Es könnte alles so einfach sein. Da hat ein seltsamer Mensch, ein Mann, der sich als „Nonbinär“ definiert, ein Buch geschrieben und die Jury läßt ihn damit – ganz zeitgeistkonform und natürlich politisch motiviert – den renommierten „Deutschen Buchpreis“ gewinnen. Das bizarre Wesen, in billigen Flitter gekleidet, geschminkt und mit Schnauzbart hält eine alberne Rede, singt mit dünnem Stimmchen ein peinliches Lied auf offener Bühne und holt zum Schluß einen Rasierapparat hervor, um sich die Haare zu scheren – als Zeichen seiner Solidarität mit irgendwem. Es selbst, dieses Wesen, räumt ein, daß die Preisrichter wohl „ein politisches Zeichen“ setzen wollten, seine Redebeiträge strahlen eine umfassende Mittelmäßigkeit aus, selten entläßt sein Mund einen Gedanken von Bedeutung … das alles macht uns das Urteil leicht.
Und dann lesen wir ein paar Zitate aus dem Buch und finden die Bestätigung:
„Ich habe nicht primär das Bedürfnis, Schwänze in mir zu spüren, ich habe das Bedürfnis, mich zu spüren, jenen pulsierenden Mantel um die Schwänze. Dieser Körper ist in der Lage, außerordentliche Dinge in sich aufzunehmen ….“
„… dann gehe ich nach Hause, Samen noch in und Geruch von fremdem Mann an mir, ein warmes Gefühl in meiner leeren Mitte, das mich auf die Dauer des Heimwegs auffüllt.“
„Ich brauche eure Hände, boys, … ich brauche eure Zungen, Schwänze, Ärsche, Nippel, Läppchen, Lappen, Sabber, Glibber, Schäfte, Säfte, alles, ich brauche euer Rammeln, das ihr in euch selbst rammelt, weil ihr sonst vor Wertlosigkeit vergammelt, ich brauche eure boyness, hyperboyish boys, nehmt mich, räumt mich aus und füllt mich auf, mein Gaumen sei euch Fußabtreter, ja, mein Gaumen, der so leer, mein Gaumen gähnt, kommt, füll mich auf …“
„… und wir wünschen uns insgeheim immer noch, daß sie mit ihren behaarten Händen unsere schneeweißen, hasengleich zitternden Ärsche packen und mit ihren Stierhoden so lange an das Portal unserer Gedärme pochen, bis wir blind vor Schmerz und Lust ihrem fremden Samen Einlaß gebieten in unsere hiesigen Niederungen“.
Und hier stoppe ich, dergleichen Pornographie findet sich die Menge.
Oder lesen wir das:
„Wie kann ich meine story tellen?“
„Da fiel mir auf, daß ich noch keinen Libanesen hatte in meinem Archiv, fuck und shit, daß mir das auffiel, fuckshit, und mir fiel ebenfalls auf, daß ich das niemals nie meinen um Antirassismus bemühten Freund*innen erzählen könnte, doublefuckshit, daß wir über Hormontherapien und transgenerationale Traumata sprechen, aber nicht über den Rassismus, den mensch uns mit dem Schnuller eingetrichtert hat und der nicht einfach aufhört zu wirken, auch wenn wir uns gegen ihn entscheiden, Triplefuckshit-Scham vor mir selbst, get out, du europäische Erziehung.“
Was soll das sein? Deutsch? Literatur? Oder doch Wahnsinn eines komplett kaputten Geistes? Eines menschlichen Wracks? Ideologie? Selbsthaß? Alles ist drin, schön geht anders.
Es wäre so leicht, derart zu urteilen, abzuurteilen.
Allein, dieser Kim hat tatsächlich in zehnjähriger Arbeit ein großes Buch geschrieben, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Die Differenz von gesprochenem und geschriebenem Wort ist eklatant. Absolut preiswürdig – ohne die anderen Kandidaten zu kennen.
