Einladung Lesekreis Fontane/Sloterdijk

Es gibt da einen kleinen Lesekreis im Netz, auf einer Plattform, die sich Discord nennt. Dort versammeln sich einige, meist wohl junge, aber tendenziell eher konservativ oder rechts Orientierte und lesen gemeinsam Bücher, die dann zur Diskussion gestellt werden. Weiterlesen

Petőfi und der Nationalfeiertag der Ungarn

Unter den vier politisch motivierten Feiertagen in Ungarn stellt der 15. März laut einer Volksbefragung mit Abstand den bedeutendsten dar, selbst den Sankt Stephanstag – den eigentlichen Nationalfeiertag am 20. August – ausstechend. Heute stehen hunderttausende Ungarn an einem örtlichen Gedenkplatz und erinnern an die Revolution von 1848, deren Verlauf und hektische Abfolge an Ereignissen jedes Schulkind im Schlaf aufsagen kann. Weiterlesen

Die Staatsgrippe

 von Dino Buzzati

Pünktlich morgens um halb Neun saß der Oberst Ennio Molinas an seinem Schreibtisch im hinteren Teil des riesigen Raumes der Abteilung Dec (Dechiffrierung). Wie alle Militärangehörigen des Ministeriums war er in Zivilkleidung. Da er der Leiter der Abteilung war, befand sich sein Schreibtisch auf einem Podest, von wo aus sich die vierundzwanzig Tische der untergeordneten Dechiffrierer überblicken ließen: eine Art Kathedra. Hohe Regale säumten die umliegenden Wände, gefüllt mit Büchern und mit Registern: Wörterbüchern, Enzyklopädien, Atlanten, Namensverzeichnissen, Nachschlagewerken und Untersuchungsmaterialien. Das riesige Büro, einst für den Krieg eingerichtet, arbeitete jetzt in langsamerem Rhythmus; aber das Personal der Abteilung war vollständig. Es handelte sich, auf ihrem Spezialgebiet, um die fähigsten Männer des Landes. Im Ministerium nannte man sie scherzhaft die „vierundzwanzig Genies“. Weiterlesen

Sinnloser Dienst oder sinnloses Dienen

Es überrascht mich selbst immer wieder, wie oft ich mit den Leuten in Schnellroda einer Meinung bin: ich lese ihre Texte, höre ihre Beiträge, sehe die Werkinterpretationen und in den allermeisten Fällen sagt mir meine innere Stimme: korrekt, so ist es. Und dort, wo sie protestiert, kommt immerhin noch der Einwand: aber so kann man es auch sehen oder: das ist eine interessante, erfrischend andere Perspektive … Weiterlesen

Ein Buch, zwei Meinungen

Mittlerweile trudeln die ersten Stellungnahmen zu Albert Wass‘ neu übersetzten Roman „Gebt mir meine Berge zurück!“ ein. Sie werden hier kommentarlos aufgelistet, denn sie sind vielsagend, sie sagen nicht nur viel über dieses Buch, sondern auch über die Welt, in der wir leben.

Leserbrief: Das Buch hat mich sehr aufgewühlt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals ein Buch gelesen hätte, das mir so nah war. Es ist so schön und wahr und allgemein gültig und tief menschlich. Es liest sich wunderbar, auch wenn es gleichzeitig erschütternd ist, weil es deutlich macht, wie Menschen Spielbälle, eher Opfer von Systemen werden. Was mit den Siebenbürgern passiert ist, zeigt die ganze Tragik und Absurdität, die politische und damit auch Menschen gemachte Entscheidungen zur Folge haben. Welch eine Ungerechtigkeit, welch ein Leid! Wie können Menschen anderen Menschen so etwas antun? Ein Antikriegsbuch, zugleich voller Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Ich musste an meine Vorfahren denken. Die Familien meiner Eltern sind ja beide vertrieben worden. Entwurzelte Menschen ohne richtige Heimat, ohne eigene Kultur, denn die eigene Kultur mussten sie ja unterdrücken, vergessen, verleugnen…“ Weiterlesen

Wer war Albert Wass?

