Ontologie der Raumfahrt

Wie fast immer, wenn ich Sloterdijk lese, spielen die Synapsen verrückt, kommt man auf Ideen, die man sonst nie gehabt hätte, ertappt man sich bei seltsamen Entrückungen und Gedankenraumfahrten, die man meist wieder vergißt …

Diesmal arbeitete der Satz: „Auf die künftigen Raumfahrer wartet ein anderer Tod, eine Nicht-Beerdigung im Bodenlosen“ als Startrampe des Tagtraumes.

Stellen wir uns eine Marsmission vor, die ihr Ziel verfehlt oder eine andere Phantasie – im Grunde genommen ist das alles in Film und Literatur schon viele Male durchgespielt worden. Aber hat man sich auch die ontologische Frage gestellt? Was bedeutet es denn, wenn ein Mensch auf einem anderen Planeten oder auch wenn ein Vulkanier auf der Erde stirbt? Oder in einem Raumschiff, das ewige Zeiten im All schwebt, bis es irgendwann, vielleicht nach Millionen Jahren irgendwo doch zu „Boden“ geht, im Hitze- und Wellenmeer eines sterbenden Sternes „verglüht“ oder spätestens beim Untergang des Universums wer weiß wohin verschwindet?

Die liturgische Formel bei Bestattungen „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“ – das ist komplett irdisch gedacht. Aber auf dieser Vorstellung beruht unser gesamtes Denken und Sein. Daß wir es – zumindest schon theoretisch – dahin gebracht haben, es möglich zu machen, daß Menschen nicht auf der Erde sterben und nicht zu Erde, Asche oder Staub werden, ist unerhört, ist skandalös.

Was, wenn die Raumfahrer in ihrer Kapsel sterben und ins offene All fliegen. Die sterblichen Überreste könnten noch „da sein“ – aber wo ist „da“? – wenn kein Mensch mehr existiert, wenn vielleicht kein Leben mehr auf unserer Erde existiert, wenn hier alles nur noch Erde, Asche und Staub ist?

Werden die Leichname dennoch zerfallen? Mikroben gibt es genug, auch in steriler Umgebung, und zwar in den Gedärmen der Menschen. Viele davon werden absterben, aber einige mögen eine Weile weiterleben und sich über ihren Träger hermachen. Oder aber die Herrschaften werden mumifiziert und fliegen als Wachspuppen ins Endlose.

Vielleicht wird ihr Raumschiff irgendwo von der Schwerkraft eines Planeten oder eines Meteoriten angezogen und wenn es nicht dabei verglüht oder auf Stecknadelgröße komprimiert wird, dann kann man sich vorstellen, daß menschliche und maschinelle Überreste in vollkommen fremder „Erde“ be“erdigt“ werden. Wir haben gar keine Begriffe dafür.

Wir haben ja noch nicht mal adäquate Begriffe für das, was wir tun, denn sie alle sind irdisch gedacht: Raumschiff, das ist marin. So auch der Astro- oder Kosmonaut. Raumfahrt – das ist klassische Mobilität. Rakete – das ist Handwerk. Sonde – das ist das Lot. … Wir haben keine Sprache der Raumfahrt, wir können nicht mal entsprechend darüber reden, geschweige denn denken.

Wir machen es, wie immer in der Geschichte: mit falschen Begriffen konstruieren wir falsche Vorstellungen, die dennoch etwas erreichen, irgendwie funktionieren – oder auch nicht.

4 Gedanken zu “Ontologie der Raumfahrt

  1. Pérégrinateur schreibt:

    Backen wir doch erst mal kleinere Brötchen! Es ist unsinnig, gleich damit anzufangen, menschlichen Leichen in fremde Sternsysteme zu schaffen oder in fremden Sternsystemen zu schaffen. Stattdessen sollten wir bescheidener erst mal gewisse Personen nur auf den Mond schießen. Wenn auch das noch zu teuer ist, so geben wir beispielsweise der kriegswütigen Frau Strack-Zimmermann einen Leopard-Panzer, solche sind schon für 4 Millionen zu haben, und lassen sie dann heroisch für die Ukraine kämpfen. Wenn sie Fortune hat oder wir Glück, schafft sie es vielleicht sogar bis nach Sibirien.

