Sprache und Identität

Ungarische Sprache und Identität II

Fortsetzung von: Kann Sprache denken?
Gesamter Text als PDF: Ungarische Sprache und Identität

Der von Heidegger aufgeworfenen Frage nach der „Tiefe und Gewalt der Existenz des Volkes und Stammes, der die Sprache spricht und in ihr existiert“ muß das Ungarische nicht ausweichen.[1] Ihre Spuren lassen sich 6000 Jahre in die uralischen Sprachen zurückverfolgen, vor 3000 Jahren begann seine Eigenexistenz im Urmagyarischen, als sich im Zuge der Wanderungsbewegungen der finnougrische Sprachstrom aufteilte.

Damit ist Ungarisch zusammen mit seinen europäischen Verwandten (Finnisch, Estnisch, Samisch – man versteht sich nicht) die älteste, ununterbrochen genutzte Sprache Europas, die zudem, verglichen mit den anderen Sprachen des Kontinents, eine größere linguistische Kontinuität, also weniger Veränderungen, aufweist[2] und reich an sprachlichen Relikten ist. Dies gilt selbstredend auch für den Träger dieser Sprache: Das ungarische Volk ist historisch älter als die großen europäischen Völker.

Das Leben der einstigen Nomaden, die später seßhaft wurden, Landwirtschaft und Viehzucht betrieben, um danach aufgrund einer Erderwärmung erneut Nomaden zu werden, ist noch heute in der Sprache der Ungarn präserviert.[3] Man kann es anhand jener auffallenden Begriffe rekonstruieren, die ich Urwörter nenne. Schon Platon ging im Kratylos von der Existenz der Stammwörter aus, die man an ihrer Onomatopoesie erkennen könne. Auch im Ungarischen mag das bis heute funktionieren, vor allem aber deutet ihre Kürze darauf hin: sie sind einsilbig, meist nur aus einem Konsonanten und einem Vokal geformt, nicht weiter in Morpheme teilbar.

Es sind offensichtlich Begriffe, die den Urmagyaren wichtig waren, in ihnen spiegeln sich die damaligen Produktionsverhältnisse wider, sie sind noch immer Grundlage für viele Ableitungen[4]; zwischen den beispielhaft aufgereihten Begriffen können sprachhistorisch Jahrhunderte liegen: (Pferd), eb (Hund), (Schnee), íz (Geschmack/Glied), (Stein), fa (Baum/Holz), (Gras), (Stamm), (Kopf), ár (Flut/Ahle), ér (Ader) ín (Sehne), (schießen), öv (Gürtel), öl (Schoß), (Frau) u.v.m.

Letzteres, , kann auch als Verb genutzt werden, bedeutet dann „wachsen“ – Weisheit der Sprache!

Dazu zählen auch andere einsilbige Wörter wie jég (Eis), por (Staub), fal (Mauer), ház (Haus), forr (kochen), bőr (Haut), tűz (Feuer), szú (Borkenkäfer), hal (Fisch), fél (Partner, halb), vér (Blut), kés (Messer), íny (Zahnfleisch), fog (Zahn), sző (weben) usw.

Selbst die Lebensänderungen manifestieren sich bis heute. Als die Magyaren Ackerbauern und Viehzüchter wurden, kamen Wörter wie ól (Stall), bor (Wein) oder ács (Zimmermann) hinzu. Einige dieser Begriffe werden in einer Sprache, die Regelmäßigkeit nahezu manisch anstrebt, zudem unregelmäßig dekliniert oder konjugiert, was ihre Bedeutung unterstreicht. Hat man einmal das Ohr, dann kann man im auch das Trappeln der Pferde, im das Rascheln des Grases, im eb das Bellen des Hundes erahnen. Die auffällige Menge tierlautimitierender Begriffe zeugt ebenso von einer animistischen Vorzeit wie die tabuisierte Benennung der einst heiligen Tiere, wie Wolf (farkas, von Schwanz), Hirsch (szarvas, von Geweih) oder Bär (medve, von Honig)[5].