Heimat – ein geheimnisvolles Wort, das schwer in andere europäische Sprachen zu übersetzen ist. Das Wort „Heimat“ hat immer einen Sinnüberschuß, den andere Sprachen kaum fassen können. Die meisten weichen auf einen Bezug zum Haus – dom, casa, maison – oder zur Mutter- und Vaterschaft, zur Verwurzelung aus: fatherland, patrias, родина.

Nur die Ungarn haben ein Äquivalent, einen ebenso bedeutungsschwangeren Begriff, ein Urwort: hon.

Im honvéd, dem „Heimat-Verteidiger“, kann man es noch hören. Oder in hontalanság, der Heimatlosigkeit. Unter diesem Titel hatte Albert Wass eines seiner programmatischen Gedichte verfaßt. Darin heißt es:

Ich bin heimatlos, weil ich verkünde, daß alle Menschen Brüder sind und daß wir ein für alle Mal zueinander finden müssen, alle, die Gutes tun wollen. Ich bin heimatlos, weil ich an das Gute, das Wahre und das Schöne glaube. In jeder Religion und in jedem Volk und in Gott, der triumphieren wird.

Albert Wass? Wer nun zu Wikipedia greift, geht den falschen Weg. Man erfährt dort vor allem, daß Wass ein „ungarischer Schriftsteller und Dichter völkischer Prägung“ und ein zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher gewesen sei – die Sache ist erledigt. Hört man sich hingegen in Ungarn oder gar bei den Ungarn in Erdély (Siebenbürgen) um, so wird dieser Name oft mit begeisterten und glänzenden Augen ausgesprochen. Seine Bücher liegen in allen Schaufenstern, seine Leserschaft ist riesig und zählt in die Millionen, es gibt zahlreiche Internet-Gruppen mit jeweils zigtausenden Mitgliedern … Wass gehört zu den ganz Großen der ungarischen Literatur.

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Das war nicht immer so. Vor der Wende war er selbst dem heimischen Publikum gänzlich unbekannt, seine Romane, Novellen, Gedichte und Märchen standen auf dem Index, ihre Existenz wurde von den ungarischen und rumänischen Kommunisten verschwiegen und bekämpft, mit einer Vehemenz, die verdächtig ist und neugierig macht.

Noch immer läßt sich seine Leserschaft weltanschaulich teilen: Die offizielle Literaturgeschichtsschreibung ignoriert ihn, stellt nicht nur seine Person, sondern auch sein künstlerisches Schaffen ins Zwielicht; seine weite Leserschar und das politische Ungarn vergöttern ihn hingegen, Viktor Orbán selbst zählt zu seinen eifrigen Lesern.

Es ist nicht leicht, objektives Wissen zu erhalten, auch große Teile der noch immer spärlichen Sekundärliteratur sind durch Gesinnung gefärbt. So viel steht fest: Wass entstammt einer uralten ungarischen Adelsfamilie (Wass de Czege), deren Wurzeln bis in die Árpádenzeit zurückzuverfolgen sind und deren Heimat immer Erdély war.

Wass wurde 1908 in einem Schloß geboren, seine gräflichen Eltern lebten getrennt, die Mutter in Wien verweigerte die Erziehung, der Vater überließ sie dem Großvater, der zur prägenden Gestalt in Wass‘ Leben und später Vorbild für mehrere literarische Figuren wurde und die grundlegenden Werte der Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit einpflanzte.

Als 10-jähriger erlebt er persönlich die blutige Niederschlagung eines ungarischen Volksaufstandes in Kolozsvár (Klausenburg, heute Cluj-Napoca) und sieht rumänische Offiziere in die Menge schießen. Studien der Wirtschafts- und Forstwirtschaften führen ihn nach Deutschland und Frankreich, neben Ungarisch und Rumänisch beherrschte er Deutsch, Französisch, Latein. Die große Leidenschaft seines Lebens – vom Großvater ererbt – war die Jagd. Wass war ein preisgekrönter Scharfschütze. Eine quasi-dynastische Ehe führt ihn mit der deutschstämmigen Eva Siemers zusammen; der Ehe entspringen sechs Jungen, wovon einer im Kindesalter verstirbt.

