Die Stimme des Volkes

Wenn das Volk spricht, dann geschieht das oft nicht in Worten, sondern in Entscheidungen, in massenhaften Handlungen und selbst wenn diese an sich bedeutungslos sind, lassen sich aus der Summe Rückschlüsse ziehen.

In Ungarn geht gerade ein Musikvideo viral. Noch nicht mal eine Woche auf Youtube einzusehen, wurde es bereits dreieinhalb Millionen Mal angeschaut und das bei einem Staatsvolk von nur neun Millionen. Da es sich um Rap-Musik handelt, darf man vor allem die Jugend als Interessent vermuten. Weiterlesen

Die zwei Pink Floyd

Pink Floyds Comeback“, „Pink Floyd treffen sich erstmals seit 30 Jahren”, „Pink Floyd reunite“ … derart sensationalistisch klangen die Zeilen der letzten Tage. Ein entsprechendes Video auf Youtube hatte schon nach wenigen Stunden Millionen von Klicks – die Fangemeinde ist noch immer enorm und die gute Sache lockt zum Gutsein an.

Aber Pink Floyd hat sich gar nicht wiedervereinigt, um einen Protestsong in der Causa Ukraine aufzunehmen, denn jedermann kann sehen, daß mit David Gilmour und Nick Mason nur zwei der drei noch lebenden Legenden am Set waren – es fehlt Roger Waters. Und das ist so erwähnenswert wie folgerichtig.

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Nietzsches Ungarn, Nietzsches Petőfi

Daß Nietzsche sich zu Ende seines schöpferischen Lebens gern als Nachfahre von polnischen Edelleuten ausgab, ist Nietzschelesern wohl bekannt. An der Geschichte ist nach allem Wissen nichts dran und man fand auch keinen genealogischen Grund, weshalb der Überphilosoph diese Selbstbeschreibung wählte.

In einem viel zitierten Brief an Georg Brandes – in Dänemark ist Brandes selbst eine Zentralfigur des geistigen Lebens gewesen –, der als erster eine Vorlesung zu Nietzsches Denken gehalten hatte, was Nietzsche, der Zeit seines Lebens unter der Ignoranz seiner Zeitgenossen litt, euphorisch aufnahm, schrieb er im April 1888: „Meine Vorfahren waren polnische Edelleute (Niëzky); es scheint, daß der Typus gut erhalten ist, trotz dreier deutscher »Mütter«. Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter einzeichnete mich die Fremdenliste Nizzas comme Polanais. Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matejkos vorkomme.“

Wenige Monate später durften sich seine Leser in „Ecce Homo“, seiner letzten zusammenhängenden Schrift, einer autobiographischen Abhandlung unter der Überschrift „Warum ich so weise bin“ über folgende Zeilen wundern: „Und hiermit berühre ich die Frage der Rasse. Ich bin polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tröpfchen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.“

Über die Gründe dieser Maskierung wurde viel spekuliert. Sie auf den „Wahnsinn“ zurückzuführen, überzeugt nicht, denn vergleichbare Äußerungen finden sich in den nachgelassenen Manuskripten bereits seit 1882. Dort, in den Vorstudien zur „Fröhlichen Wissenschaft“ schreibt er, man habe ihn gelehrt, „die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen“[1]. Schon als Knabe, so gesteht er, habe er „keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft“ gehabt.

Man kommt der Wahrheit wohl am nahesten, wenn man den letzten Abschnitt der gedruckten Aussage beachtet: „am wenigsten deutsches“. Dieses „Deutsche“ war aber durchaus ganz konkret gefaßt, denn Nietzsche fuhr fort: „Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter und Schwester – mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit.“[2]

Es dürfte sich um einen Distanzierungsakt von Mutter und Schwester handeln, von Biederkeit und von Antisemitismus, der Nietzsches Verhältnis zu Elisabeth, seit sie mit dem Antisemiten Förster liiert war, schwer belastet hatte.

Weit weniger bekannt und erforscht ist Nietzsches Beziehung zu Ungarn im Allgemeinen und zu Sándor Petőfi im Besonderen – die meisten großen Biographien (Kaufmann, Ross, Althaus, Heyman, Halévy, Safranski, Nolte, Bertram sind die mir bekannten) verschweigen diesen Bezug. Die direkten Spuren dieser geistig-seelischen Liaison führen fast alle ans andere Ende von Nietzsches Leben, in die Kinder- und Jugendzeit zurück. Unter den wenigen späteren Referenzen ragt jedoch eine heraus, weil sie uns die obige These noch einmal zu bestätigen scheint. Nietzsche schrieb im Sommer 1883 an seine Schwester.

„Ich gratulire aufrichtig dem Dr. Förster, daß er noch zur rechten Zeit Europa und die Judenfrage hinter sich gelassen hat. Denn wehe eine Partei, welche genötigt ist, nach so kurzem Bestande schon einen solchen Tisza-Prozeß auf ihr Conto zuschreiben! Ja, wenn der verkommenste Adel der Welt, der ungarische, zu einer Partei gehört, da ist Alles verloren.“[3]

Das ist – soweit zu sehen ist – die einzige Erwähnung des Ungarischen mit negativen Konnotationen und es geht um den ungarischen Antisemitismus. Der hatte sich im „Tisza-Prozeß“, der „Affäre von Tiszaeszlár” zu Nietzsches Abscheu deutlich gemacht. Es handelte sich damals um einen Ritualmordprozeß, der durch die internationalen Gazetten gegangen war. Arnold Zweig schrieb darüber ein preisgekröntes Drama[4] und Gyula Krúdy einen Roman[5]. Ein junges Mädchen war verschwunden, schnell waren Ritualmordphantasien unterwegs und selbst als man die Kleine ertrunken fand, wurde die Mär weitergesponnen und politisch mißbraucht. Und da derartige Fälle in Ungarn keine Seltenheit waren, hält sich bis heute das Gerücht des ungarischen Antisemitismus und wird selbst in modernen Reiseführern kolportiert.