Diese Urwörter können sich auch in Komposita verstecken, die viel ältere Wortwurzel hat mitunter keine Bedeutung mehr.[6] Zwei Beispiele: Karies heißt fogszuvasodás, wobei wir im Kern den Borkenkäfer oder fressenden Wurm (szú) als „Urwort“ lauern sehen, oder die Revolution heißt forradalom und leitet sich von forr (kochen, sieden) ab. Es gibt heute kein Substantiv ro oder mehr – allerdings ein Ur-Verb: kerben –, aber eine große Anzahl an Wörtern, die mit diesem Laut beginnen, und unter ihnen häufen sich Bedeutungen, die auf etwas Negatives oder auf Zerfall, Zersetzung, Zerteilung hinweisen, ähnlich den deutschen Vorsilben „zer“ und „ver“[7]. Rossz (schlecht), rongál (beschädigen), rongy (Lump), roncs (Trümmer), robban (explodieren), rombol (zerstören), romlik (verderben), rohadt (faul), roham (Sturm) usw.

Diese Übung ließe sich an vielen anderen Silben (fegy, ál, for, biz, eng, re u.a.) und Wortfeldern wiederholen, sie sind deshalb für den Muttersprachler schwer wahrzunehmen, weil sie oft keine eigene konkrete Bedeutung mehr haben, sondern nur noch vage, stimmend wirken.

Phonetisch dominieren die Vokale, insbesondere a und e sowie harte Konsonanten, was der Sprache einen gedehnten und gewissen leidvollen Klang gibt, und der korrespondiert auffällig mit den Aussagen der national bedeutenden Hymnen und Poeme[8] und das „für die ungarische Dichtung so typische tragische Lebensgefühl des Besiegt- und Bedrohtseins“.[9]

Wenn heutige Ungarn sprechen, dann nutzen sie in großen Teilen eine uralte Logik, Lexik und Syntax; die sprachliche Verbindung mit den Ahnen reicht tief, das in ihr Gesagte ist – mit Heidegger – zugleich auf eine ausgezeichnete Weise das, was das Gesagte nennt.

So ist die Sprache etwa stark raumorientiert und legt großen Wert auf Bewegungen im Raum, eine Eigenschaft, die sie mit dem Deutschen teilt.[10] Viele der Kasussuffixe kümmern sich um das räumliche oder Bewegungsverhältnis zu den Dingen, wobei zwischen den Fragen Wo?, Woher? Wohin? unterschieden wird.[11] Dem gesellen sich eine ganze Reihe an Postpositionen zu[12], die ebenfalls Ortsverhältnisse beschreiben. Etymologisch sind diese teilweise aus Namen menschlicher Körperteile[13] gebildet.

Jede dieser Postpositionen beantwortet auch eine der drei Richtungsfragen. Der ungarische Raum ist also sprachlich stark determiniert und z.T. anthropologisch begründet; so mag es auch nicht verwundern, daß es ein eigenes Präfix mit der Bedeutung „nach Hause“ gibt: haza.

Der Begriff der „Heimat“ hat im Deutschen einen Sinnüberschuß, den andere europäische Sprachen schwer wiedergeben können, das Ungarische ausgenommen, dessen altes Wort hon ähnlich tief reicht.[14]

Die Bedeutung des Karpatenbeckens als Lebensraum, die sich über Mythen, Märchen und Historie bis heute gehalten hat, findet so eine linguistische Entsprechung. Und wenn der Ungar vom Ungarn spricht, dann benutzt er nicht die Fremdbeschreibung, die sich von den Hunnen ableitet, sondern vom Magyaren, der sich im Stamm vom proto-ugralischen „mënɜ“ (Mensch, freier Mensch) und der Endung –ër (Mann) ableitet, also gleich zweifach menschlich ist. Die Endung ist auch im Wort ember noch zu sehen – das ist der Mensch als auch der Mann. Das Altungarische kannte für die Frau noch némber; heute findet man mindestens drei Begriffe: , hölgy, asszony (heiratsfähige Frau).

Man hat selbst die von allen indogermanischen Sprachen abweichende Singularisierung der Mehrzahl nach Zahlen oder Mengenangaben damit in Verbindung gebracht. Man sagt also nicht zwei Mensch-en, sondern „zwei Mensch“, két ember“ – emberek gibt es nur unspezifisch – wodurch jeder Mensch seine eigene (ungarische) Identität betont bekäme.[15]

Man braucht diese Logik nicht, um eine Fokussierung des Ungarischen auf das Ungarische zu erklären. Das Wort „erklären“ selbst weist darauf hin: magyarázni. Da steckt der Magyar drin. Ihm wird also nichts klar, wie im Deutschen, oder ausgelegt, wie im Englischen, oder auseinandergefaltet, wie in den latinischen Sprachen, ihm wird „verungarischt“, ins Ungarische übersetzt und wenn er sich rechtfertigt oder entschuldigt, dann kann er das ebenfalls auf rein Ungarisch tun: magyarázkodni. Das ist nur aus Selbstreferenzialität zu erklären und gilt auch bei paradoxen Formulierungen.[16]

Die erklärungsbedürftige Welt ist dem Ungarn sprachlich nur durch die ungarische Brille zugänglich, bewußt oder nicht.

