Die Welt der verlorenen Ideen

Spät abends zappe ich ein letztes Mal durch das ungarische TV-Angebot, will eigentlich gerade abschalten, da beginnt auf Duna-TV gerade eine Sendung über Károly Kós. Nach Mitternacht, aber jetzt gibt es keine Wahl mehr.

Kós war ein siebenbürgischer Bildhauer, Architekt, Schriftsteller, eine der herausragenden Figuren des Helikon-Kreises, jener Poeten-Elite aus Erdély, die neben Nyugat das zweite künstlerische Gravitationszentrum des Vorkriegsungarn war. Einmal jährlich trafen sich die Künstler – die meisten vom schreibenden Fach – auf dem Kastell Marosvécs, das wiederum János Kemény gehörte, und der war der Großvater von Géza Nagy, bei dem wir letztes Jahr eine Woche im Jagdhaus weilten … Man kann all das hier nachlesen: Der Gottesstuhl / Bären und Salamander / Géza der Bär /Was bleibt von Rumänien?

Im Park des Schlosses liegt ein Teil der sterblichen Überreste von Albert Wass – heute eine ungarische Wallfahrtsstätte – und daneben steht jener legendäre Steintisch, den Kós zur Erinnerung an die Helikoner Treffen gemeißelt hat.

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Wir waren gerade auf Marosvécs, als der Tisch renoviert wurde und nun wieder im alten Weiß erstrahlt

Nun also die halbstündige Sendung über den alten Meister. Es sind immer wieder die gleichen Experten, die dazu befragt werden, ich kenne sie mittlerweile alle; den einen wollte ich vergeblich zur Zusammenarbeit bei unserem Buch gewinnen …

Neu war mir Kós‘ architektonische Arbeit. Es werden im Film Entwürfe und Grundrisse gezeigt und dann die daraus entstandenen Häuser. Eine einfache, traditionelle Architektur, landesüblich, sich gut einpassend, auf eine lange Tradition verweisend. Und in diesem Sinne auch unauffällig. Sieht man sie mit der Kamera eingefangen oder kann man Zeichnung und Ergebnis vergleichen, weiß man, von wem sie sind, dann erhalten sie eine eigentümliche Strahlkraft. Aber ganz ehrlich: wäre ich an den Häusern in Kolozsvár zufällig vorbeigelaufen, ich hätte sie nicht erkannt, mehr noch, ich hätte sie nicht einmal beachtet, es wären einfach – nun ja – Häuser gewesen.

Da ging mir ein erschütternder Gedanke durch den Kopf, ganz banal, fast peinlich platt, aber mir neu, zum ersten Mal zu Bewußtsein gekommen. Kós muß lange an diesen Häusern gesessen haben, er hat gerechnet, bedacht, hat verworfen, neu gezeichnet, hatte Ideen, Konzepte im Kopf, vermutlich auch die Geschichte, hatte den Gebrauch, den Nutzen, den Besitzer und die Ästhetik zu einem Einklang bringen wollen … und ich wäre vielleicht achtlos daran vorbei gegangen. Seine Ideen wären – zumindest für mich – umsonst gewesen.

Und so geht es vielen! Wir sehen tagtäglich Häuser und nehmen sie fast nie als Idee wahr, maximal als Materie, in die man eintreten kann oder die man mit dem Auto vermeiden muß. Aber hinter jedem Haus steht ein Architekt, steht denkerische Arbeit, ob gelungen oder nicht. Selbst das Serienhaus oder die Platte in Hohenschönhausen ist eine materialisierte Idee, eine Aussage, die gehört werden will.

Aber nicht nur die Architektur ist von unserer Ignoranz betroffen, sondern auch die Stadtplanung oder das Design, jeder Topf, jeder Löffel, jeder Stuhl, das Muster der Gardine, der Computer, an dem ich schreibe, die Hose, in der ich stecke … Alles nehmen wir als gegeben hin, werden uns seiner vielleicht nur noch dann bewußt, wenn die Idee gerade nicht aufgeht, wenn die Naht reibt oder sich an der Küchengarnitur zwei Türen im Wege stehen oder was weiß ich.

Wir sind permanent von Millionen menschlichen Ideen umgeben, von Aussagen und sogar von Philosophien und nehmen sie doch nicht wahr, nicht bewußt zumindest, denn ich will nicht ausschließen, das Dinge auf uns wirken, ohne daß wir es bemerken.

Diese unsere Ignoranz ist objektiv, meine ich. Sie ist zum Teil wahrnehmungspsychologisch begründet: wir können uns gar nicht alles bewußt machen, was uns begegnet, und alles, was sich wiederholt, wird schnell zum Hintergrund, so wie man den einzelnen Baum im Wald nicht mehr bemerkt.

Doch sind wir in unserer Überforderung auch Opfer unserer Zeit, der Zeit der Individuation und Individualität, die weit in die Geschichte zurückreicht, akzelerierend, und nun seit langem schon die Phase der Überforderung erreicht hat. Wer etwas herstellt, will zugleich schöpfen, will originell sein, anders als die anderen, will einen eigenen Gedanken ausdrücken und sei der auch noch so mickrig, will sich unterscheiden.

Verglichen damit ähneln sich die Tongefäße im Museum deutlich. Es gab in Komárno etwa, in vorrömischer Zeit, drei Farben: schwarz, rot, braun. Vielleicht taugten die Gefäße verschieden, vielleicht nutzte man die Farben, um den Gebrauch zu signalisieren. Darüber hinaus schienen Unterschiede sich nur noch auf die Größe und auf die handwerkliche Varianz zu beziehen, denn wo mit Hand gefertigt wird, da ist kein Teil wie das andere. Die Zahl der geschaffenen Dinge, die den Menschen damals umgab, war gering, ein Haushalt umfaßte ein paar dutzend Gegenstände – heute ist jede Wohnung von zehntausend Dingen angefüllt, das meiste davon ungenutzt und vergessen. Jedes war einmal eine Idee. Eine vergebliche.

