Die Kraft des Lokalen

Denkanstoß Sloterdijk XIV

Daß der Lokalismus nicht reaktiver Natur ist, sondern als Affirmation der schöpferischen Ausdehnung-am-Ort verstanden werden muß, zeigt sich beim Hauptgeschäft des demokratischen Lebens, der Rekrutierung der Bürger durch ihre Bürgerschaft für die „öffentlichen Aufgaben“. Was seit der Wiederkehr der Städte im europäischen Spätmittelalter die Stadtbewohner zur Mitwirkung am Gemeinwesen einberuft, ist das örtliche Kraftfeld, in dem sich die agilsten Verfolger eigener Interessen mit einem Male als cittadini, als citizens, als Bürger, als citoyens, das heißt als Träger eines gemeinsamen Interesses und einer überschießenden Animation entdecken. Politisch ist das örtliche Kraftfeld nicht, sofern in ihm Kollektivkräfte zirkulieren – sonst wäre die Politik nur die Emanation von lokalen Unruhen und Perfidien; es ist politisch, sofern das Gemeinwesen, die Stadt oder die Nation (vielleicht auch die Nationengruppe), die Realisierung eines an seinem Ort verkörperten Willens ist, mittels der ausgestrittenen Differenz von Meinungen und Leidenschaften erkannte Aufgaben zu lösen und gefundene Lösungen der Nachprüfung zu unterziehen. Dies gelingt nur, wenn der politische Ort sich lokalegoistisch und lokalenthusiastisch zugleich in die Zukunft projiziert – das heißt, wenn der Ort stärker ist als die Ideologien und die bürgerliche Kommune attraktiver bleibt als die multinationalen Sekten, die nach dem Staat greifen. Wenn ich nicht provinziell empfinden kann, kommt Politik als Beruf für mich nicht in Frage. Die res publica funktioniert nur als Parlament der Ortsgeister. Bürgergesellschaften verwahrlosen schnell, wenn sie den durchreisenden Ideologen und Sektenführern in die Hände fallen. …

Was den spekulativen Kapitalismus als abstraktes invasives Erfolgsprogramm angeht, so wird man seine aktuellen Exegeten auffordern müssen zu beweisen, daß sie keine Anhänger einer global operierenden Sekte sind. … Die Lebensform „demokratische Nation“ überlebt nur, wenn sie die Semantik des Eigeninteresses und der Selbstpräferenz mit der Semantik der Freiheit für anderes und des Ewig-zu-geben-Habens zum Ausgleich bringt. …

Somit taucht aus dem entfalteten Begriff des Lokalen eine Gruppe von Merkmalen auf, die den Abstrakt-Progressiven die Röte ins Gesicht treibt. Was unter dem Druck des konfusen Universalimus durch Gegendruck geklärt in Sicht kommt, ist das Ausgedehnte des erfolgreich geführten Lebens, das nicht wird, wie es werden kann, ohne immun, selbstpräferentiell, exklusiv, selektiv, asymmetrisch, protektionistisch, unkomprimierbar und irreversibel zu sein. Dieser Katalog klingt wie die Zusammenfassung eines rechtsradikalen Parteiprogramms; in Wahrheit bietet er die Liste der Charakteristika, die der Infrastruktur des Werdens in realen Humansphären inhärieren. Sie gehören zu den Merkmalen des endlichen, konkreten, eingebetteten und überlieferungsfähigen Daseins. Um noch einmal die Redeweise der Ontologie zu bemühen: Das Ausgedehntsein am eigenen Ort ist die gute Gewohnheit zu sein.

Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt 2005. S. 411ff.

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