Kritik am Eigenen

Die härteste, gnadenloseste, schärfste Kritik muß aus dem eigenen Lager kommen! Zumindest sollte sie das – nur sie signalisiert ein gesundes geistiges Binnenklima und garantiert inhaltliches Vorankommen. Es hilft nichts, uns gegenseitig Honig ums Maul zu schmieren. Unterstützung und Kritik sind zu trennen. Aber auch: Genuine Kritik ist immer Unterstützung.

Kritik meint hier zweierlei: das Wort in seinem eigentlichen, etymologischen Sinne als „Scheiden“, Unterscheiden, Differenzieren aber auch in seinem negativistischen Allgemeingebrauch als bewußtes Aufdecken und pointiertes Vortragen von Irrtümern, Fehlleistungen, Verfehlungen.

Wie im Sport, wo mir auch der Trainer die Schwächen aufzuzeigen hat und nicht erst durch die praktische Kritik der Faust des Gegners in meiner Fresse die Information über die mangelhafte Kritik an theoretischer, thymotischer, übender Vorbereitung vermittelt wird.

Der Kritisierte muß die Kritik – so oder so – schlucken, sofern sie gut begründet ist, sofern sie Hand und Fuß hat. Das ist eine schwere Übung, denn wir Menschen neigen dazu, Kritik am Werk als Kritik an der Person wahrzunehmen. So wie der Kritisierte diesen Impuls niederzuringen hat, so ist es die Aufgabe des Kritisierenden, seine Kritik unbedingt sachlich, möglichst freundlich und mit offener Geste, verbunden mit einem mehr oder weniger unmißverständlich ausgesprochenen Gesprächsangebot vorzutragen. Ironie und Zynismus müssen wohlbedacht genutzt, am besten gemieden werden, ad-hominem-Argumente, Invektiven, persönliche Unterstellungen verbieten sich komplett. Ihr Ziel ist nicht nur die persönliche Verletzung, sie entwerten auch die sachliche Kritik und lenken vom argumentativen Kern ab, denn die dann berechtigte Gegenwehr des Kritisierten zielt auf gänzlich andere Punkte, sie forciert den Kampf, den Krieg, aber sie verhindert das Ringen um die Sache.

Die Kritik muß dann zum Ringen werden, wenn sie berechtigt ist. Daher sollten sich beide Parteien vor allem die Frage nach der Berechtigung stellen. Eine unbegründete Kritik sollte – sofern die Einsicht besteht – unterlassen werden; wird sie dennoch vorgetragen, so hat sich der Kritisierte zu fragen, ob sie ihn trifft oder nicht. Hier ist schonungslose Einsicht gefordert, alle Ausreden vor der eigenen Unvollkommenheit müssen als unehrlich abgelehnt werden. Ist die Kritik berechtigt, dann hat der Kritisierte sein Denken, seine Theorie, sein Verhalten zu verändern; ist sie nicht berechtigt, dann kann man sie entweder ignorieren oder – falls der Irrtum der Kritik aufschlußreich ist – richtigstellen.

Schlimmer als genuine Kritik ist falsche Kritik, aber schlimmer als falsche Kritik ist fehlende Kritik und unter den Formen der fehlenden Kritik ist die gegenseitige Beweihräucherung die schlimmste Form. Es ist vollkommen falsch verstandene Rücksichtnahme, wenn ich einen Kampfgefährten vielleicht sogar noch lobe für eine Ansicht, die ich als kritikwürdig eingesehen habe, etwa, weil er sich durch die Thematisierung tatsächlich als mutig erwiesen hat. Die ehrliche Kritik unter Gleichgesinnten darf keine moralischen Kategorien kennen. Man kann für den Mut, ein Thema etwa angesprochen zu haben, Vorreiter zu sein, Lob finden und dennoch inhaltlich Kritik vortragen, ohne beides miteinander zu vermischen.

Niemand, der sich öffentlich äußert, sollte das Lob suchen und jeder sollte jeglichem Lob äußerst skeptisch und mißtrauisch gegenüberstehen, es stets auf seinen Giftgehalt prüfen, sei dieser nun bewußt oder unbewußt eingebacken.

Kritik aus dem eigenen Lager darf niemals verletzen, weder auf der Seite des Senders noch auf der des Empfängers. Kritik aus dem gegnerischen Lager sollte uns nicht verletzen können –auch sie ist nur der Sache nach abzuklopfen und entsprechend einzuspeisen oder zu ignorieren.

Wir müssen lernen, die Kritik am Eigenen und vom Eigenen als Ehre zu empfinden.

Wir müssen besser werden!

siehe nachfolgend: Nationaler Block

6 Gedanken zu “Kritik am Eigenen

  1. Otto Reincke schreibt:

    „Wir müssen besser werden!“ – Wir müssen gar nix! Dat Einzige, wat wir müssten ist: Mit dem Müssen aufhören! .. und sein, wat wir sind.

    Seidwalk: Sehr wohlfeile Kritik. Es gibt immer einen, der sich einen Satz rausgreift und sich daran erhitzt ohne das Ganze sehen zu wollen. Diese Art ist leider sehr wenig ertragreich und dennoch sehr weit verbreitet. Das müssen wir abstellen!

    Dann bitte, Seien Sie! Ich jedenfalls möchte besser werden – das ist das, was ich bin.

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    • Michael B. schreibt:

      Dann sehe ich mal das Ganze. Zaehlen Sie einfach nur die Varianten von „muessen“ und „sollen“ (inklusive Konjunktive). Dazu noch die Absolutismen („niemals verletzen“ etc.). Dann bleibt ueberhaupt nichts mehr von der ganzen vordergruendig geforderten Schaerfe und Konsequenz ausser einem leisen Lueftchen. Schaerfe schneidet und das nennt man dann Verletzung. Wasch mich, aber mach mich nicht nass; das funktioniert nicht.