Nach frühen lyrischen Versuchen und einer einjährigen Dienstzeit im rumänischen Heer erschien 1934 sein erster Roman: Wolfsgrube. Auch wenn es sich um eine konventionelle literarische Form handelt und der Roman kompositorische Schwächen zeigt, war das junge schriftstellerische Talent sofort erkennbar, seine ironische Ader – die auch das Pathos nicht scheut – sichtbar. Das Buch um einen genialisch veranlagten Dichter, der durch innere Antriebslosigkeit und Trunksucht privat und künstlerisch kläglich scheitert, ist eine harte Analyse des Versagens des ungarischen Adels in Erdély. Es enthält großartige Szenen, gipfelnd im Tod der Protagonistin, einer alten närrischen Gräfin, die von ihren Haustieren, Wölfen, zerfleischt wird.

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Der Roman fand viel Aufmerksamkeit, wurde sowohl in Budapest als auch in Kolozsvár verlegt, erhielt einen namhaften Literaturpreis, wurde von prominenten Autoren hochgelobt und war letztlich das Entréebillet in den illustren Kreis des „Helikon“, einer Vereinigung, in der sich die bedeutendsten siebenbürgischen Künstler versammelten und ein gleichnamiges Periodikum herausgaben. Das Neue daran war die doppelte Adelsperspektive: Wass wagte es, aus erfahrenem Horizont die eigene Klasse, deren Standard er hochhalten wollte, zu kritisieren und zu ridikülisieren.

Aber nicht nur der Verfall und das Versagen der Klasse, sondern auch der Verlust der Heimat stand im Mittelpunkt: das große Trauma der jüngeren ungarischen Geschichte, die Verluste an Land und Menschen durch das Verdikt von Trianon. Nach dem Kollaps des Habsburgerreiches im Zuge des verlorenen Weltkrieges mußte Ungarn in den Verträgen von St. Germain und Trianon zwei Drittel seines Gebietes an die Nachbarstaaten abgeben, schrumpfte seine Bevölkerung von 22 auf 9 Millionen Menschen, wurden Millionen Ungarn über Nacht gezwungen, ungeliebte Minderheit zu sein.

Man wurde als Kriegsverlierer, nicht als Vertragspartner behandelt, Proteste, Vorbehalte und Vorschläge – etwa eine Volksbefragung – wurden ignoriert. Damit wurde Ungarn de facto eine größere Last auferlegt als Deutschland im Vertrag von Versailles. Besonders die fast zwei Millionen Székler und Ungarn in Erdély hatten zu leiden – sie waren nun vom Mutterland abgeschnitten, einem anderen Staat zugeschlagen und hatten die rumänischen Repressionen zu ertragen.

Ganz explizit handelt davon Wass‘ zweiter Roman Csaba, der den Kampf eines jungen Mannes um die Gründung einer ungarischen Schule in rumänischer Umgegend darstellt. Wass‘ hohes Ethos kommt hier wunderbar zum Vorschein. Schon der Achtzehnjährige hatte eine kurze Parabel von einem Manne geschrieben, der aus Sandkörnern, nicht aus Marmor oder Stein, zu Gottes Ehren Säulen baut. Sie werden von seinem Glauben zusammengehalten. Die Menschen halten ihn für verrückt und als die Säulen die Winde und Stürme überstehen, reißen sie diese in ihrer Wut und Ohnmacht mit eigenen Händen ein.

Der Mann jedoch klagt nicht, sondern beginnt den Bau erneut, getragen vom unerschütterlichen Glauben an Gott und an seine Sache. Ganz ähnlich baute Csaba – Prinz Csaba, ein Hunnenkrieger, war der mythische Anführer der Székler – diese Schule auf, die das sprachliche und kulturelle Erbe seiner Vorfahren gegen die politischen Widerstände verteidigen sollte.