Das mag nicht jeder so sehen. Zum einen gibt es Einstiegshürden – das ist der angedeutete explizite Inhalt, der nach neueren Regelungen eigentlich eine Triggerwarnung seitens des Verlages verdient hätte, und das ist zum anderen eine gewisse Theorielastigkeit des Textes, der immer wieder mit Referenzen postmoderner Philosophie, Gendertheorie und überhaupt allen Themen der woken Klasse aufwartet, mit autopoetischen Überlegungen oder auch mit dentrologischen Aussagen. Man muß kein Experte sein, aber vollkommen unbeleckte Leser könnten diese Passagen als Längen empfinden.
Schließlich dürfte es auch für Sprachpuristen eine Zumutung werden. Wir haben es mit einer multiplen Persönlichkeit zu tun, die entsprechend viele Sprachen, besser: Spracharten spricht und dies oft wild durcheinander. Sie fragt: „Was ist, wenn ein Inhalt nicht in einer ,schönen Sprache‘ gemeistert werden kann? Oder was ist, wenn die Sprache aus ihrer Form fließt oder in verschiedene Formen plumpsen will?“ Klassik wird dann zum Gegner, wie überhaupt alles, was eine strenge Ordnung hat: „Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Meistersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“ Stattdessen will er einen „naughty text“ schaffen, „der einfach nicht straight sein will“, der sich ständig „wegdreht wegquengelt wegqueert“.
Man muß Kims Rat folgen und den Text so in sich einlassen wie sein Schließmuskel die steifen Glieder, indem man locker läßt, indem man sich darauf einläßt, dann entwickelt der Text tatsächlich einen seltsam magischen Sog; man kann ihn nicht mehr weglegen und möchte ihn zugleich angewidert in die Ecke feuern. Alles, fast alles was der Erzähler erzählt, ist mir fremd, unbekannt und oft zuwider, aber er macht mir ihn verstehbar, in seiner kleinen, engen Geistes- und Gefühlswelt. Da er sich mit Gleichgesinnten umgibt, kann der Eindruck entstehen, wir hätten es mit einer großen Gesellschaft zu tun, und vielleicht ist sie auch größer als viele ahnen, aber es ist noch immer eine Mikrowelt, wohl auch im Schwulenbereich nur eine Facette.
Wichtig ist der Text als Signum der Zeit, als Symbol, vielleicht auch als Generationentext. Kim ist 30 Jahre alt und gehört zur Generation der „apolitical self-fulfillers between the boomer generation and gen Z“, der Generation des leistungslosen Einkommens, die ohne materielle Nöte und ohne Zukunftsängste aufwuchs, die, wenn sie einmal Gebrauch von ihren Händen macht, Löcher im Sand am Strand buddelt, eine Generation voller „Selbsthaß über unser wohlstandsverwahrlostes Weißsein“. Sie ist wohlbehütet und ohne Zukunftssorgen aufgewachsen und fühlt sich selbst aber traumatisiert, sucht daher ständig in der Asche der eigenen Kindheit nach schlimmen Verletzungen und findet nur Banalitäten – etwa einen Teddy, den die Mutter nicht genäht hatte –, die zu schwärenden Wunden erklärt werden. „Familie ist die Verbindung, die durch das Vererben persönlicher Traumata entsteht, Kultur die Verbindung, die durch das Vererben kollektiver Traumata entsteht.“
Diese Generation hat nichts Beständiges in sich, keine festen Beziehungen, keinen Platz – Heimat ist kein Ort, sondern eine Zeit –, auch keine Sprache: „Die Meersprache ist kein Zuhause. Sie ist eine Drohung.“ Meer ist schweizerisch für Mutter. Und selbst der Körper verschwimmt, wird beim Raspeln abgeraspelt, hat keine Grenze, keine rechte Haut und wird auch nicht gespürt. Das fremde Glied im eigenen Gedärm ist die letzte Evidenz in einer Welt, in der die Trennung von Subjekt-Objekt, von Materie und Geist verschwimmt, in der die Dinge in die Menschen zurückschauen.
Die innere Unruhe überträgt sich auf den Text, treibt ihn voran. Wie man das leben kann, ist mir ein Rätsel, lesen hingegen kann man es sehr wohl – sofern man den sicheren Hafen des eigentlichen Denkens und Dichtens hat.