Das waren späte Realitäten, Nietzsches frühes Ungarnbild war hingegen stark von Phantasien geprägt. Als 14-jähriger Pfortaner setzte er sich mit Ferenc Liszt auseinander, anfangs ablehnend, später zusehends verehrend, um ihm noch später Schattenlosigkeit vorzuwerfen[6]. Schließlich sollte er ihm sogar seine erste große Veröffentlichung „Die Geburt der Tragödie“ zusenden, die Liszt nach langem Schweigen und zweimaliger Lektüre bewunderte, zugleich aber deutlich machte, daß ihm die Gedankengänge des jungen Philosophen vollkommen fremd und unerreichbar waren[7]. Ganz anders war die Aufnahme bei Liszts illegitimer Tochter Cosima und deren Gatten – aber das ist eine andere Geschichte.

Schon der Jüngling machte sich immer wieder Listen des Gelesenen, zu Lesenden, zu Bearbeitenden, Pläne über eigene Schriften – eine Eigenart, die der Denker sein gesamtes Leben lang beibehielt. Dort stolpern wir früh über den Namen „Zriny“ bzw. „Zryni“[8] Er war ihm wichtig genug, um ihn in einen Entwurf seines Lebenslaufes aufzunehmen. Die Unsicherheit in der Schreibweise deutet schon auf das Element des Exotischen hin. Korrekt geschrieben – zumindest im ungarischen Original – lautete der Name „Zrínyi“. Den Deutschen klingt er vielleicht fremd, den Ungarn ist er heilig. Miklós Zrínyi ist bis heute einer der großen nationalen Helden, wie so oft in der ungarischen Geschichte aber ein Verlierer, ein Märtyrer. Er und seine Mannen waren es, die im Herbst 1566 Europa vor einem erneuten Türkensturm bewahrten. Soliman der Prächtige stand mit riesigem Heer vor der Wasserburg Szigetvár, westlich von Pécs – sie war die letzte Festung, wäre sie gefallen, dann wäre dem Osmanen Europa bis Wien ausgeliefert gewesen. Die Feste fiel am Ende auch und ihr finaler Akt war das tapfere Selbstopfer Zrínyis und 500 seiner letzten Getreuen, aber die Verluste der Türken waren enorm und unter der Belagerung starb Soliman an Altersschwäche – ein historischer Zufall, der dem Christentum zuhilfe kam – die Türken zogen sich danach nach Istanbul zurück: das Osmanische Reich hatte mit diesem Sultan seinen Höhepunkt überschritten, die meisten Ungarn litten dennoch noch 120 Jahre unter ihrer Herrschaft.

Nietzsche nahm regen Anteil an dieser Schlacht und zwar in Form eines Dramas von Theodor Körner. Das also bedeuteten die Eintragungen: „Zriny. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von 1812“. Die Freunde schrieben sich Briefe darüber, man war offenbar in regem Austausch. Es ist tatsächlich ein Stück, an dem blasse Gymnasiasten entbrennen können[9] – es sollte besser ein „Heldenstück“ genannt werden. Seine Botschaft ist die Tapferkeit, die Standhaftigkeit, die Ehre und die Bereitschaft zum Opfer, es ist eine ergreifende Opferorgie. Am Ende sind alle bereit, Freunde, Frau, Tochter und alle, sich der Sache zu hinzugeben. Zrínyi reitet den letzten legendären Ausbruch, die Tochter wählt lieber den Stahl des Geliebten als die Schändung durch die Türken und die Mutter wirft die Fackel in den Munitionskeller. Und dieses fanatische Heldentum – das man Körner, der sich wenige Monate später im Krieg opferte, auch menschlich abnahm – wurde vom Dichter der ungarischen Seele zugeordnet. Zeilen wie diese:

Sag‘ deinem Großherrn, einem Ungarn sei
Die Ehre mehr als eine Königskrone“
Oder:


„Der Ungar stirbt am liebsten bei dem Ungar,
Von seines Volkes Helden angeführt.“
Oder:


„… wir müssen sterben;
Denn an Ergebung denkt der Ungar nicht,
Der seinen Kaiser liebt und seine Ehre.“

… und viele andere mögen den Knaben schwer beeindruckt und sich tief in die Seele eingegraben haben. Das Bild des Ungarn – wie übrigens auch des Polen (und Serben) als permanenter Freiheitskämpfer – war eingeprägt. Instinktiv trifft er mit seinen Affinitäten eine langbewährte historische Tatsache: die emotionale und historische Nähe beider Völker, die sich bis in die aktuelle Politik des Jahres 2020 fortsetzt.

Auch Lenau steht auf selbiger Liste – dessen Ungarngedichte dürften ebenfalls ein frühes Bild vom fernen Land im Geiste des Eleven evoziert haben.