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    Wenn man vom Gedanken an menschlichen Tod in erdfernen Gefilden so angerührt ist, so nur, weil man in der Gattungshybris befangen ist, von der zugegebenermaßen schwer loszukommen ist. Als ob die Welt nach dem Maß unser Wünsche oder auch nur Vertrautheiten eingerichtet sein müsste! Ansprüche, Bedeutung, Sinn, Werte aus der Sicht einer Tierart, die auf der dünnen Biosphäre eines verlorenen Planeten in einer von Millionen Galaxien herumkriecht – all diesen menschlichen Gespinsten gegenüber ist die Natur gleichgültig. Und selbst diese Aufforderung zur Nüchternheit ist appellativ wirksam nur schwer zu formulieren ohne die personale Metapher für die Natur, also ohne doch wieder die Erden- und Menschenschwere hineinzubringen.

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    Notre vie est un voyage
    Dans l’hiver et dans la nuit.
    Nous cherchons notre passage
    Dans le ciel ou rien ne luit.

    (Céline, Voyage au bout de la nuit, Motto)

    Seidwalk: Aber es geht doch exakt um die Bloßstellung dieser Hybris, für die wir weder Begriffe noch das erkenntnistheoretische Werkzeug haben.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Das ist aber alles nichts Neues, siehe z. B. Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Trotzdem kommen bestimmte, die Menschen offenbar ansprechenden Themen immer wieder.

      Z. B. die Willensfreiheitsdebatte aus Anlass der Libet-Experimente, obgleich diese doch nur eine experimentelle Illustration eines Arguments sind, das man rein theoretisch auf Basis des (auch quantendynamisch modifizierten) Weltbildes vorbringen kann: Wenn es in unserem Gehirn wie auch immer nach naturwissenschaftlichem Gesetz zugeht, dann trifft es eben der Spruch Nietzsches „Der Mensch hat ein Nervensystem, aber keine Seele“ genau. (Man kann freilich versuchen sich herauszureden, indem man Unvorhersehbarkeit Freiheit nennt.)

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      • Nevem van schreibt:

        «…, dann trifft es eben der Spruch Nietzsches „Der Mensch hat ein Nervensystem, aber keine Seele“ genau.» Riechorgane bitte bei der Raumfahrt extra berücksichtigen. Wenn einander Besatzungsmitglieder nicht gut riechen können, wird es sogar zu einem Mord im Orient-Express kommen. Als in Reisezügen noch geraucht wurde, roch es dort weniger unangenehm als später (seit 2007?) unter Rauchverbot, fällt mir (Nichtraucher) gerade ein. Was menschliche Überreste betrifft, kann ich mich kurzfassen: die Hälfte von Großstadtbewohnern wünscht sich anonyme Beisetzung laut Predigt in einer r.k. Messe zu Allerseelen 2023. Monsignore erinnerte alle drei Dutzend Teilnehmer daran, dass sie an die unsterbliche Seele aller Menschen glauben (sollen).

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        • Pérégrinateur schreibt:

          Im Zuge der immer mehr um mich greifenden Beerdigungen konnte ich den Auftritt vieler Pfarrer beobachten. Sie handelten erkennbar nach dem Motto „Jetzt habe ich euch endlich mal da. Und jetzt erkläre ich euch, was ihr eigentlich glaubt – aber leider nicht mehr wisst.“

          Der Großstädter sind der mobilste Teil der Bevölkerung, doch auch auf dem Dorf ziehen die Kinder, selbst wenn sie auf dem Land bleiben, oft woandershin. Die Alten können also kaum persönliche Pflege ihres Grabes erwarten, da ist ihnen eine anonyme Grabstelle noch lieber als ein ungepflegtes Grabe oder eines, dessen Pflege die Hinterbliebenen kräftig für beauftragte Gärtner kostet. Zumal zumindest in meiner Herkunftsregion die Erwartung besteht, über drei Jahreszeiten immer etwas Blühendes auf dem Grab zu haben. Ich hatte auf denen meiner Angehörigen kleine Wälder eingepflanzt und wurde dafür hintenherum, aber auch ins Angesicht kritisiert. Dass ich einer der Damen dann gekontert habe, ich verstünde nicht, wieso man denn auf dem Friedhof unbedingt nackte Sexualorgane von Pflanzen ausstellen müsse, hat es nicht besser gemacht.

          Wen täuscht denn die Unsterblichkeitsillusion ständig blühender Gräber noch? Wieso müssen Gräber kleine Privatanwesen sein?

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