Konsequent praktizierter Egalitarismus

Die Krisenwirtschaft zeigt, daß Ansprüche sich von selbst reduzieren, sobald die Lager leer sind.

Ein Gutteil der DDR-Witze beruhte auf der Aufdeckung von Konsumansprüchen im Zeitalter der leeren Kaufhäuser. Diesen hier erzählte mir ein bekannter DDR-Theologe: Geht ein Mann ins Kaufhaus und möchte Bettwäsche kaufen. Sagt der Verkäufer: »Da sind Sie bei mir falsch. Bei uns gibt’s keine Handschuhe. Keine Bettwäsche gibt’s im dritten Stock.«

Frankfurter Studenten hatten einen lichten Moment, als sie vielleicht vor zehn Jahren ein Transparent mit der Aufschrift »Reiche Eltern für alle!« durch die Universität trugen.

Ein Großteil der heute geführten Diskussionen hat mit den unbegriffenen Effekten der universalistischen Logik zu tun. Sobald man radikale Gleichheitsforderungen verwirklicht sehen möchte, also sobald Sätze, die im Modus der Chance formuliert sind, in den Modus des Rechtsanspruchs überführt werden, entstehen Paradoxien, aus denen unsere ideologischen Leitsysteme nicht herausfinden.

Das frühe Christentum und die Weisheitslehren des Stoizismus kannten einen Ausweg: Ihre universalistisch grundierten Heilsangebote wurden von vornherein in der Gewißheit vermittelt, daß nur einer von zehn oder zwei von hundert sie innerlich annehmen werden. Alle anderen bleiben lenkbare Schafe in der Herde des Universalismus. Wirklich universal dachte nur die Elite der Nicht-Elitären.

Erinnern Sie sich an den Pfarrer, der auf die Frage, wie es möglich sei, daß so ein großer Gemeindesprengel eine so kleine Kirche habe, antwortete: »Wenn sie nicht alle reingehen, gehen sie alle rein. Aber wenn alle reingehen, gehen sie nicht alle rein.« Was heißt: In jedem Universalcode ist eine Ausschließungsregel enthalten, die vom Alltagsverstand stumm akzeptiert wird.

Konsequent praktizierter Egalitarismus geht in Pöbelei über – oder, wie bei den Roten Khmer, in Terror. Heute sieht man, wie die Wachsamkeitsaktivisten gegen Benutzer problematischer Vokabulare vorgehen.

Sag beiläufig »negro«, und du hast mehr Verneiner am Hals als ein Reisender Mücken in einer finnischen Sommernacht.

Unsere Gleichheitskultur erzeugt wachsende Spannungen auch im Alltäglichen; doch wo Aktion ist, kann Reaktion nicht fehlen. Ich glaube zum Beispiel nicht, daß es in Deutschland heute gelänge, Schuluniformen einzuführen – wenngleich einiges für sie spräche. Die Schule soll ja als Schule der Egalität fungieren. Es ist ihr Auftrag, die ihr Anvertrauten mit Gleichheitsgedanken und -gefühlen zu versorgen. Die Individualisierung ist aber schon viel zu weit fortgeschritten. In den Mädchenklassen ab vierzehn fällt in manchen Vierteln jeder Schulbesuch mit einem Kosmetik- und Bekleidungswettbewerb in eins.

Peter Sloterdijk – irgendwo (ich habe leider vergessen, wo ich das aufgeschnappt, gelesen oder gehört habe; wenn jemand die Quelle kennt, bitte eine Nachricht senden)

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