Es wundert daher nicht, daß der kleine Fritz, als er mit verschiedenen Identitäten und Namen experimentierte, neben einer lateinischen (Freodaricus Niotazius) und polnischen (Fridrisk Nietsky – hier haben wir also die eigentliche Wurzel des späteren Polentums) auch damit spielte, eine magyarische Identität anzunehmen: Imre Szégéni.

Der letzte Name sticht heraus – denn er kokettiert nicht mit dem eigenen – und scheint rätselhaft. Immerhin fällt die Nähe zum ungarischen Wort „szegény“ auf und das heißt „arm“, kann aber auch substantivisch genutzt werden. Imre aber ist die magyarisierte Form von Emmerich und wenn man weiß, daß der Jüngling sich mehrere Jahre mit der Ermanarich-Sage und der Geschichte des legendären Gotenkönigs beschäftigt hat, dann wird wohl auch dieser Name erklärbar. Es finden sich dazu im Nachlaß historische Versuche, eine längere Dichtung und eine Komposition. Er hatte intensiv über mehrere Jahre mit diesem Thema gerungen.

Liest man heute die Arbeiten des 16-jährigen, dann ist man ergriffen von der geistigen Reife. Er legte sich selbst Rechenschaft über sein Schaffen ab und in einem Text, überschrieben mit „Meine literarische Thätigkeit, sodann meine musikalische 1862“, lesen wir über seine Arbeit an einer Ermanarichsymphonie: „Trotzdem schwankte ich noch, wie ich das Produkt taufen sollte, ob ,Ermanarichsymphonie‘ oder ,Serbia‘, da ich den Plan hatte, ähnlich wie in der ,Hungaria‘ Liszt’s geschehen, die Gefühlswelt eines slawischen Volkes in einer Composition zu umfassen.“[10] Dort finden wir auch den lakonischen Eintrag: „Petőfi kennen gelernt.“[11] Diese wichtige Bekanntschaft war offenbar eine Notiz in der Jahresendabrechnung wert.

Wir dürfen den Zeilen eine gewisse romantische Vorstellung über Völkerpsychologie entnehmen, mit Unwissen gepaart. Alles Wilde, Südliche schien den Jüngling zu begeistern und im Furor rechnet er die Ungarn sogar den Slawen zu. Diese Differenzierungen waren offensichtlich nicht bedeutsam, aber die Stimmung, die Seele war es sehr wohl. Das deutsche Publikum frönte ohnehin einer gewissen „Alföld-Romantik“[12]. Er schreibt auch: „Allerdings, es sind keine Goten, keine Deutschen, die ich gezeichnet, es sind – ich wage es zu behaupten – Ungargestalten; der Stoff ist aus der germanischen Welt in die ungarischen Pußten, in die ungarischen Gluthseelen getragen. Und das ist der Hauptfehler des Ganzen.“ Der Fehler – das sah er wohl – war ein künstlerischer. Immer wieder ist von „ungarischer Gluth und Kraft“ oder von „ungarischer Wildheit“ die Rede[13].

Dabei kommt das Ungarische als Interpretationsform des „Ermanarich“ erst später hinzu. Das lag – nachdem Körner die Saat gelegt hatte – an der Entdeckung der ungarischen Dichtung in Form der Gedichte Petőfis.

Seit 1849 gab es deutsche Übersetzungen – Nietzsche hatte nachweislich zwei verschiedene Arbeiten besessen[14] und war sofort Feuer und Flamme, auch wenn die Übertragungen schwach und entstellend waren. 1864 entstehen in den dunklen November- und Dezembernächten vier oder fünf Petőfi-Vertonungen – ein Gedicht läßt sich nur schwierig zurechnen –, nebst anderen Liedern, die Nietzsche in zwei Hefte eintrug. Gemeinsam mit den Jugendfreunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder hatte er einen Selbstbildungsverein „Germania“ gegründet, in dem sich die Teilnehmer gegenseitig mit eigenen literarischen und musikalischen Schöpfungen erquickten und herausforderten.

Petőfi sprach ihn zwiefach an. Zum einen war da das historische Bild des Freiheitskämpfers, der sich tapfer – wie Zrínyi – in die Schlacht warf und sein Leben ließ. Es gibt Gründe anzunehmen, daß der Tod Petőfis weit weniger heroisch war. Die Russen hatten die Reihen überrannt, wer ein Pferd hatte, floh Hals über Kopf, Petőfi hatte keines und rannte zu Fuß in ein Maisfeld, wurde dort aufgestöbert und schließlich von hinten auf der Flucht niedergemacht und ob seines exotischen Seidenhemdes auch noch gefleddert. Danach landete sein Leichnam – wenn man der Erzählung des Oberst Heydte, eines Zeugen des Geschehens – beritten – Glauben schenken darf[15], in einem nicht gekennzeichneten Massengrab. Das konnte der junge Nietzsche nicht wissen und hätte es wohl auch nicht wissen wollen. Immerhin zeugen eine ganze Reihe von Gedichten des ungarischen Nationaldichters – wie wir gesehen haben – von Zrínyischer Verwegenheit und das mußte junge Pennäler in der Mitte des 19. Jahrhunderts zweifellos ansprechen.