Auch an anderer Stelle „bevorzugt“ die Sprache ihre Sprecher, macht sie ihrer selbst und ihrer magyarság (Ungartum) bewußt. So kennen viele der ortsbezeichnenden syntaktischen Suffixe für Substantive Regeln, die für die Mehrzahl der Länder und nichtungarischen Städte gelten[17], bei diesen aber Ausnahmen bilden und sie somit hervorheben: man fährt nach Berlin (Berlinbe), aber „auf, auf hinauf“ Budapest (Budapestre), man lebt in Deutschland (Németországban), aber „auf“ Magyarországon, man telefoniert „aus“ Wien (Bécsből), aber von Pécs (Pécsről) „herunter“ usw.

Dialogische Beziehungen kennen auch Sonderbehandlungen. Zum einen garantieren mindestens drei formale und schwer zu übersetzende Anreden in der 3.Ps. eine feine Respektskalierung, wovon eine (maga) auch als Reflexivpronomen zur besonderen Hervorhebung der Person genutzt werden kann[18] – selbst das „Csókolom“ (Küß die Hand) ist noch zu hören –, zum anderen werden ältere Personen, auch Lehrer, mit bácsi (Onkel) und néni (Tante) angesprochen. Nähe hingegen schafft das Ausnahmesuffix lak/lek, das nur in Anwendung kommt, wenn die erste zur zweiten Person (Ez./Mz.) spricht (látlak-ich sehe dich/euch).

Überhaupt kennt die Zahl 2 in ihrer Kardinal- und Ordinalform unregelmäßigen Gebrauch, wie auch Demonstrativpronomen eine Nähe- und eine Fernform kennen. Die Bedeutung des ungarischen Subjekts spricht sich auch in seinem häufigen Fehlen aus: in Adjátok vissza a hegyeimet[19] ist grammatisch nicht ersichtlich, wem die Berge fehlen, das „mir“ wird vom Muttersprachler hinzugedacht.

Seine sprachliche Sonderstellung beweist das Ungarische auch in seiner relativen Hartnäckigkeit, Fremdeinflüsse zu assimilieren. Knapp die Hälfte des Vokabulars hat finnougrische Wurzeln, alles andere entstammt dem Slawischen, Deutschen, Lateinischen, Türkischen, Englischen, Italienischen, Iranischen und anderen Sprachen, ein Hinweis auf die komplexe Geschichte und die Vielvölkerexistenz. Die meisten dieser Wörter wurden schnell den eigenen Sprachregeln angepaßt. Selbst einem Wort wie muszáj, schwäbisch-fränkisch gebeugt, sieht man das „muß sein“ nicht gleich an. Entweder man hat für Internationalismen ein eigenes Wort (Hotel=szálloda) oder man überträgt es in eigene Schreibweise (Jazz=dzsessz). Der Internationalismus „Kanal“ ist der csatorna, wohingegen kanál der Löffel ist …

Die gesamte Denkrichtung ist der unsrigen analytischen Sprache ungewohnt, denn sie synthetisiert, d.h. sie verdichtet die meisten ausgedrückten Relationen in kompakte Wortstrukturen, man kann sie auch als deduktiv veranlagte Sprache bezeichnen, die vom Generellen zum Spezifischen argumentiert. Lese- und Hörrichtung widersprechen unserer Denkrichtung. Uneuropäische Datums-, Zeit-, Namensangaben ergeben sich aus der grammatischen Logik. Seltsam anmutende Vornamen wie Gyöngyi, Csenge oder Bence lassen den Ungarn im Ausland Distinktionserfahrungen machen.