Was Wass damals noch nicht ahnen konnte, war die Tatsache, daß sein Lebenskampf diesen beiden literarischen Figuren ähneln würde … Seine Lehre: Kulturen werden Stein für Stein erbaut, zusammengehalten von menschlichen Beziehungen; zuerst im kleinen Kreis, dann in der Gemeinschaft, getragen von Gott; zerstört werden sie vom Haß.

Nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch (30. 8. 1940) wurde der nördliche Teil Erdélys – in dem die Mehrzahl der Ungarn lebte – dem Mutterland zurückgegeben. Damit wurden Staat und Regierung zwar Spielball Hitlers, erlebt wurde dies freilich als beglückend. Die Grenzführung ging mitten durch die Ländereien der Familie.

Albert Wass entwickelte nun eine regelrechte Arbeitswut. In kurzer Folge erscheinen mehrere Romane, von denen nur einige hier Erwähnung finden, das vielfältige thematische und stilistische Spektrum andeutend. Bis die Bäume wachsen ist eine ergreifende Geschichte eines Neuanfangs nach totaler Vernichtung, die melancholisch endet, nämlich in der bitteren Einsicht, daß der Kampf der Alten von den fortschrittlichen Jungen nicht fortgesetzt wird, daß die Generationen sich mit der Moderne immer weiter voneinander entfremden.

Später weitet er die Geschichte in Im Schatten des Schlosses zur Familienchronik aus. In seinen persönlichen Erinnerungen Sie kommen! beschreibt Wass die unbändige Freude über die Rückkehr zum Heimatland, aber auch die Grausamkeiten, die in jenen zwei Wochen auf beiden Seiten stattfanden, als Menschen- und Militärmassen in langen Zügen die Seiten wechselten.

Der geheimnisvolle Rehbock wiederum stellt eine persönlich gefärbte Novellensammlung dar, in der unter anderem das Lied der mystischen Schönheit der siebenbürgischen Natur gesungen wird. Natur ist bei Wass immer mehr als man sieht, etwas Unbegreifliches; er ist ein sensueller Autor, der alle Sinne anspricht.

Die politische Konzession des Wiener Schiedsspruches war, wie erwähnt, die engere Bindung Ungarns an Hitlerdeutschland. Horthys und Telekis außenpolitischer Versuch, zwischen Deutschland und den Alliierten zu lavieren, mußte nun scheitern – Ungarn wurde ins Kriegsgeschehen verwickelt. Auch Wass dient seit 1942 im Heer, anfangs an der östlichen Front in der Ukraine, was ihm zwei Mal das Eiserne Kreuz einbringt, später als Adjutant des eigensinnigen Generals Lajos Veress.

Zum Kriegsende erlebt er die Besetzung seines Heimatlandes durch die Russen und muß schmerzhaft den langen Rückzug miterleben. Nach der Niederlage entscheidet er sich für die Emigration, ein letzter Flüchtlingszug und der Zufall führen ihn und seine Familie nach Blaibach im Bayerischen Wald, wo er vier Jahre bei einer Bauernfamilie arbeiten wird. Hier, in Deutschland entstehen seine beiden bedeutendsten und erfolgreichsten Romane: Gebt mir meine Berge zurück! und Die Hexe von Funtinel.

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Mit diesen Werken findet Wass einen vollkommen neuen und einzigartigen Ton – sie stehen einsam innerhalb seines Oeuvres, das am Ende über vierzig Romane und mehr als sechzig Bände umfassen wird und noch immer nicht vollständig erschlossen ist, ja, sie stehen auch einsam in der ungarischen und sogar der europäischen Literatur.

Von beiden Werken gab es deutsche Übersetzungen: die eine, in kleiner Auflage in der Schweiz erschienen, ist wirkungslos geblieben und komplett vom Markt verschwunden, die andere in einer sehr freien und stark gekürzten Übersetzung, der es nicht gelingt, die Seele dieser geheimnisvollen Prosa einzufangen.