Daneben ist es aber vor allem Petőfis depressiver Zug, der im jungen Nietzsche Widerhall fand. Unter seinen Vertonungen finden sich mehrere Gedichte des Ungarn – sie alle teilen einen Ton der Schwere und der Tristesse[16]. Es fällt auch unter seinen Liedern die Häufigkeit ungarischer Titel und Inspirationen auf. Es gibt „Ungarische Skizzen“[17], einen „Zigeunermarsch“, einen „Ungarischen Marsch“, „Ein alter Ungar“[18], ein „Im Mondschein auf der Puszta“ oder ein „Aus der Csarda“[19] und sogar einen ungarischen Titel „Edes Titok“[20] (Süßes Geheimnis)[21] – sie alle – sofern erhalten[22] – strahlen eine gewisse Energie aus, aber die Petőfi-Lieder sind an Traurigkeit kaum zu überbieten:

Verwelkt[23]

Du warst ja meine einz’ge Blume,
verwelkt bist du — kahl ist mein Leben.
Du warst für mich die strahlende Sonne,
du schiedst — ich bin von Nacht umgeben.
Warst meiner Seele leichteste Schwinge,
du brachst — ich kann nun nimmer fliegen.
Du warst die Wärme meines Blutes,
du flohst — ich muß dem Frost erliegen.

Unendlich[24]

… Stehe sinnend hier am Bache
Bei den stillen Trauerweiden
Passend ist für mich die Stätte
Der ich voll von Leiden!
Schaue niederhangen diese
Zweige hier in Ringen
Und sie gleichen meiner Seele
Fluggelähmten Schwingen! …

Ständchen[25]

Es gießt der Regen stark im Ort,
Die Nachtigall singt trotzdem fort,
Und wer da hört ihr trübes Lied,
Dem wird das Herz so schwer und müd‘!…

Nachspiel[26]

Ich möchte lassen diese glanzumspielte Welt,
In der mich Lust und Wehe rings umsponnen hält,
Und möchte fortziehn, fort von den Menschen weit
In eine wilde, schöne Waldeinsamkeit
Dort würde ich dem Laubgeflüster lauschen
Und horchen auf des hellen Bächleins Rauschen
Und auf der Vögel Sang,
Sehen der Sonne Untergang –
Und endlich selber mit ihr untergehen.

Die Nietzsche-Philologie stand freilich vor einem Problem, denn einige der Lieder, die Nietzsche Petőfi zuschrieb, waren bei ihm nicht zu finden und auch in den deutschen Petőfi-Ausgaben der Zeit nicht. Das betrifft das Lied „Es winkt und neigt sich“ und teilweise auch das „Nachspiel“. Es ist also anzunehmen, daß Nietzsche selbst Nachdichtungen anfertigte, selbstredend nicht aus dem Ungarischen, sondern er versuchte Verbesserungen, die auch mit den Zwängen der Vertonung zusammenhängen könnten. Es ist insofern signifikant, als wir hier ein Beispiel vor uns sehen, wo Nietzsche in den Dichttext des verehrten Petőfi aktiv eingreift, wo also beider Worte zu einem Ganzen verschmelzen – ein Prinzip, das im Zarathustra evtl. Wiederholung fand.

(Ich höre Nietzsches Kompositionen und Lieder nun seit vielen Jahren – sie berühren mich tief. Aber immer, wenn ich jemanden vom Fach dazu befragte, wie sie musikalisch einzuordnen, ob sie originell seien, bekam ich zur Antwort, daß man es mit künstlerischer Mangelware zu tun habe. Nietzsche selbst hatte seine Manfred-Meditation einst zur Begutachtung an Hans von Bülow geschickt und bekam als Antwort: „Ihre Manfred-Meditation ist das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste, was mir seit lange auf Notenpapier zu Gesicht gekommen ist. Mehrmals musste ich mich fragen: Ist das Ganze ein Scherz, haben Sie vielleicht eine Parodie der Zukunftsmusik beabsichtigt? Ist es mit Bewußtsein, daß Sie alle Regeln der Tonverbindung, von der höheren Syntax bis zur gewöhnlichen Rechtschreibung ununterbrochen Hohn sprechen? Abgesehen vom psychologischen Interesse – denn in Ihrem musikalischen Fieberprodukte ist ein ungewöhnlicher, bei aller Verwirrung distinguierter Geist zu spüren – hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkte aus nur den Werth eines Verbrechens in der moralischen Welt“[27] Nietzsche bedankte sich nach einer Weile brav und völlig unnietzschisch und ließ seither das Komponieren bleiben – um sich gänzlich der Philosophie zu widmen.

Dennoch: mich überzeugen die meisten seiner musikalischen Arbeiten durch ihre innere Kraft und Emotionalität – man kommt in ihnen, will mir scheinen, dem Menschen Nietzsche so nah wie selten. Gerade die Manfred-Meditation oder der „Hymnus an die Freundschaft“, der „Hymnus an das Leben“ oder „Eine Sylvesternacht“, also die etwas längeren Stücke, empfinde ich als mitreißend. Die Vorstellung, Nietzsche mit brennenden Augen übers Klavier gebeugt zu sehen und diese emotionalen Melodien in die Tasten zu hauen, bringt mich ihm menschlich nahe – oder erzeugt doch zumindest diese Illusion.)