Die Suffigierung erklärt die Abneigung gegen Ausnahmen, die fast nur durch die Lautharmonie zu rechtfertigen sind[20], wie ohnehin ein starkes ästhetisches und ökonomisches Vereinheitlichungsbedürfnis besteht.[21] Ihre Baukastentechnik mit schier unvorstellbaren Möglichkeiten, von denen die lebende Sprache – dem Schach vergleichbar[22] – nur einen Bruchteil realisieren kann, sollte ein technisch-mathematisches Denken befördern. Ungarn hat nicht nur auffällig viele innovative Schachspieler[23], sondern auch Techniker und Wissenschaftler hervorgebracht[24]; sieben von acht Nobelpreisträgern bestätigen das[25]

Es scheint, als immunisiere die ungarische Sprache sich durch ihre Fremdheit, Einzigartigkeit, Kontinuität, tiefe historische Verwurzelung, Komplexität, Regelstrenge, Regelmäßigkeit, Abneigung gegen Ausnahmen, Assimilationsfreudigkeit, Ökonomismus, einheitliche Klangästhetik, Eigenlogik und Selbstreferenzialität systemisch selbst vor zu großen und schnellen Veränderungen, nahezu unabhängig von den Menschen, allein durch ihre inneren Mechanismen.

Sie pflegt und hegt sich intrinsisch, sie bietet den Menschen eine Behausung, die sie vom Fremden abschirmt, zugleich auf verschiedenen Wegen Nähe zum Mitsprechenden, zu anderen Ungarn, schafft, die sich im Sprechakt zwangsläufig ihrer historisch gewachsenen Identität, Selbstähnlichkeit, versichern.

Solange die Sprache lebt, wird das Volk leben; sie schützt dieses. Andere Völker müssen – wollen sie ihre Identität wahren – aktiver und bewußter auf den Bestand ihrer Sprache achten: wenn eine Gemeinschaft ihre Hochsprache mit all ihren inneren und national je anderen Ausdrucks- und Denkmöglichkeiten bewahren kann, bewahrt sie das Ureigene, ihre Eigenart, letztlich ihre Existenz.

[1] Magyar Kódex. Az Árpádok világa. Magyar művelődéstörténet a kezdetektől 1301-ig. Budapest 1999, S. 131ff.
[2] Géza Balázs: The Story of Hungarian. A Guide to the Language. Budapest 2000, S. 92
[3] Dazu: Mária D. Mátai: Kleine ungarische Sprachgeschichte. Hamburg 2002
[4] Béla Szent-Iványi: Der ungarische Sprachbau. Leipzig 1974, S. 14
[5] Mátai. S. 14
[6] Vgl. Béla Szent-Istványi, S. 15
[7] Schon Platon erkannte im „R“ die Kinesis: Sokrates: „Zuerst scheint mir das R gleichsam das Organ jeder Bewegung zu sein.“ (Schleiermacher-Übersetzung)
[8] Zur sprachübergreifenden Wirkung der Laute siehe: Ernst Jünger: Geheimnisse der Sprache. Lob der Vokale.
[9] Paul Lendvai: Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte. München 2001, S. 342
[10] Siehe: Georges-Arthur Goldschmidt: Heidegger und die deutsche Sprache. Freiburg/Wien 2023
[11] -ban/-ben (in), -n/-on/-en/-ön (auf), -nál/-nél (bei), -ból/-ből (aus, heraus), -ról/-ről (von, herunter), -tól/-től (von, weg), -ba/-be (in, hinein), -ra/-re (auf, hinauf), -hoz/-hez/-höz (zu, hin)
[12] Je nach Interpretation kann die Anzahl differieren: ich habe 86 gezählt
[13] (Kopf) – főllött (über), mell (Brust) – mellett (neben), fél (Seite), szem (Auge) – szemben (im Auge=gegenüber) u.a.
[14] Dazu:  Der Heimatbegriff der Magyaren.
[15] So der Literaturwissenschaftler Mihály Takaró in „Népszava“ vom 16.7.2019
[16] z.B.: Németül magyarázza el neki. – Er „erklärt“ ihm auf deutsch. Vgl. dazu: József Tompa: Kleine ungarische Grammatik. Leipzig 1972, S. 128
[17] Dazu ausgiebig: Alexandra Foresto: Grammatica ungherese di base. Milano 2018, S. 29-48, 66ff.
[18] Miklós Törkenczy: Ungarische Grammatik. Budapest 2005, S. 53f. Etymologisch stammt das Wort von mag ab, dem Kern. (Szent-Istványi, S. 64)
[19] Titel des Romans „Gebt mir meine Berge zurück!“ von Albert Wass. Antaios Schnellroda 2023. Wörtlich: Gebt meine Berge zurück!
[20] Wilhelm Körner: Die Grundzüge der ungarischen Sprache. Berlin 1882, S. 10
[21] Etwa in der Angleichung der Verbindungssuffixe (aus dem erwartbaren örömvel – mit Freude – wird örömmöl) oder der mehrfachen Nutzung sprachlicher Zeichen in verschiedenen grammatischen Funktionen (nak/nek als Dativendung, Genitivendung, Personalpronomen, Demonstrativpronomen, Fragewort)
[22] Man schätzt die Zahl der möglichen Stellungen auf über 1043, davon ist aber nur ein Bruchteil sinnvoll und davon materialisiert sich wiederum nur ein kleiner Teil – die meisten Möglichkeiten bleiben im menschlichen Bereich ungenutzt, so wie im Ungarischen das meiste des Sagbaren wohl nie gesagt werden wird.
[23] Schon die Hypermoderne Schule war stark ungarisch motiviert, Judít Polgár gilt als stärkste Spielerin aller Zeiten, Lajos Portisch, Péter Lékó gehören zur klassischen Elite, Richárd Rapport sekundierte gerade Weltmeister Ding aufgrund seiner unkonventionellen Originalität und Ferenc Berkes gehören zur erweiterten Weltspitze …
[24] Vom Streichholz (Irinyi) und Kugelschreiber (Bíró) über Isolierung der Ascorbinsäure (Szent-Györgyi) oder den Rúbik-Cube bis zur Atombombe (Teller, Szilard) …
[25] Nur Imre Kertész erhielt 2002 den Literaturnobelpreis für seinen Auschwitzroman „Sorstalanság“ (Schicksallosigkeit), dt: Roman eines Schicksallosen.