      Das macht den Ton des Artikels und nicht ein willkuerlich gepickter Satz (gerade eben nicht) und der ist der einer Suada an Zwanghaftigkeit und gesetzter Verengungen dessen, was erlaubt ist. Deren Ergebnisse moegen alles sein, aber bestimmt nicht das was das Wort Kritik bezeichnet.

      Seidwalk: Ich hatte mit meiner Frau darauf gewettet!
      Dann sehen Sie doch mal das Gaaaanze, die nun neunjährige Geschichte dieses Blogs. Eine Geschichte der Zwanghaftigkeit? Oder doch eine des Abwägens, Zweifelns, in-Frage-Stellens? Und hin und wieder auch des Forderns und Setzens. Dies ist eben ein Aufruf, das geht nicht ohne müssen und sollen.

      Erklären Sie bitte das Problematische am Satz: Du mußt besser werden! Oder: Du mußt dein Leben ändern!

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      • Pérégrinateur schreibt:

        @Seidwalk, „[D]as Problematische am Satz […] oder […]“ ist, dass er zusammen mit dem Sursum Corda gerne aus Pfaffenmündern kommt.

        Im Übrigen scheint mir Ihr Text auf einen bestimmten Anlass Bezug zu nehmen, der aber außerhalb liegt und mir jedenfalls nicht klar wird. Was ein passendes oder unpassendes Mittel in einer bestimmten Lage ist, hängt aber stark von dieser ab und ist nicht abstrakt abzuleiten.

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        • Immerhin scheint der Präludium-Charakter aus dem Aufruf herauszulesen zu sein. Aufklärung erfolgt dann morgen; dies hier war die Prämisse.

          Ich hielt sie für notwendig, da ich weiß, wie sensibel heutzutage Menschen geworden sind, insbesondere, wenn man sich zu ähneln scheint. Schnell entstehen dann Vorwürfe wie „Verrat“, Dolchstoß etc. Das sind die Killer der offenen Debatte. Wenn aber geschätzte Autoren Texte quasi kanonisieren, die fraglich und eben kritikwürdig sind, nur weil man meint, an der gleichen Front zu kämpfen, dann wird genuine Kritik daran schwer, psychisch schon, weil eben jene Vorwürfe drohen. Um die Nadel wieder einzunorden meinte ich, das klare, grobe Wort sprechen zu müssen.

          Wollen wir das Wort „müssen“ aus unserem Wortschatz streichen, weil es nach Pfaffentum klingt? Auch das Pfäffische ist nicht per se abzulehnen, sondern muß – oder sollte ich sagen: sollte? – nach seinem Gehalt abgeklopft werden. Wollen wir wirklich uns verbieten, aneinander Ansprüche zu stellen? Wollen wir wirklich das Beliebigkeitsspiel mitspielen, nur weil welche sich auf die Füße getreten fühlen und für sich in Anspruch nehmen, sie „müssten gar nichts“ oder „könnten alles“?

          Ich meine, man sollte voraussetzen können, daß das „muß“ hier kausal, temporal, konditional und komparativ – also von vornherein relativierend – gemeint war: Wir müssen besser werden, weil …; wir müssen besser werden, um zu …; wir müssen besser werden, wenn …; wir müssen besser werden, als …

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      • Michael B. schreibt:

        Ich hatte mit meiner Frau darauf gewettet!

        Sie muessen schon dazusagen auf was – und vielleicht auch um was – damit man etwas mit diesem Satz anfangen kann.

        die nun neunjährige Geschichte dieses Blogs.

        Mir hat erst einmal genuegt wegzukommen von dem vorgeblichen einzelnen Satz , an dem sich Otto hochgezogen haben soll (wo war da eigentlich die Komplettbetrachtung seiner zeitlichen Frequentierung dieses Blogs als Leser?) auf den Artikel als Ganzes. Wir koennen uns natuerlich auch auf die Erdzeitalter bis zum Perm festlegen, weil die den richtigen Kontext bilden sollten(!).

        das Problematische am Satz: Du mußt besser werden! Oder: Du mußt dein Leben ändern!

        Wurde doch mehrfach gesagt – das Muessen anderer Leute. Sie scheinen auch ueberhaupt nicht zu realisieren, wo diese selbst stehen koennten. Die hier eingeforderte Art von Kritik ist fuer mich z.B. voelliger und noch zu schwacher Standard. Da braucht es kein Traktat dazu, um meinen Hintern zu bewegen. Habe ich mein Leben lang gemacht. Und ich bin da bei weitem nicht allein. Rechts ist letztlich auch nur eine andere Blase.

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  2. Nevem van schreibt:

    Das kommt mir seit dem 10.12.2023 bekannt vor, vgl. https://sezession.de

    Seidwalk: Tja, ist halt alles nur geklaut

    Anna (21.12.) Seid(el)walk … na dämmert es @Nevem van

    Apropos Kritik

    Erhalte ich hier eine ‚Sonderbehandlung‘ in der Darstellung meines Kommentars?

    Oder war das nur ein Versehen, lieber Seidwalk, unter @nevem van?

    Frohes Fest und Guten Rutsch wünscht Anna

    @Seidwalk: Nein, keine Sonderbehandlung. Ich habe den Beitrag unter dem entsprechenden Kommentar gestapelt und werde das mit diesem hier auch tun. Die Sphären – Blog, Zeitschrift, Privates sollen getrennt bleiben.

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