Das Handy als Prozeß

Wir nehmen die Welt vornehmlich momentan auf: durchschauten wir die Prozesse, würde wir vieles anders machen oder vielleicht gar nicht. Das gilt vom Kleinen bis zum ganz Großen, etwa der Wirkung des Menschen auf die Ökosysteme oder das Klima.

Hätte ich zum Beispiel gewußt, daß der Tischservice des Frühstücksbuffets im Ibis-Hotel Györ den Tisch nach jedem Gast mit einem Desinfektionsmittel besprüht und dabei auch die offene Zuckerdose nicht ausspart, dann hätte ich vermutlich auf den Zucker im Kaffee verzichtet. Immerhin hat sich damit die Frage geklärt, weshalb der Zucker so verklumpt war.

Aber so ein Frühstücksraum in einem Hotel gibt zu vielen Beobachtungen Anlaß, um so mehr, als die Gäste relativ international sind. Vor mir, das dürften Italiener sein, aber man kann es im Stimmengewirr nicht ganz genau sagen, und die hübsche Familie zu meiner Seite, das sind eindeutig Polen. Wie die Ungarn sieht man die Polen oft im Familienverband, zivilisierte Leute, bescheidener Wohlstand, zwei oder drei Kinder, anständig gekleidet, scheinbar alles in Ordnung.

An einem aber leiden sie alle und sie ahnen es vermutlich nicht einmal. Ihre Kinder hängen an den Endgeräten. Auch der Sohn der Italiener – wenn es denn welche sind – starrt schon am Morgen auf das Ding. Eigentlich sehen sie vollkommen unitalienisch aus, die Frau sehr weiße Haut und kurze rote Haare, der Mann im Haarkranz, alle klein und gedrungen und eher auf der kräftigen Seite. Der Junge am meisten, seine Neigung zur Adiposität ist mit seinen zehn, zwölf Jahren nicht mehr zu leugnen. Sie essen Toastbrot – vielleicht sind es doch Amis? Ihr Eßverhalten ist zumindest sehr unitalienisch, aber was heißt das heutzutage schon: italienisch. Bereits Mitte der 90 er Jahre, während meines ersten Italienbesuches, sah ich erschrocken, wie die sardische Jugend eine Schlange vor der neueröffneten McDonalds-Filiale bildete, ausgerechnet in Sardinien, wo es vielleicht die beste Küche im Land, wo die Zitronen blühen, gibt. Diese Jugendlichen von damals können heute schon Großeltern sein und haben ihre Kulturlosigkeit längst vererbt.

Der dicke Junge jedenfalls beugt sich über sein Phone und ißt nebenher sein verkohltes Sandwich. Dann tut ihm der Nacken weh – die Mutter sagt nicht etwa: „Tu das Dinge weg!“, nein, sie steht auf und massiert den fleischigen Hals, damit er weiter gucken kann. Die ganze Physiognomie des Knaben wirkt schon jetzt dümmlich und irgendwie tot.

Auch die beiden polnischen Kinder wischen unentwegt auf den Bildschirmen herum. Immerhin, die Sache hat einen großen pädagogischen Vorteil: sie sind stille, sie nerven nicht, sie fragen nicht, sie sprechen nicht, die Eltern können in aller Ruhe frühstücken.

Die Faszination der Bildschirme auf Kinderseelen hat etwas Geheimnisvolles, Verhextes, Teuflisches. Die Kinder sind in ihrer eigenen Welt, ihnen ist es doch vollkommen egal, wo sie sind, Hauptsache die mamma oder anya oder matka ist dabei, denn man könnte ja Wünsche haben und dann genügt ein genervter Anruf und die Mutter rennt und massiert sogar. Die Eltern – die dann übrigens auch beginnen, sich an so einem Ding zu schaffen zu machen – mögen heute noch in Györ und morgen in Budapest sein, ihre Kinder aber wissen davon nichts mehr, sie reisen von einem Level zum anderen und werden zwischendurch durch lästige Spaziergänge, Besuche irgendwelcher Ausstellungen und Fahrten belästigt.

