Lange Wanderung mit den Syrern – ich mache es kurz. Nur ein paar Schlaglichter.
Kaum von der Hauptstraße abgebogen – auf der sich zufälligerweise auch die größte Erstaufnahme befindet – in ein kleines Garten- und Einfamilienhausgebiet, hält neben uns ein großer Wagen, werden wir gefragt: „Na, ihr habt euch wohl verlaufen?“ Man mag die Dunkelhäutigen nicht in den besseren Vierteln und man ist sie dort auch nicht gewöhnt. Kurzes Erstaunen des Dicken im Auto – ein Lokalpolitiker –, als ich in perfektem Deutsch antworte. „Männertag ist vorbei“, sagt er. „Man kann auch an anderen Tagen wandern, in diesem Land“ und Abfahrt.
Das Thema zieht sich freilich durch den gesamten Tag. Das erste warme Maiwochenende lockt viele Menschen in die Natur. Immer wieder begegnen uns abweisende, vornehmlich männliche Blicke. Araber im Stadtzentrum sind mittlerweile Alltag, Araber inmitten der Natur wirken befremdlich und scheinen als unerlaubtes Eindringen und Landnehmen empfunden zu werden.
Besichtigung einer alten Windmühle mit Führung. Beeindruckende Technik, alles aus Holz und genial konstruiert. Hussain ist begeistert, Khaled simst derweil seiner Verlobten.

Deutsche Ingenieurskunst aus arabischer Perspektive
Wir singen Wanderlieder und rezitieren den Osterspaziergang. Khaled beginnt, die deutsche Nationalhymne zu intonieren. Hussain übernimmt, singt den ganzen Text fehlerfrei herunter. Nur die Melodie geht schnell verloren und wird durch einen typisch arabischen tremoloartigen Singsang ersetzt. Zum Schießen! Vielleicht war ich Zeuge der Geburt der künftigen Hymne, ein Mix aus Fatiha und Fallersleben.
Neben Islam, Deutschland und Syrien sprechen wir auch über Pflanzenkunde. Immer wieder zupfe ich ein Blatt – junge Buche, Schaumkraut, Löwenzahn, Tannenspitzen, Spitzwegerich, Knoblauchrauke, Schlehenblüte, Brennessel, Gänseblümchen, Sauerklee, Sauerampfer usw. – und stecke es in den Mund. „Alles essen!“, lacht Khaled jedes Mal auf. Ich muß ihn bremsen, sich wahllos Pflanzen in den Mund zu stopfen.
Auf dem Weg repetiert er: Schlehe, Raps, Löwenzahn, Beinwell, Kastanie immer schneller, bis in seinem Munde alles nur noch ein Pflanzenbrei ist.
Eine wunderschöne einsame Tulpe steht am Wegrand. Er solle ein schönes Photo für die Verlobte machen, schlage ich vor. Statt sich neben der Schönheit niederzuhocken, reißt er sie zu unserem Entsetzen ab und hält sie lachend vors Gesicht.
Khaled nach zwei Stunden straffen Marsches: „Deutsche Chef (meint mich) keine Pause, arabisch Chef nach ein Kilometer Pause, dann ein Kilometer und wieder Pause …“

erste Pause: Katze scharf auf Chubz (arabisches Fladenbrot)
Unterwegs treffen wir eine andere kleine Wandergruppe: eine mir bekannte Flüchtlingshelferin geht mit einem Afghanen wandern. Sie fragt, ob ich eine 17-köpfige Gruppe von Afghanen unterrichten könnte – 15 bis 25 Jahre, vom Analphabeten bis gut Ausgebildeten.
Suche nach einem geeigneten Gebetsplatz im Dickicht. Man darf bei Wanderungen zwei Gebete zu einem zusammenziehen. Diskussion über die Gebetsrichtung, ohne Mekka-App. „ER wird es euch vergeben“, sage ich, aber nein, es muß alles stimmen.
Wir übersehen das Vogtland in voller Weite, der Himmel ist offen und frei. Khaled breitet die Arme aus und ruft: Alles meine Heimat! (In drei Tagen verläßt er uns und zieht Richtung Heilbronn.)
Ich erwähne die Bismarcktürme. Khaleds Augen strahlen. „Bismarck gut, Bismarck wie Hitler“, sagt er. Die alte Vorliebe für den starken, den eisernen Mann. Kurzer Stopp mitten auf der Treppe, Geschichtsminute: „Bismarck war … und einte Deutschland durch drei Kriege gegen …“ Zu meiner großen Überraschung ergänzt Khaled wie aus der Pistole geschossen: „Dänemark, Frankreich und Italien“. Letzteres ist entweder falsch oder zeugt von echtem, partiellem Geschichtswissen.

Auf dem Mosenturm über der Talsperre
Auf dem Mosenturm. Von dort überblickt man die Talsperre. Direkt gegenüber der FKK-Strand (leer). Ich erkläre ihnen, was FKK bedeutet. Hussain übersetzt, Khaled kann nur lachen bei der Vorstellung. Für Hussain aber ist es falsch, verkehrt, nicht richtig. Warum? Ist es nicht unsere Natur, sind wir nicht nackt geboren, ist Kleidung nicht nur Konvention …? Nein, das geht nicht. Wir sind keine Tiere. Nacktsein ist wie ein Tier sein.
Nach 20 km gibt es Magnesiumtabletten; Hussains Knie schmerzen. In Mazedonien und Ungarn mußte er 40 km am Stück gehen – ohne Magnesium und ohne „deutschen Chef“.
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