, was man an Werken von ihm vorfand, altvertraut klang, genauer: nach dem was man von der eigenen Lehre kannte. Wenn man sich Abu Hanifa – den Gründer der ersten der vier Rechtsschulen – ansieht (zur seiner Zeit waren die Hadithsammlung nicht vollendet), dessen Schule führte das Element des Qiyas ein: der Logik die der Aristoteles sehr ähnelt Ohne etwas vom antiken Patriarchen gehört zu haben (die Übersetzungsbewegung setzte eine Generation nach ihm ein). Vor allem wegen seiner Logik und seiner Ethik (goldene Mitte klang ähnlich wie die quranische Losung der „Weg der Mitte“) wurde der Hellene hochgeschätzt. Ähnlich verhält es sich bei Sokrates. al-Farabi und einige andere vertraten gar die Meinung al-Sukrat sei ein Prophet gewesen. Die griechische Philosophie wurde sowohl bei den Mogulen als auch bei den Osmanen und den sawafiden weiterhin diskutiert und gelehrt.

        Zum möglichen Nutzen: Verbinden sie das mit dem, was sie zum Thema Links-Rechts schreiben, um das zu veranschaulichen. Stellen sie sich eine Zivilisation vor, in der sich diese beiden Prinzipien nicht spinnenfeind gegenseitig bekämpfen, sondern zwar untereinander auch diskutiert wird, jedoch – vom Staat gefördert – man beide Ansätze studieren/lehren/vertreten kann ohne das jeweils eine herrschende Agenda die andere versucht auszumerzen. Und keine Buchtitel auf dem Index landen. Eine Zivilisation, die so etwas über einen sehr langen Zeitraum handhaben konnte (vgl. verlinkte „Misan-Thesis“) war vieles, aber sicherlich nicht primitiv.

        @ Sie sind nun mal hier

        Ja, das ist ein gesonderte Baustelle. Fürs erste wäre ich zufrieden, wenn dem einen oder anderen der Widerspruch zwischen der Forderung nach Remigration und der Solidarität mit Israel auffallen würde – bzw. womöglich einleuchtet, dass – wenn man Menschen wie Tiere behandelt daraus bestialisches entsteht. Und womöglich leuchtet dem einen ein, dass ein Volk, das seit 100 Jahren (die Briten zuvor bevorzugen die zionistischen Neuankömmlinge und benachteiligten auf allen Ebenen die einheimische Bevölkerung. Ich bin weit davon entfernt, eine „das habt ihr nun davon, die Massenmigration habt ihr selbst mit verschuldet“-Einstellung an den Tag zu legen. Hierin liegt ein weiterer Nutzen des akademischen Sunni-Revivals: In der Rekultivierung und Deradikalisierung der Neuankömmlinge. Oder, um es mit dem Autor, dessen Werk ich – da sich endlich ein Verlag gefunden hat – mich verpflichet habe, bis Oktober zu übersetzen: „Entfremdung kann nur durch Authentizität geheilt werden.“

        Fürs erste wäre es – auf politischer Ebene – vielleicht nützlich zu erkennen, dass die verzehnfachung des deutschen Waffenexports nach Israel womöglich kontraproduktiv ist, denn Massenmigration ist für jede Gesellschaft ein Problem. Bemerkenswerterweise hört man von vielen Türken wie auch von Balkanesen nahezu dieselben Klagen über junge kriminelle und auf öffentlichen Plätzen von Istanbul oder Sarajevo herumlungernde Syrer oder Afghanen, die sich unkultiviert benehmen wie man es hierzulande hört und sieh.

        P.S.

        Die vielen von mir angegebenen Quellen sollen nicht irgendwie „erschlagend“ sein, vielmehr fehlt mir aufgrund Schreibprojekten und entsprechenden vereinbarten Fristen die Zeit für tiefere Diskussionen, daher auch die Überlänge meiner Kommentare (ich bitte um Nachsicht). Die Links sollen lediglich eine Art „Diskurspartner“ darstellen.

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      • Ergänzend will ich sagen: Sie haben völlig recht! Vielleicht ist jedoch „Zugänglichkeit“ – nicht Einfachheit alleine – der entscheidende Unterschied. Sowohl im Christentum als auch im Islam gab es unterschiedliche Ebenen. Wer bitte beschäftigte sich mit Theologie? Doch wohl nur ein erlesener Kreis, das galt hüben wie drüben. Die Masse lebte und verstand Religion anders.

        Es gab den „Islam der Theologen“, die sich mit metaphysischen Dingen beschäftigten, die den Bauernschlauen Normalsterblichen allenfalls zu Kommentaren wie „das wird die Welt auch nicht retten“ veranlassen würden, hätten man sie gezwungen, diese Texte zu lesen. Dann gab es den „Islam der Rechtsgelehrten“ mit ganz eigenem Diskurs. Man kann sich schwerlich vorstellen, dass bsp. ein solcher Geist wie Ibn Rushd sich in seiner Rolle als Jurist mit Dingen Fragen beschäftigte wie „Muss der Fastende seine Absicht (Niyya), dies im Namen Gottes zu tun, die man innerlich oder in Form eines kurzen Bittgebets ausdrückt, jeden Tag vor Sonnenaufgang im Ramadan formulieren oder reicht es, dies nur einmal am Beginn des Fastenmonats?“

        Aber eben auch das tat er. Und dann wiederum – und das war über die längste Zeit der Islam der Massen – gab es die Sufik. Der Rechtsgelehrte, der Theologe oder der Prediger vermittelten einem die Theorie. Doch die Sufis waren die Fahrlehrer für den praktischen und damit wesentlichen Teil. (Buchpräsentation, Kurzvortrag und ab Min. 36 lehrreiche Diskussion).