Ja, es ist ein „Grenzen sprengendes“, „oszillierendes Debüt“[1], ja, es hat sehr poetische und gelungene Stellen, ja, es weist auch Durchdachtes und sicher Komponiertes auf, aber ich weigere mich, es originell zu nennen. Autofiktion ist das Abgeschmackteste, was es seit ein paar Jahren gibt und im Grunde genommen tut Kim nichts anderes, als das zu verwirklichen, was seiner Auffassung nach die philosophische Postmoderne vor mehr als einem halben Jahrhundert postuliert und befreit hatte.
Dazu später eine Fortsetzung.
Jetzt nur die „Empfehlung“: Kim de l’Horizon: Blutbuch. Roman, DuMont Verlag, Köln 2022. 303 (334) S. 24 €
Es gibt Texte, die leuchten tief hinein in die Obsessionen der menschlichen Seele. Einige davon habe ich gelesen. P. hat recht, ab Seite x ist de Sade nur noch langweilig. Man muss die zwanzigste Vergewaltigung von Jünglingen und jungen Mädchen nicht lesen und schätzen. Als sexueller Normalmensch. Natürlich ziehen sexuell abseitige Charactere daraus ihr Vergnügen. Um einen solchen scheint es sich bei diesem Kim zu handeln. Ihm dafür einen deutschen Buchpreis zu geben, halte ich für kulturellen Schwachsinn. Aber vielleicht ist diese Gesellschaft insgesamt und kulturell schon schwachsinnig genug, das zu tun. Dann sei es so, als Ausdruck des Zeitgeistes.
P.S. Wie bereits gesagt, lese ich jetzt zum dritten Mal hintereinander mit viel Genuss Ullysses von Joyce. Sein Buch wurde nach dem Erscheinen von der etablierten Kritikerszene und dem Feuilleton hart attackiert, wegen der oft drastischen Sexszenen, die im Dubliner Alltag halt vorkommen. Ich glaube jedoch nicht, dass die sexuellen Phantasien eines abseitigen Jünglings überhöht und mit einem Buchpreis zur kulturellen Norm verklärt werden sollten. Sie stehen nur für die Realität einer winzigsten Minderheit. Auch hier wird niemand dem deutschen Vorbild folgen und ihn für den Nobelpreis vorschlagen. Hoffe ich.
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Wir müssen uns vermutlich von der Vorstellung verabschieden, daß diese Preise rein nach künstlerischen Kriterien vergeben werden – vielleicht wurden sie das nie. Allerdings vermutlich nie so offensichtlich ideologiegesteuert. Letztes Jahr gewann Antje Rávik Strubel den DB – auch das war problematisch. siehe Sexualität und Wahrheit. Es ist ohnehin auffällig, daß die moderne Literatur sich sehr oft extrem stark über Sexualität definiert. Auch Kims Identität ist eine rein sexuelle, diese Leben sind vollkommen vom Sex ausgefüllt und besessen. Das ist überhaupt nur möglich, wenn man notlos lebt und auch nichts wirkliches zu tun hat, sein täglich Brot nicht hart erarbeiten muß.
Auch darf man sich nicht vom Titel „DEUTSCHER Buchpreis“ irreführen lassen. Die Jury repräsentiert zuvörderst nur sich selbst, sie maßt sich diesen Titel an.
Die Preisvergabe komplementiert auch perfekt den diesjährigen Nobel-Preis. Annie Ernaux ist die Altmeisterin des autofiktionalen Romans, also des dauernden Umssichselbstkreisens. Kim zitiert sie mehrfach. Das ist das eigentlich Bedeutsame – weniger die sexuellen Eskapaden -, daß moderne Literatur immer stärker zur Selbstbespiegelung tendiert. Große Erzählwerke werden rar und sind selten gut gemacht. Tellkamp vielleicht?
Ja, lesen Sie Joyce! Ich wollte einen anderen Triester wieder lesen: Svevo. Aber zuvor kommt Pontoppidans opus magnum „Lykke Per“.