Vergeblich?, wird man fragen. Aber du hast es doch gekauft, also hast du die Idee bereits realisiert. So kann man das sehen, aber das macht die Sache nicht besser, denn es bedeutete, daß Menschen ihre Intelligenz mißbrauchen, um Dinge herzustellen, die nicht gebraucht, sondern nur gekauft werden sollen. An der enormen Verschwendung der Ideen ändert das nichts.

Auch wenn man die Perspektive umdreht, wird der Gedankengang nicht erquicklicher. Er bedeutet nämlich auch, daß jeder, der kreativ produziert, dies insofern mit hoher Wahrscheinlichkeit vergeblich tut, als es kaum jemand bemerken, geschweige denn honorieren wird. Selbst das Gros der wirklichen Künstler schafft und schreibt und sinniert für die Tonne. Zwar meint er im Laufe des Schöpfungsprozesses, etwas Wichtiges zu tun, und er braucht diese Illusion auch, um überhaupt die Motivation zu finden, aber was immer er schöpft – ein Kleid, ein Buch, eine Tasse, ein Auto, eine Rakete, ein Kraftwerk – kaum jemand wird es als Idee, als Meinung, als Standpunkt wahrnehmen und noch seltener wird es jemand anderen wirklich beeinflussen. Es wird wesentlich umsonst gewesen sein, man sollte auf kein Urteil hoffen, das seinen Namen wert ist. Umso mehr bei Menschen, die einer beliebigen Arbeit nachgehen – sie alle sind darin verstrickt, viele ersticken förmlich darunter, sie nehmen für wichtig und für entzifferbar, was – in der größeren Perspektive gesehen – einem Windhauch gleicht.

Gerade durch die Fülle der Botschaften, von denen wir umgeben sind, sind diese entleert worden.

3 Gedanken zu “ Die Welt der verlorenen Ideen

  1. Otto Reincke schreibt:

    „Gassen für Bürger“ – Haben Sie einen Knall? Ich bin von Kindheit an in Ihrer Ideologie aufgezogen worden – schöne alte Fachwerkhäuser, in Gassen angeordnet -, und hab auch so gewohnt. Inzwischen zum Immo-Besitzer avanciert, habe von allem etwas. Aber nach der ersten Fachwerk-Immobilie – sie war ein Geschenk – war sofort klar: Nie wieder Fachwerk! Wenn Sie die Bestimmung des Menschen darin erblicken, sein Leben lang an seinen vier Wänden werkeln zu müssen, bitteschön. Ich dagegen ziehe grade Wände, grosse Fenster und Stahl-Beton-Ziegel-Bauweise vor. In gewisser Weise hat der Krieg Deutschland gut getan. (Wenn das meine Eltern hören würden – beide waren nicht im Baugewerbe tätig) Klar, etwas mehr Vielfalt täte uns gut. In anderen Ländern ist es möglich. Aber das die nicht da ist, hat mit dreierlei Tatsachen zu tun. Das Baugewerbe ist das Korruptionsgewerbe, an dem sich die Politiker die Taschen füllen. Der Staat langt ohne Ende zu, nach dem Motto – Wer baut, hat Geld. Alle am Bau zwangsweise Beteiligten haben wegen der Gebührenordnung ein Interesse daran, dass es teurer wird. Deshalb kostet jeder Schnickschnak in D gleich das Zehnfache. Das sind die Gründe, für die immensen Bau-Preise. Beton und Stahl und Flachdach sind immer günstiger als Zimmermannsarbeit, Ausfachung, Ziegeldach, etc. etc. Das ist alles Mittelalter.

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    • Niavis schreibt:

      Aber ein Platz oder ein Raum entfaltet doch eine ganz andere Wirkung, wenn man sich vorher durch eine enge Gasse zwängte. 😉 Deshalb richte ich ein Barockhaus mit Gasse gerade her. Oh mein schönes hübsches Haus. Aber ein Fachwerkhaus in Altnürnberg wäre ein Paradies für mich gewesen. Ein Romantiker schrieb damals: „Nürnberg! du vormals weltberühmte Stadt! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterischen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur von unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist! Wie innig lieb ich die Bildungen jener Zeit, die eine so derbe, kräftige und wahre Sprache führen! Wie ziehen sie mich zurück in jenes graue Jahrhundert..“

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  2. Niavis schreibt:

    Heutige Architektur und Stadtplanung ist tatsächlich von meiner Ignoranz betroffen, da ich sie als stumpf, kalt und tot empfinde. Hinter der Zeilenbauweise sehe ich z.B. keine denkerische Arbeit. Sie hatten den Ursprung vor dem zweiten Weltkrieg, als Brandschutz für zukünftige Kriege. Vielleicht war es damals noch denkerisch. Aber heute schon lange nicht mehr, wenn Investoren auf der grünen Wiese lose immer die gleichen Quader verteilen. Da steckt natürlich Planungsarbeit dahinter. Die Arbeit ist aber beliebig. Wenn ein Architekt+Jury tatsächlich den Anspruch haben, „gehört“ zu werden, dann wird es monströs und grauenhaft. Was mich unglaublich traurig macht. Denn ich glaube tatsächlich, dass man auf diesem Gebiet noch Genie sein könnte. Indem man wieder Gebäude, Plätze und Gassen für Bürger gestaltet, anstatt für Bewohner.

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