Wollte man an ein literarisches Vorbild erinnern, so müßte der Name Knut Hamsun fallen. Man darf diese Bücher als Weisheitsliteratur bezeichnen. Mit rätselhaft kargen sprachlichen Mitteln gelingt es Wass, eine Atmosphäre zu schaffen, die den Leser unmittelbar ergreift, und Situationen herbeizuführen, deren Lehrgehalt etwas Metaphysisches und Transzendentes hat.

Wass entwirft in vielen seiner Geschichten – als ein Stilmittel – starke sinntragende und als Leitfaden genutzte Bilder. Immer wieder beschäftigt ihn die Frage nach der Existenz Gottes – in seinem großen europäischen Roman Die Spur verliert sich, einem literarischen Gottesbeweis, wird sie explizit behandelt und beantwortet. In fast allen Romanen geht er der Frage nach der Unabsehbarkeit der Folgen menschlichen Handelns nach. Die Bedeutung von Ordnung, Haus und Heimat, die Schönheit und Einfügung in die Natur, die Wälder, die Berge, das Wild, der Wechsel der Jahreszeiten sind wiederkehrende Motive.

Ein natürlich und traditionell geregeltes Leben, das durch die Befreiung des Wiener Schiedsspruches nach jenen „zwanzig Jahren freudloser Trauer“ auch volklich glücken kann, wird durch den gewaltsamen Einbruch der konkret historischen Ereignisse – etwa die Eroberung durch die Russen – oder der des „Fortschritts“ und der Technik in einen Alptraum verwandelt, eine scheinbar endlose Leidensgeschichte, in der nicht nur das „Was ist der Mensch dem Menschen“ abgehandelt wird (das wäre noch der Hamsunsche Raum), sondern es wird auch das Anthropologische in den historischen Horizont und damit die Frage nach dem menschlichen Wesen und Verhalten unter verschiedensten politischen Systemen gestellt.

Am Ende gibt es keine Fügung, die handelnden Personen müssen die Vertikalspannung in sich selber aufbauen, um weiterleben zu können. Das Leben ist als ein je Individuelles in den Zeitstrom geworfen. Es kann nur glücken, wenn der innere Wertekanon stabil bleibt, denn das Wesentliche bleibt unverändert, mögen sich die äußeren Bedingungen auch wandeln. Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit dürften die Zentralkategorien dieses Lebens und Werkes sein. Wass gelingt es fast mirakulös, selbst einfachste Sätze und Dialoge zu spürbaren Lebenserfahrungen zu machen.

Diese beiden Bücher allein reihen ihn in die erste Reihe der Weltliteratur ein. Einem Brief können wir entnehmen, daß er 1949 davon ausging, für den Literaturnobelpreis nominiert worden zu sein.

Schließlich emigrierte Wass 1952 mit vier seiner fünf Söhne in die USA, der jüngste blieb mit der Mutter in Hamburg und wurde Deutscher. In Amerika erfährt Wass von seiner Verurteilung zum Kriegsverbrecher durch die rumänischen Behörden. Diese Tatsache wurde immer wieder gegen Wass und sein Werk angeführt. Historische Untersuchungen weisen hingegen darauf hin, daß es sich um einen politisch motivierten Schauprozeß handelte.

Auch amerikanische Behörden widerlegten später die Vorwürfe. Insbesondere das kommunistische Rumänien hatte ein vitales Interesse, einen Autor, der die magyarische Identität der ungarischen Minderheit stärkte, zu verteufeln. Mehrfach wurde von Securitate-Agenten versucht, den Autor in seinem neuen Domizil zu töten.

Dort, in Florida, verbrachte er den zweiten Teil seines Lebens, mehr als 45 Jahre, europäischen Boden betrat er nicht mehr. Seine Bücher zeigen nun auch oft einen antikommunistischen Affekt, etwa seine beiden Schelmenromane, in denen ein schlauer Székler die Aporien kommunistischer Nomenklatura ausnutzt.