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Aus einer Kritik von Frédéric Beigbeder von 2016 auf Mémoire de fille von Annie Ernaux:
« … Récapitulons: en un demi-siècle, Annie Ernaux a successivement écrit sur son père, sa mère, son amant, son avortement, la maladie de sa mère, son deuil, son hypermarché. Cette fois c’est sur son dépucelage raté … »
„… Fassen wir es zusammen: In einem halben Jahrhundert hat Annie Ernaux nacheinander über ihren Vater, ihre Mutter, ihren Geliebten, ihre Abtreibung, die Krankheit ihrer Mutter, ihre Trauer, ihren Supermarkt geschrieben. Diesmal über ihre vermurkste Entjungferung …“
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Schwelgen in den Fetischen einer Para-, aber genauso einer Orthophilie stößt Menschen ab, die diese nicht teilen, jedenfalls solange diese nicht zu einer Hochschätzung des gerade sozial Angesagten verbildet sind. Gegenüber der Öffentlichkeit kann natürlich auch Heuchelei die nicht ausreichende Verbildung vorteilhaft ersetzen.
Man versuche, ohne die entsprechenden Präferenzen Genets Querelle de Brest, Sacher-Masochs Venus im Pelz oder einen der vielen Wunscherfüllungsromane von de Sade zu lesen, und man wird bemerken, dass einen das bald nurmehr langweilt. Bei de Sades 120 Tagen von Sodom habe ich nur ein einziges Mal Vergnügen enpfunden, nämlich bei der „Buchhaltung“ am Ende des Gemetzels, mit der der Autor gewissenhaft oder eher obsessiv, dabei aber erfolglos versucht, eine unerklärt abgängige Person aus der Opfergruppe wieder aufzutreiben und sich dann gewissenhaft Vorwürfe macht, dass seine Nummern nicht zusammenstimmen.
Ich finde jedenfalls den Oberschenkelstumpf von Frau Mary K und alles, was sich darum spinnt, sehr viel reizvoller als jede angeblich aufreizende Literatur.
Ulrich Schkaer:
Guter Vergleich; ich dachte gestern spontan an den interpunktionsfreien Mega-Monolog der Molly Bloom.
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„Wichtig ist der Text als Signum der Zeit, als Symbol, vielleicht auch als Generationentext.“
Nach meiner Ansicht und Lebenserfahrung sagt dieser „Text“ (- soll ein Roman sein) nichts über die Generation der 30-Jährigen. Hier entblösst sich ein schwuler Exhibitionist. Nicht weniger, nicht mehr.
Man denkt: So etwas gibt es also auch in dem Menchenzoo.
Roger Peyrefitte hat elegant bis drastisch über ähnliche Vorlieben geschrieben, Sprachlich noch deutlich oberhalb der Ebene des nun preisgeehrten „Textes“ liegt die Autobiografie „Schweine müssen nackt sein“, de Autor nannte sich Napoleon Seyfarth. (Der Nachname war echt.) Dieser Napoleon gehörte zu den „Schwestern der Perpetuellen Indulgenz“, die sich von dem Kim durch Wort- und Bildwitz auszeichneten.
Immerhin hat der Kim den Horizont zu wissen, dass die vollständige Bewunderung des Feuilletons und der Linken nur mit einer tagespolitischen Aktion erreichbar ist. Die Sache mit dem Iran und dem Haareschneiden war werbetechnisch grandios.
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@ Nordlicht
„Nach meiner Ansicht und Lebenserfahrung“ – und nach Ihrer Lektüreerfahrung? Nur die zählt hier.
“ dieser „Text“ (- soll ein Roman sein)“ – ist aber kein Roman, sondern ausdrücklich ein „Text“, der sich in die Diskussion um „Texte“ einmischen will und darauf reagiert, „den Text“ also fortschreibt.
„Hier entblösst sich ein schwuler Exhibitionist“ – Mag sein. Das sagt aber nichts über die literarische Qualität und Bedeutung aus, ist also irrelevant.
@ Pérégrinateur
Es wird dazu – vielleicht an anderer Stelle – noch eine Besprechung geben, die von diesem Standpunkt aus beginnt, also die Frage der Originalität im Literatur- und Philosophiegeschichtsverlauf. Mir geht es bei den genannten Lektüren ähnlich. Aber Kims Text ist nur partiell mit diesen zu vergleichen, das ist nur eine Facette.
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