Nietzsche schien im Ungarischen im Allgemeinen und in Petőfi im Besonderen zwei Dinge gefunden, zwei Bedürfnisse befriedigt zu haben und beide finden sich auch in seiner Philosophie wieder. Da ist zum einen das überwältigend Starke, die Kraft, der Wille zur Macht und die Bereitschaft zum Untergang im Kampf und Ringen, was sich gleichzeitig als Lebenslust, als Freude, als Affirmation manifestiert und da ist zum anderen der gleiche Wille zum Leid aus dem die Gedanken des Amor Fati und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen geschöpft werden. Gerade in Petőfis trüberen Versen findet er das Bewußtsein, Singularität zu sein. Nietzsche wurde nicht Pessimist, weil er Petőfi gelesen hatte, sondern er las Petőfi – und später Schopenhauer –, weil dieser seinen frühen Pessimismus befriedigte.[28]

Wenn diese Überlegungen standhalten, dann könnte man die Rolle Petőfis in Nietzsches Werk und Denken neu bewerten. Es stimmt: nach den frühen Jahren verschwindet er fast vollständig aus den Schriften, auch das Ungarische wird zur Seltenheit – er lernt etwa einen Übersetzer Petőfis kennen und teilt das seinen Freunden stolz mit[29] oder aber er freut sich über eine erste Rezension seiner Werke „in einem ungarischen Winkelblatt“[30] –, dennoch sind Sprache und Bildlichkeit Petőfis präsent und oft läßt sich eine Geistesschuld gerade durch Verschweigen aufzeigen.  

Den Schlüssel dafür bot Joachim Köhler in seiner umstrittenen Schrift[31]Zarathustras Geheimnis“. Petőfi kommt bei der Aufklärung der Anamnese des Denkens Nietzsches – Köhler interpretiert es als Krankenakte – eine bedeutende Rolle zu. Schon der Knabe wurde demnach von der „Todeserotik“ des Ungarn fasziniert[32]. Einige seiner Bilder habe Nietzsche tief verinnerlicht und im „Zarathustra“ – bewußt oder unbewußt – reaktualisiert. So trage Petőfis Gedicht „Világosságot“ (was Köhler sehr frei mit „Licht, mehr Licht“ übersetzt) präzarathustrische Züge:

Jedoch sind wir nicht bloß vergleichbar …
Dem Wanderer, der auf Berge klimmt
Und steht am Gipfel er, dann wieder
Den Rückweg nimmt
Hernieder?
Und ewig daure dieser Lauf
Hinauf, hinab, hinab, hinauf?
Um sich in Irrsinn zu versenken! …

Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Zeilen tatsächlich sehr nach Nietzsche klingen – sie beschreiben nicht nur „die Sinnlosigkeit, ewig“, einen typischen Fatalismus, sie umfassen auch den Zentralgedanken der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“ und sie passen sogar im Duktus sehr gut zu vielen Gedichten Nietzsches oder zur Sprechweise Zarathustras. Gut denkbar, daß Nietzsche bei Petőfi – trotz mangelhafter Übersetzungen – Stilübungen vorgefunden hatte. Das poetische Genie hatte er gegen die Mangelübertragung zweifelsohne erkannt.

Wen nie im Bogen
Gedanken noch umflogen
Wie diese, ach wie die,
Der fror noch nie;
Was Kälte ist, der weiß es nicht …

Auch Nietzsche-Experten, legte man ihnen diese Zeilen etwa als Archivfunde vor, würden sie wohl als Werk Nietzsches anerkennen – aber es ist Petőfi.

In Nietzsches Nachlaßäußerung „in fernsten und kältesten Gedanken umgehend, wie ein Gespenst auf Winterdächern, zur Zeit, wo der Mond sich in den Schein legt“[33] will Köhler Petőfis Kältebild wiedererkennen. 

Noch ein Bild macht Köhler im Zarathustra ausfindig, das jedoch eher seine Arbeitsweise in Frage stellt. In Zarathustras Satz[34]:

„Ach! Ach! Der Hund heult, der Mond scheint. Lieber will ich sterben, sterben, als euch sagen, was mein Mitternachts-Herz eben denkt.“

Meint er ebenfalls eine Reminiszenz an  Petőfis Vers erkennen zu können[35].

Wesentlich interessanter und auch bedeutender ist der Versuch, das bekannte Motiv der Schlange, die dem Schlafenden in den Rachen kriecht, auf Petőfi zurückzuführen. Am Ende seines Gedichtes „Világosságot“ entwirft Petőfi folgende Szenerie:

Mit solcherlei Gedanken ist verglichen
Die Schlange warmer Sonnenstrahl,
Die eisgleich kommt geschlichen
Uns über’n Busen, glitzernd, fahl
Und bluterfrierend weiter schleicht
Den Hals hinan, bis sie erreicht
Den Mund,
Und uns den Atem dann erstickt im Schlund.

Das Wort „Schlund“ findet sich in der berühmten Szene in „Vom Gesicht und Rätsel“ im dritten Teil des Zarathustra mehrfach, etwa:

„Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biß sie sich fest.“

Köhler meinte nun[36], Wort und Bild habe Nietzsche einst von Petőfi gelernt, der Gedanke habe ihn nie wieder verlassen und fand schließlich in Nietzsches Hauptwerk seine Wiedergeburt. Auch wenn die Parallelen zwischen den Zeilen Petőfis und Nietzsches frappierend sind, kann die Zusammenführung nicht mehr als den Status einer Hypothese beanspruchen, denn auch das Bild der in den Hals kriechenden Schlange ist nicht originell – es verbindet zwei Urängste des Menschen.

Man muß nicht so weit gehen – wie das magyarischer Überschwang über die Entdeckung der Beziehung Nietzsche-Petőfi tat[37] – und den Dichter gleich zum philosophischen Lehrer Nietzsches machen, aber gänzlich absurd ist Köhlers Idee nicht – es ist möglich, daß eines der Schlüsselbilder in Nietzsches Zarathustra Petőfi zu verdanken ist, es ist möglich, daß der ungarische Nationaldichter für den deutschen Ausnahmedenker wichtiger war, als bislang angenommen.