Albert Wass - IMDb

Im Heimatland wurde Wass vergessen, der umtriebigen Arbeit, sein Werk und seine Ideen in den USA bekanntzumachen, war nur wenig Erfolg beschieden. Unermüdlich schrieb er auf Ungarisch und Englisch weiter, zahlreiche Bücher und unzählige Artikel. Mit dem dreibändigen Schwert und Sense, einer die Jahrhunderte überspannenden Familienchronik und der Bericht eines Bevölkerungsaustausches, gelang ihm noch einmal ein großer Wurf. Die Sammlung seiner autobiographischen Schriften beweist die enge Verknüpfung von konkreter Lebenserfahrung und literarischem Geschehen.

Die ungarische Öffentlichkeit erfuhr davon erst nach dem gesellschaftlichen Wandel und nach seinem Tode 1998. Am 17. Februar beendete Wass sein stets selbstbestimmtes Leben durch den Freitod.

In seinem Heimatland wurden seine Werke neu entdeckt und erlangten plötzlich hohe Auflagen. Seine beiden wichtigsten Romane gehören nun zum nationalen Kanon und wurden unter die beliebtesten ungarischen Romane aller Zeiten gewählt. Es ist an der Zeit, Wass als Autor und Mensch auch in Deutschland wieder zu entdecken.

Seit heute kann man das!

Albert Wass: Gebt mir meine Berge zurück! – 248 Seiten, mit einem Nachwort von Jörg Seidel, gebunden mit Schutzumschlag, 24,00 €  – hier bestellen. Das Buch wird ab heute ausgeliefert!
 

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Nationalfeiertag in Ungarn

Sándor Petőfi und das Nationallied

Er war der erste, der in den einfachen Menschen das Bewußtsein weckte, was es eigentlich bedeute, ein Volk zu sein. Was das Wort „Heimat“ bedeute. Und damit verbunden, das Wort „Freiheit“. Denn er konnte beide nicht voneinander trennen.  László F. Földényi

Schon Tage zuvor tauchen sie auf, die Nationalkokarden in den ungarischen Landesfarben. Zuerst auf den Märkten, dann in den Auslagen und Schaufenstern und schließlich an den Revers, Schals und Kragen der Menschen. Bald ist der 15. März, der Nationalfeiertag.

Ungarn hat mehrere davon, doch die Erinnerung an die Revolution von 1848 sitzt am tiefsten, auch wenn sie von allen Regimes und Regierungen immer wieder instrumentalisiert und umgedeutet wurde. Eine Umfrage Ende der 90er Jahre sah den 15. März mit mehr als 50% Zustimmung weit in Front, immerhin wollten viele noch den 20. August, den Sankt-Stephans-Tag als bedeutsamstes Ereignis sehen, aber nur 4% werteten den 23. Oktober hoch, der Tag, an dem 1956 der Ungarische Aufstand losbrach[1]. Weiterlesen

Hans im Glück

Endlich mal wieder etwas ohne Verwertungsabsicht lesen, das war die Idee, als ich erneut zu Henrik Pontoppidans „Lykke Per“ griff, zum dritten Mal im Leben, zum zweiten Mal auf Dänisch, die anderen Lektüren liegen 15, 16 Jahre zurück. Und selbst wenn man diesen gigantischen Roman in aller Kürze besprechen will, steht man vor schier unlösbaren Aufgaben, denn an Fülle der Gedanken und an Größe der Konstruktion kann man ihn mit den großen Werken Dostojewskis, Tolstois oder Thomas Manns etc. vergleichen. Weiterlesen

Dialektik der Natur

Ein Kennzeichen großer Literatur ist ihre Reaktualisierbarkeit – sie mag unter anderen Vorzeichen entstanden sein, enthält aber genügend Schichten, um auch später noch ausgrabbar zu sein. Große Literatur kann sich durchaus in der kleinen Form verstecken. Ein schönes feines Nugget wurde mir dieser Tage zugespült, eine Geschichte von überraschender Vollkommenheit und aktueller Brisanz. Weiterlesen

Géza der Bär

Fortsetzung von: Bären und Salamander

Unser Herbergsvater hat auch das Wesen – und das Aussehen – eines Bären. Mit tapsigen Schritten ist er ununterbrochen unterwegs, organsiert, läuft, redet. Jeden Abend kommen neue Gäste und jeden Abend reden sie sich bei Pálinka und Csiki-Bier die Köpfe heiß. Weiterlesen