Schon auf der Reise nach Györ – ich durfte dreimal umsteigen – hatte ich Gelegenheit, das Phänomen zu studieren. Als Höhlenmensch ist man erschüttert; ich vermute, daß die meisten Leser gar nicht verstehen, wo mein Problem überhaupt liegt. In allen Zügen, in denen ich saß, waren beschäftigte Kinder zu sehen. Selbst die wunderhübsche Familie neben mir im letzten Zug, ungarisch, bildhübsche Frau, die englisch las, süßes kleines Mädchen, vier Jahre vielleicht, ließ das Kind lange an dem Gerät spielen.

Im ersten Zug von Baja nach Sárbogárd fuhr eine Schulklasse und zwei nette Jungen saßen mir gegenüber. Die Eltern standen in Scharen am Bahnhof und winkten. Die Kinder – wie immer in Ungarn – gut erzogen. Und dennoch: jeder der beiden Knaben ein Handy und als Verpflegung Cola, Chips, Kaubonbons, Salzstangen. Die ersten fünf Minuten sahen sie noch gespannt aus dem Fenster, die Zugfahrt offenbar noch ein Abenteuer, und riefen sich gegenseitig zu, was sie gerade sahen; der Zug fährt einen Bogen um die Stadt, es eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Dann haben sie sich noch ein wenig unterhalten, der eine erzählte sogar, was der Vater als Soldat erlebt hat, aber der Großteil der Fahrt war dann still, maximal durch ein Zeigen auf den Bildschirm unterbrochen.

Sie halten die Geräte fast instinktiv vor die Nase, zwingen die Augen zum Schielen und später zur Kurzsicht. Der eine Junge trägt mit seinen kaum zehn Jahren schon eine dicke Brille, was ihn in diesem Falle sympathisch und klug aussehen läßt.

Die Art des Spiels gleicht exakt jenem, das ich in Zug zwei im Sitz vor mir beobachten kann. Neben mir sitzt vermutlich ein Kirchenhistoriker, ein junger Mann noch, leider mit starkem Mundgeruch, und geht ein langes Literaturverzeichnis durch, in dem die mittelalterlichen lateinischen Quellen überwiegen. Mit ihm hätte man vermutlich ein gutes Gespräch führen können, aber so … Das Mädchen vor mir, gerade vorpubertär, schaut – wie ihre Mutter an der Seite – auch in ein Gerät. Die Spiele sind an Hohlheit nicht zu überbieten. Eine Art Flugzeug wird mit einem Katapult abgeschossen und mit dem Finger muß man es über Gelände führen, bis es irgendwo an einem Berg zerschellt. Das Ziel ist, ein paar Meter mehr zu schaffen. Sie muß dazu nur den Finger auf dem Bildschirm lassen und aus mir unerfindlichen Gründen schafft sie einmal 2125 Meter und ein andermal 2475. Selbst die Mutter schaut sich Nonsensvideos an, in denen Tieraufnahmen animiert werden – ein Papagei mit Pistole oder eine Ente mit Krücken –, was viele Menschen offenbar unterhaltend finden.

Ähnlich leer die Spiele der Jungen. Autos fahren im Kreis und müssen irgendwie zerstört werden. Jedenfalls geht der Finger des Jungen im Kreis und manchmal beginnt er hektisch auf das Glas zu pochen, dann gehen sie in Rauch auf. Oder er führt eine Art Leimtube über verschiedene Hindernisse, läßt immer wieder was vom „Leim“ liegen, woraus irgend etwas wird – Kuchen vielleicht? – und Punkte bringt. Egal!

Mich macht das traurig. So viel Leere. So viel vertane Lebenszeit. So viel Falschheit.

Sicher, ich übertreibe. Ich sehe nur den Moment und nicht den Prozeß und schließe von diesem auf jenen. Wahrscheinlich werden das alles verdienstvolle Gesellschaftsmitglieder, kritisch, selbstdenkend, frei.

Siehe auch: Erziehung kaputt

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