Literatur:
Nietzsche: Kritische Studienausgabe KSA. 15 Bände München 1988
Nietzsche: Kritische Studienausgabe Briefe 8 Bände. München 1986
Nietzsche: Jugendschriften 5 Bände. München 1994
Petőfi, Sándor: Összes Költeményei. 2 Bände, Budapest 1959
Ábela Barabás: Petőfiánus Nietzsche. In: NIETZSCHE-TÁR. Szemelvények a magyar Nietzsche-irodalomból 1956-ig. Budapest 1956
Kai Agthe: Über Friedrich Nietzsches Verhältnis zu Franz Liszt. In: Das Blättchen. 14. Jahrgang. Nr. 25. 2011
Gyula Illyés: Petőfi. Ein Lebensbild. Berlin (Ost) 1971
Joachim Köhler: Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft. Hamburg 1992
Theodor Körner: Zriny. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen (1812). In: Körners Werke. Berlin o.J.
Gyula Kornis: Nietzsche és Petőfi. Budapest 1942

Béla Lengyel: Nietzsches Image von Ungarn. In: Hungarian Studies 2, No. 2, Budapest 1986, S. 243-265
Ernö Lengyel: Nietzsche magyar utókora. In: Minerva XVII évfolyám, Pécs 1938, S. 49 – 95
Martin Lorenz: Musik und Nihilismus: Zur Relation von Kunst und Erkennen in der Philosophie Nietzsches. Würzburg 2008
Cornelia Witthoefft: Einführender Kommentar zu den auf der Doppel-CD »Sie hätte singen sollen, diese Seele…« Friedrich Nietzsches Denken und Musik1eingespielten Kompositionen Friedrich Nietzsches Zugleich eine Anleitung zum Hören nach Nietzsche. 2012 https://www.derblauereiter.de/fileadmin/user_upload/pdfs/Verlag/Hoerbuecher/Nietzsche-CD/Einfuehrung.pdf

[1] KSA 9, 681 „Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen, welche Niëtzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben. Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestätigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig längere Zeit an und sagte endlich ‚es ist noch die alte Rasse, aber das Herz hat sich Gott weiß wohin gewendet.‘“
[2] KSA 6, 268
[3] KSA Briefe 6, 415
[4] Für „Ritualmord in Ungarn. Eine jüdische Tragödie“ (1913) erhielt er 1915 den Kleist-Preis. Eine spätere Bearbeitung ist unter dem Titel „Die Sendung Semaels“ (1918) in der Werkausgabe erschienen. In ihm kann man sehr gut die selbstimmunisierende Logik des habituellen Antisemitismus studieren.
[5] “A tiszaeszlári Solymosi Eszter”
[6] „Liszt, der Repräsentant aller Musiker, kein Musiker: der Fürst, nicht der Staatsmann. Hundert Musiker-Seelen zusammen, aber nicht genug eigene Person, um eignen Schatten zu haben. Wenn man eine eigene leibhafte Persönlichkeit haben will, so muss man sich nicht sträuben, auch einen Schatten zu haben.“ (KSA 8, 511)
[7] Siehe Lengyel, S. 248
[8] z.B. Jugendschriften 1, S. 265 u. 446
[9] Nietzsche hatte Körner bereits mit 14 Jahren gelesen und ihm 1858 ein Gedicht gewidmet: „Jugendlicher Held, dir soll mein Lied erschallen/Will im Geist zu deiner Grabesstätte wallen./Wie die Eiche strebend auf gen Himmel/Standest fest und kühn du im Getümmel. …“
[10] Jugendschriften 2, S. 103. Zuvor hatte er in seiner historischen Skizze zum Ermanarich noch festgestellt: „Die Sage von Ermanarich ist echt deutsch und durch die Personen, die darin auftreten, und durch die Oertlichkeit an Deutschland gebunden.“ (Jugendschriften 1, S. 297)
[11] Jugendschriften II, S. 100
[12] Siehe: Ernö Lengyel: Nietzsche magyar utókora, S. 50
[13] Damit schließt sich Nietzsche dem klassischen Klischee vom Ungarn an, wie es etwa Karl Beck – Dichter des Liedes „An der schönen blauen Donau“ und allgemein bekannt –  in Verse gegossen hatte: „Bei Gott , ich bin ein echt Magyarenkind!/ Gott, daß Niemand mehr mich kennen will!/ Mein Blut erbraust, wie jäher Wirbelwind,/ Mein Sinn ist trotzig, ist nicht deutsch und still.“ Nietzsche hatte von ihm ein Gedicht transkribiert mit dem Titel: „Magyarenschenke“ (Jugendschriften III, S. 457). Wie tief das Bild vom wilden Ungarn verinnerlicht war, zeigen auch Notizen zu seinen „Ungarischen Skizzen“, wo er die Titel mit Beschreibungen oder Plänen ergänzt: „Nachts auf der Haide Hoihü! Durch die Haid. In der Szarda. Schenk ein, schenk ein …“ (Jugendschriften III, 73)
[14] „In der Bibliothek Nietzsches in Weimar ist das Heftchen Alexander Petőfi‘s Dichtungen. Nach dem Ungrischen, in eigenen wie fremden Übersetzungen gesammelt von K.M.Kertbeny. Berlin o.J. (1860) Verlag Hofmann & Comp. mit der Einleitung Kertbenys über Petőfi zu finden. Aus der Einleitung Kertbenys – einem Jugendfreund Petőfis und Jókais – konnte Nietzsche nicht nur Petőfis Persönlichkeit und Dichtung kennenlernen, sondern auch über andere ungarische Klassiker (Vörösmarty, Arany usw.) ein skizzenhaftes Bild erhalten“ (Béla Lengyel: Nietzsches Image von Ungarn. In: Hungarian Studies 2, No. 2 S. 251)
[15] Vgl: Illyés. S. 420 ff.
[16] Zur musikalischen Einordnung siehe: Lorenz: Musik und Nihilismus. S. 30 – 50
[17] In der Chronik der „Germania“ werden sie im April 1862 von Gustav Krug akribisch verbucht: „Die Lieferungen für Februar bestanden in der schon erwähnten Abhandlung Pinders über Napoleon III. als Erwiderung, sodann in mehreren Compositionen des Mitglieds Nietzsche ‚Ungarische Skizzen‘ betitelt, die mir in vieler Beziehung sehr gefielen. Der Componist zeigte darin einen viel geläuterten Sinn, als in seinen früheren Werken, Schuhmann’scher Einfluß ist nicht zu verkennen, jedoch fällt der Componist niemals in Nachahmung. Nur eins hätte ich auszusetzen. Manches könnte nemlich noch durchgearbeiteter sein, der Componist scheint noch nicht die letzte Feile angelegt zu haben“
[18] Hierzu ist auch ein Gedicht /1863) „Der alte Ungar“ überliefert, das vom Verlust der Jugend handelt. (Jugendschriften II, S. 73f.)
[19] Nietzsche glaubte in „Csarda“ allerdings ein polnisches Wort zu sehen – siehe: Witthoefft S. 14.
[20] Korrekt wäre „Édes Titok“ – Nietzsche verdeutscht das Lied mit „Sei still mein Herz“
[21] Jugendschriften 2, S. 121 f. und 133, nur als Bsp. mehrere solcher Listen
[22] Nietzsche listet weitere Petőfi-Lieder auf: “Die Kette von Petőfi” oder “Wo bist du”, die verschollen sind und keinem Vers des Dichters zugeordnet werden können. (Jugendschriften III, S. 135) Daß „Die Kette“ verschollen ist, bleibt bedauerlich, denn es ist die einzige Vertonung Petőfis, die den Patrioten und Freiheitskämpfer repräsentiert, voller Freiheitspathos, kämpferischer Wut und Umsturzgedanken: „A Bilincs“ (siehe: Petőfi und die permanente Revolution)