Das Problem mit den „Satanischen Versen“

Vielleicht sehen sie auch, daß die Kontroverse um die Satanischen Verse im Grunde ein Streit um die Frage war, wer die Macht über die große Erzählung, die Geschichte des Islams, ausüben soll, und um die Meinung, daß diese Macht allen Gläubigen gleichermaßen zusteht. (Salman Rushdie)
Romanfiguren werden geschaffen, damit sie auf eigene Rechnung leben. (Umberto Eco)

Vor 33 Jahren wurde die Fatwa gegen Salman Rushdie, den Verfasser des bedeutenden Buches „Die Satanischen Verse“, verhängt. Gestern gab es den vermutlich ersten erfolgreichen Versuch, sie durchzuführen. Warum aber hassen viele Muslime den Mann und das Buch? Weiterlesen

Edzard Schapers Wiedererweckung

Gesamtauflage sechs Millionen und heute dennoch nahezu unbekannt – wie ist das möglich? Dies ist nur eine von vielen Fragen, denen Uwe Wolff in seiner bedeutenden Edzard-Schaper-Biographie nachgeht. Bedeutend ist sie nicht nur für Wolff, den Angelologen, den Schüler Blumenbergs, den Autor bei „Tumult“, der „Tagespost“ und „NZZ“, der in Schaper eine verwandte Seele mit ähnlichen inneren Wandlungen entdeckt, bedeutend ist sie vor allem, weil sie zum einen genuine Archivarchäologie betreibt und seltene Funde hervorbringt und zum anderen in eine aus deutscher Sicht wenig beachtete historische Komplexität einführt: in das gesellschaftliche und politische Leben des Baltikums und Skandinaviens, das vom deutschen Schicksal nicht zu trennen ist.

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Orientierung am Großen

Als Edzard Schaper im Jahre 1937 Rilkes „Malte Laurids Brigge“ las, da war er bereits ein gestandener und viel gelesener Autor. Er hatte einen Vertrag beim Insel-Verlag, war mit der Verlegerin Katharina Kippenberg fast mehr als schicklich befreundet, hatte insbesondere mit seinem Roman „Die sterbende Kirche“ schon ein Hauptwerk aufzuweisen und fiel nach besagter Lektüre dennoch in eine Schaffenskrise. Die Ursachen dafür waren zwar vielfältig und zum Teil auch sehr privat – wie uns sein verdienstvoller Biograph belehrt – aber für unsere Zwecke konzentrieren wir uns auf die fatale Rilke-Lektüre. Weiterlesen

Russen und Ukrainer

Zwei Fragen zuvor: Darf man aus verschiedenen Nationalliteraturen auf so etwas wie einen „Volkscharakter“ schließen? Und darf man über etwas schreiben, von dem man eigentlich keine Ahnung hat? Beide Fragen werden hier mit „ja“ beantwortet, nicht weil die Antwort als unbedingt richtig angesehen wird, sondern nur, weil ich sonst diesen Text nicht schreiben dürfte.

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Die Welt nach Harry Potter

Ich traue meinen Ohren nicht – im ungarischen Oppositionsradio gibt’s ein langes Feature zu Harry Potter und seinen Verfilmungen. Das kann nur eines bedeuten: der Ungeist weht noch immer. Hier mein Bannspruch, ausgesprochen vor über 20 Jahren, hier auch schon mal präsentiert, aber noch immer gültig und offensichtlich notwendig.

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Sexualität und Wahrheit

Mal wieder der Zufall.

In einer Tageszeitung lese ich eine Hommage an Elfriede Jelinek – Nobelpreisträgerin! Sie ist klammheimlich 75 Jahre alt geworden.