        Mit anderen Worten: Der Islam war umfassend genug, um jeden einen ganz eigenen Zugang zu bieten, ob einfach oder komplex. Ob das akademische Projekt, aus dem „war“ ein „ist“ zu machen, zum Scheitern verurteilt ist, steht freilich auf einem anderen Blatt bzw. für den Theisten ist es völlig unerheblich ob er nach materialistischen Maßstäben im Diesseits Erfolg hat.

        Ich erwähnte eingangs „Zugänglichkeit“. Es gab europäische Historiker wie Hillaire Belloc – beileibe kein Islamophiler -, die genau diesen Punkt für die erfolgreiche Ausbreitung des Islams erkannten: Es gab keine Priesterkaste, die den Zugang zur liturgischen Zeremonien und letztlich zur Gnade Gottes in ihren Händen hatten, noch dazu kaum einer Latein sprach. Im Islam kann praktisch jederman(n) das Gebet leiten, es reicht aus, die Fatiha und eine kurze Sure auswendig zu können. Und das in einer Zivilisation, in der das auswendig-Lernen des Qurans gepflegt wurde quer durch alle Bevölkerungsschichten hindurch (in Marokko hat sich das – als traditiertes „Massenphänomen“ – bis heute erhalten). Zu dieser „Zugänglichkeit“ gesellt sich auch die Authentizität: Die Riten sind bis heute unverändert und die Leute lesen immer noch denselben Qur’an.

        Mit den Worten des katholischen Autors Martin Mosebach aus einem Interview:

        Nichts ist so berührend, wie einem muslimischen Großvater dabei zuzusehen, wie er seinem Enkel das Beten beibringt. Der alte Mann kniet auf dem Teppich, das Buch vor sich, neben ihm der Junge, ebenfalls kniend, das weiße Mützchen auf. Der Großvater verbeugt sich, der Junge schaut ihm zu, macht es nach. Das ist die schönste Gestalt, die religiöse Tradition annehmen kann.

        SZ: Auch in Kirchen beten und singen die Menschen gemeinsam.

        Mosebach: Aber in der westlichen Welt haben die Menschen das Knien verlernt. Stattdessen wird auf lächerliche Art und Weise das Bild des mündigen Christen propagiert. Wenn es Gott gibt, ist es das einzig Vernünftige, sich vor ihm niederzuwerfen. Und der Anblick von Muslimen, die vor Gott auf die Knie gehen, ist mir da ein unendlicher Trost.

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        • Michael B. schreibt:

          Das ist die schönste Gestalt, die religiöse Tradition annehmen kann.

          Fuer mich mit die Unangenehmste. Die Unterwerfung eines Kindes, es reicht schon das Falten der Haende zu diesem Eindruck.

          Wir sind aus dem als allgemeines Modell heraus und ich brauche keine Neues, welches das auch noch mit anderer Unerbittlichkeit einfordert.

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    • Ergänzung, da der Satz unvollständig war:

      Der europhile neurechte Akademiker [im Allgemeinen] kann sich entscheiden. Entweder er behandelt in klassisch orientalistischer Manier den Islam als Objekt, und schreibt „darüber“ oder er versucht tatsächlich herauszufinden, wer denn evtl. als Ansprech- oder Diskurspartner zu finden ist. Anders gesagt: Mit welchen Leuten aus Gruppe x, zu der ich im Begriff bin, mir eine Meinung zu bilden, habe ich zu tun.

      Es macht selbstverständlich einen Unterschied ob in Berlin-Gesundbrunnen meine unmittelbaren Nachbarn aus der Levante und die dritte Generation von Menschen sind, die in Flüchtlingslagern aufwuchsen oder ruhige, zurückhaltende Indonesier in Amsterdam. Es macht einen Unterschied, ob das einzige, was ich an halbwegs intellektuellen aus der muslimischen Welt lese, sehe oder höre entweder auf den Niveau von Zakir Naik (der kein arabisch spricht!) , den „Salafisten“ oder eben der Ahmadiyya fußt. Und man daraus folgert, dass intellektuell das ist, womit Europa überrollt wird.

      Nun ja, ich sprach das Problem der „akademischen Blase“ bereits an, was damit zu tun hat, dass es die neotraditionalistische Sunni-Revival Schule fördergeldmäßig nicht leicht. Die reichen Golfstaaten fördern mit ihrem Geld eine ganz andere Agenda und der westeuropäisch-angelsächsische säkulare Hegemon ist nicht wirklich daran interessiert, eine mögliche ergänzende Alternative – in welchem Segment auch immer – als seinem eigenen „alternativlosen“ Modell. Hierzu eine lehrreiche Diskussion auf einem empfehlenswerten Kanal.

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