[24] Original: Te vagy, te vagy, barna kislyány.




[26] Original: Szeretném itthagyni
[27] Einen ähnlich niederschmetternden Bescheid erhielt er vom Bonner Musikdirektor Brambach, der ihm empfahl, Unterricht „im strengen Kontrapunkt“ zu nehmen.
[28] Vgl. Gyula Kornis: Nietzsche és Petöfi. Budapest 1942, S. 10f.
[29] Briefe an Erwin Rohde und Carl von Gersdorff, Dezember 1874. Auch an den Übersetzer – Theodor Opitz –, der ihm, offenbar von Nietzsches dritter „Unzeitgemäßer Betrachtung“ beeindruckt, ein Gedicht mit dem Titel „Schopenhauer als Erzieher“ geschickt hatte, schrieb er einen Brief, in dem Petőfi nicht erwähnt wird. Eine bessere Gelegenheit, darüber zu sprechen, hätte sich schwerlich finden lassen. Vgl. KSA Briefe 4, S. 282ff.
[30] KSA Briefe 6, S. 572
[31] Köhlers Psychogramm gehört zweifellos zur sekundärliterarischen Pflichtlektüre. Umstritten ist es, weil es Nietzsches komplexes Denken auf eine Sexualneurose (latente Homosexualität) und quasi inzestuöse Beziehungen zur Schwester und der Angst vor dem Gespenst des Vaters reduziert und dabei mit großer Boshaftigkeit und Besessenheit das gesamte Werk nach „Stellen“ absucht, die ins Narrativ passen, dabei natürlich stark assoziativ vorgehend. Nichtsdestotrotz gelingen Köhler hochinteressante Interpretationen. 
[32] Vgl. Köhler 54ff.
[33] KSA 11, 381
[34] Also sprach Zarathustra IV, 4 – KSA 4, S. 398
[35] Wahrscheinlicher scheint mir die Annahme, daß das Bild des Hundes, der den Mond in eisiger Nacht anbellt, ein vielfältig verwendetes und frei verfügbares ist.
[36] Köhler S. 535ff. „Die Schlange war für ihn nicht nur Bild der Wiederkehr – sie war ihm auch als Bild wiedergekehrt: intuitiv, visionär, als sähe er sie zum ersten Mal. In Wahrheit war schon der Siebzehnjährige darauf gestoßen, als er Petőfis Gedichte studierte und sich einverleibte.“ (535)

© Seidwalk Januar 2021

Wär ich ein Tor

Wer Ungarisch lernt, stößt vielleicht auf das Lied „Ha én rozsa volnék“. An ihm kann man nämlich wunderbar den Konditional lernen – ich hab´s gleich auswendig gelernt –, der ausnahmsweise sogar einfach zu bilden und zu begreifen ist. An das Verb wird die Endung -nék angehängt und die braucht dann nur noch konjugiert zu werden.