Gleichentags die Nachricht, daß eine Antje Rávik Strubel – das „Rávik“ ist eine Art Blackfacing oder Migrationssimulation oder was weiß ich, jedenfalls ein Künstlername – den Deutschen Buchpreis gewonnen hat und zwar mit einem Roman – laut Verlagstext –, der von einer jungen Tschechin handelt, die sich in die Ferne sehnt, nach Berlin geht, ein sexuelles Gewalterlebnis hat, sich in einen Plattenbau zurückzieht, dann nach Helsinki zieht, dort einen estnischen Professor kennenlernt, der Abgeordneter der EU ist, sich in sie verliebt und sich für Menschenrechte stark macht, während sie einen Ausweg aus ihrem inneren Exil sucht, verursacht durch die Vergewaltigung.

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Aus der Zeit gefallen – Nadolny

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Nadolny, der Erzähler, fällt gleich mit der Tür ins Haus. Schon der Titel seines Romans – „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – ist programmatisch und sein erster Satz ringt alle Ambiguität nieder: „John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, daß er keinen Ball fangen konnte.“ Stattdessen hielt er stundenlang das Seil und blickte durch die Aktivitäten der anderen Kinder hindurch in eine andere Zeitdimension.

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Aus der Zeit gefallen – Jünger

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Es fällt dem Leser Vesaas‘ mitunter schwer, sich seinen Helden Matti als erwachsenen Mann vorzustellen, so „kindlich“ sind seine Gedankengänge, seine Handlungen, seine Sprache. Dieses Problem hat Ernst Jüngers Figur aus „Die Zwille“  nicht, denn Clamor Ebling ist gerade – zu Beginn der Handlung – Schüler eines Gymnasiums geworden. Sein Lebensweg wurde von einem Vormund umgelenkt, er wurde „verpflanzt“, aus seiner dörflichen Heimat, aus seinem Horizont herausgerissen und ins Stadtleben geworfen. Für Clamor beginnt eine Schreckenszeit, in der ihn die Angst regiert. Jünger macht aus dem Leid kein Hehl, immer wieder benennt er die Defizite des Jungen mit aller Klarheit – „das Tier“ Angst „lag immer auf der Lauer“:

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Aus der Zeit gefallen – Vesaas

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Johannes Møllehave hatte irgendwo geschrieben, er halte Tarjej Vesaas‘ Roman „Fuglane“ – „Die Vögel“ – für die wichtigste Lektüre seines Lebens und Ove Knausgård adelte den Roman als den besten norwegischen aller Zeiten. Der verdienstvolle Guggolz-Verlag, dem wir auch das wundersame „Straumeni“ verdanken, hatte letztes Jahr nun auch Vesaas dem deutschen Publikum in neuer Übersetzung ins Gedächtnis gerufen. Allerdings war Vesaas nie – wie im Feuilleton immer wieder betont wird – ein „wiederentdeckter“ oder „vergessener“ Autor, weder in Deutschland noch in Skandinavien. Erstens hatten Benziger und Hinstorff in den 60er Jahren hüben wie drüben Vesaas verlegt und zweitens war der Autor in der skandinavischen Literatur stetig präsent und diskutiert. Da wurde eigene Unkenntnis zu schnell verallgemeinert.

Das ist deswegen erwähnenswert, weil das unisono überschwengliche Urteil im Feuilleton dadurch relativiert wird und man sich folglich fragen muß, weshalb der fast 65 Jahre alte Roman nun Begeisterungsstürme provoziert.

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Textkritisch übersetzen

Fortsetzung von: Sándor Márai und die Russen und: Meditationen über das Fremde

Man kann die Frage ganz prinzipiell stellen: ab wann darf man einen Klassiker überhaupt kritisieren in Form des Weglassens, Korrigierens oder Übersetzens? Ein systemisches Problem des Lektorats ist es, daß der Autor den Lektoren oder Übersetzer in der Regel überragen sollte. Dem Lektor obliegt es, stilistische, sprachliche, grammatische und auch sachliche Fehler eines Textes ausfindig zu machen, selbstverständlich kann er auch seine Sicht zur Konstruktion eines Kunstwerkes äußern, aber der Autor sollte dennoch die Hoheit über sein Werk nie abgeben müssen. Solange er lebt, kann er seine Interessen und Ansichten vertreten – nach seinem Tode ist sein Text wehrlos.

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