zuerst in gekürzter Form veröffentlicht in Sezession 117

Ein Gedanke zu “Sprache und Identität

  1. Péréginateur schreibt:

    Elemente der geschilderten Raumorientierung gibt es auch im Deutschen, zumindest in den Dialekten. Im fränkischen Heimatdorf (H, 370 m) meines Großvaters, das in der inneren Talbucht eines Flusstälchen im Bergland liegt, fährt man

    • nach B (Nachbardorf oberhalb im Flusstal, 380 m) hinauf
    • nach S (280 m) hinein – Straße lange ziemlich eben, zuletzt steile Talsteige ins Nachbartal hinab
    • nach I (in der Ebene vor dem Bergland, ca. 430 m) hinaus – recht wellige Straßenführung
    • nach K (am Nachbarfluss mit ziemlich ebenem Talübergang, 410 m) hinauf – wohl weil die Straße dorthin ziemlich früh auf 490 m ansteigt
    • nach G (330 m) hinüber – ausgesprochene Tallage in anderem Nachbartal mit zwischendurch einem Straßenhöhenmaximum von 510 m

    Der Gebrauch der Positionspartikeln erklärt sich ziemlich natürlich dadurch, dass sie eine mentale Topographie ausdrücken, oft mit der natürlichen identisch oder an sie angelehnt, jedoch vermutlich in neuerer Zeit und in weiterer Perspektive durch den Einfluss der genordeten Karten ergänzt: Man fährt nach Hamburg hinauf.

    (Nach Berlin fährt man besser gar nicht. Zumal heute, da die Russen vielleicht in ihren Magazinen nachschauen, ob noch eine [Zar-Bombe](https://de.wikipedia.org/wiki/AN602) vorhanden ist. Ich habe schon angefangen zu zählen, aber noch keine zehn Gerechte zusammen.)

    Das Ungarische ist in Hinsicht der dimensionalen Partikeln sicher reicher ausgebaut, zum Beispiel konsequenter in der Dimension ablativisch–lokativisch–allativisch (von einem Ort her, an einem Ort, zu einem Ort hin).

    Gemeinsam mit den Ungarn dürfte uns aber die Verwunderung über das degenerierte Französische sein, wo man „boire dans un verre“ sagt und damit „aus einem Glas trinken“ meint, was in uns wegen der anderen Bedeutungen von „dans“ („in“ und „hinein“) fast unvermeidlich ein burleskes oder ekliges Bild evoziert.

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