„Ha én rozsa volnék“ heißt also „wenn ich eine Rose wäre“.

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Die Chemnitz-Depression

Ich muß was gestehen: ich bin depressiv. Heute zumindest. Gerade geworden. Mir ist kotzübel, ich könnte hinschmeißen! Junge Leute beim Feiern zu sehen, macht mich krank.

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Der Auschwitz-Rap

Vom Rap verstehe ich so viel wie mein Großvater vom I-Phone – trotzdem würde ich mein Leben dafür einsetzen, daß er seine Meinung dazu frei äußern kann.

Gerade lese ich Stefan George. Vielleicht verzeiht man vor diesem Hintergrund eher die leicht aggressive Stimmung, in die mich die mediale Beschallung mit einem Thema versetzt, von dessen Existenz ich bisher – glücklicherweise – noch nicht einmal wußte. Weder kannte ich Kollegah und Farid Bang noch ahnte ich, daß es eine Echo-Verleihung gibt. Allerdings war mir bekannt, daß die Künstlerszene in ihren ausgezeichnetsten Exemplaren zum Moralismus neigt.

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Roger Waters‘ (Juden?) Schweine

Das Gute am Extremismus ist: er frißt sich früher oder später selbst auf.

Wir sind gerade Zeugen, wie sich der Extremismus des radikalen Gutseins, der politischen Korrektheit immer öfter selbst zerstört, weil er in die eigenen unauflösbaren Paradoxien tappt. Aktuelles Beispiel ist das Trauerspiel um Roger Waters.

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Something is rotten

Ryanair machte es möglich. Im Jahre 2006 weilte ich zehn Wochen in Dänemark. Der Flug von London nach Tirstrup, nördlich von Århus, beinahe geschenkt. Fast in Laufdistanz davon entfernt die Folkehøjskole på Kalø – sie war mein Ziel, dort wollte ich Dänisch lernen und tat es auch.

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Die alten Zeiten

Es war einmal, bitteschön, eine wirklich schöne Zeit,
Als ein Mann noch ein Mann war und eine Frau noch eine Frau.
Den dreisten Verleumdungen folgte am Tag darauf das Duell
Und die Beleidigung wurde mit Blut abgewaschen.

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Ungarn in Rock

Jede Lebensphase hat ihre Musik. Drei Jahrzehnte lang, in Wellen der Intensität, vertrat ich die Ansicht, daß Musik, die es wert ist, gehört zu werden, eines leisten müsse: sie dürfe Welt nicht ausblenden, sondern müsse auf sie hinweisen. Sloterdijk hatte – da lag mein Musikgeschmack längst fest – diese Gedanken in „Weltfremdheit“ theoretisch untermauert.

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Cat Stevens und das Ende der Kunst

Menschen meiner Generation haben meist sehr angenehme Erinnerungen an Cat Stevens. „Die sensibelsten Frauen“, wie Giovanni di Lorenzo in einem Interview mit dem Künstler gestand, legten meist eine seiner Platten auf, zündeten eine Kerze an, gossen ein Glas Wein ein … der Rest ist Geschichte, sweet, sweet memory bis … „Morning has broken“.

Dabei ist der einstige Superstar ein paradigmatisches Beispiel für die unheilige Verbindung von Kunst und Islam. Es lohnt, seiner Geschichte – übrigens nicht nur aus diesem Grund – ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken.

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Das Ende der Kunst

Besonders unter Künstlern und Intellektuellen scheint die bedingungslose Zustimmung zur „Flüchtlingspolitik“ der Kanzlerin hoch zu sein. Aber haben sich das unsere Gebildeten und Bildenden auch gut überlegt? Wissen sie – unter der Prämisse, daß die Zuwanderung zugleich eine deutliche Zunahme an Mitmenschen muslimischen Glaubens mit sich bringt, wissen sie also:

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Dylan

Man sollte die Klappe halten, wenn man keine Ahnung hat! Aber Bob Dylan für den Nobelpreis? In Literatur? Da fällt schweigen schwer, auch wenn ich Dylan weder kenne noch mag und auch wenn, aufgrund zu vieler Täuschungen, ich es längst aufgegeben habe, die moderne Literatur zu verfolgen.

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Roll over Beethoven

Auch die Musik trübt den Geist, weil sie Genüsse und Ekstasen mit sich bringt, die den Drogen gleichen. Eure Musik meine ich (die westliche). Gewöhnlich erhebt sie nicht den Geist, sie schläfert ihn ein. Und sie lenkt unsere jungen Leute ab, die von ihr vergiftet werden und sich nicht mehr um ihr Land kümmern.

Auch die Musik von Bach, Beethoven und Verdi?

Wer sind diese Leute? Ich kenne sie nicht. Wenn sie den Geist nicht trüben, dann sind sie nicht verboten. Einige eurer Musikarten sind nicht verboten, zum Beispiel die Märsche und die Hymnen zum Marschieren. Wir wollen Musik, die uns erhebt, wie die Marschmusik, die unsere Jugend bewegt, anstatt sie zu paralysieren, die sie veranlaßt, sich um ihr Land zu kümmern. Ja, eure Märsche sind erlaubt.

Ajatollah Khomeini im Gespräch (1979) mit Oriana Fallaci
Quelle: Oriana Fallaci: Le radici dell’odio. La mia verità sull’Islam. Milano 2015. S. 295f.

Zum Beweis: Mondscheinsonate