Lenin und die Wege des Herrn

Heute vor 100 Jahren erlitt Lenin seinen dritten oder vierten Schlaganfall und starb. Er war schon seit zwei Jahren nahezu arbeitsunfähig gewesen. Stalin nutzte die Lage, um den Zu- und Abgang zu Lenins Zimmer zu kontrollieren. Er hatte schnell begriffen, daß es zwei Wege zur Macht gibt: Man mußte sich als Fortsetzung Lenins darstellen können und man mußte die mittlere Beamtenschaft für sich gewinnen, also den Treibstoff und das Öl des Apparates. Das eine Projekt konnte nur gelingen, wenn man Lenin zum Heiligen machte, dessen Autorität unangreifbar war, denn nur dann war der Nachfolger ebenso von diesem Nimbus weitgehend geschützt. Es wundert daher nicht, daß Stalin schon wenige Tage nach Lenins Tod im Land „tourte“ und Nekrologe hielt, die den unfehlbaren Führer, den „Bergadler“ Lenin priesen. Vergessen waren die Beschimpfungen von Lenins Frau, die „Grobheiten“, die Lenin immerhin noch dazu brachten, eine Reihe an Briefen zu verfassen, in denen er unter anderem vor Stalins ungeheurer Machtkonzentration warnte und dessen charakterliche Fehler betonte. Wie sich herausstellen sollte, kamen diese Eingriffe zu spät und waren auch zu schwach verfaßt.

Stalins Lenin – also das Bild, das Stalin und wenig später der ganze Apparat entworfen hatte – entsprach kaum der Realität. Mit seinen Vorlesungen „Über die Grundlagen des Leninismus“, die später durch weitere vulgärmarxistische Venerationen ergänzt wurden und in Buchform als „Probleme des Leninismus“ zum Kanon der Kaderbildung gehörten, hatte Stalin die Auslegung des dritten Klassikers kanonisiert und im Grunde beendet: es durfte jetzt nur noch Variationen der Hauptmelodie geben und es dauerte auch nicht lang, bis die „Gesellschaftswissenschaften“, der „Marxismus-Leninismus“ ihren Sound und Jargon gefunden hatten und selbst genuine und produktive Lenin-Lektüren verunmöglichten.

Jahrzehntelang galt Lenin als der „meistgelesene“ Autor der Welt, aber das war natürlich ein starker Euphemismus. Gemeint war: der meist gedruckte. Die Auflagen im Ostblock waren enorm, allein die 40-bändige Werkausgabe ging viele hunderttausend Male über den Ladentisch und die Einzelausgaben erreichten selbst in der kleinen DDR Millionenauflagen. Aber gelesen, richtig gelesen, wurde Lenin deswegen nicht. Zum einen – jeder, der einmal im Politunterricht gesessen hat, wird das bestätigen – hinderte der apriorische Klassikerstatus jede offene Lektüre und führte zu Gähnorgien, wenn die Lehrkraft Lenin aufschlagen ließ, zum anderen waren die gehirngewaschenen Menschen gar nicht mehr in der Lage, die Texte ihrem eigentlichen Gehalt nach zu entziffern und zu begreifen, man las vielmehr vernutzend, man suchte nach „Stellen“ und brauchbaren Phrasen. Vielleicht bürgerte sich dort die seltsame Unart ein, jede Aussage als ein „Zitat“ zu benennen und den eigentlichen Sinn des Wortes „Zitat“ gänzlich zu verfehlen – so hätte Lenin immerhin auch heute noch einen kleinen vergifteten Triumph errungen.

Ich habe mir in den letzten Tagen das Vergnügen gegönnt, wieder ein bißchen Lenin zu lesen. Und was soll ich sagen? Es war großartig, begeisternd, es war verjüngend. Für mich schloß sich auch biographisch ein Kreis, denn genauso wie wir ohne Lenin nicht dort wären, wo wir sind, so wäre auch ich ganz persönlich nicht dort, wo ich bin. Daß mein Weg ausgerechnet mit Lenin begann und bis auf weiteres im rechten Kosmos endete, ja, das sind die berühmten Wege des Herrn.

Ich mag zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich in der Bodenkammer meiner Eltern kramte und dort unter allerlei Gerümpel zwei Bücher aus einer Schublade zog, die mich schwer in den Bann zogen. Das eine war Stalins „Probleme des Leninismus“, das andere, noch faszinierender, war Lenins: „Materialismus und Empiriokritizismus“. Vieles mußte zusammenkommen, um diese Bezauberung auszulösen. Der buchfreie Haushalt meiner Eltern, die reale Präsenz von Marx- und Lenindevotionalien im Alltag, der scheinbar geheime Ort – der ja eher eine Ablage war – usw.

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Zwei Dinge aber fesselten mich ganz unmittelbar. Die Bücher waren zum einen sehr alt – das eine die deutsche Erstausgabe von 1926 – , sie stammten von meinem Großvater. Ich kannte ihn nicht mehr, aber man erzählte, er sei ein bekannter Kommunist gewesen, zumindest in der Region. Da gab es also genealogische Kontinuität. Und dann war da dieser Titel: „Materialismus und Empiriokritizismus“. Ich war elektrisiert, sofort und unmittelbar. Ich nahm die Bücher, zeigte sie meinem Vater und fragte: „Papa, was ist E-m-p-i-r-i-o-k-k-k-r-i-t-i-z-i-s-mus“? An die Antwort erinnere ich mich nicht, vermutlich weil es keine gab. Also nahm ich das Lexikon und schlug nach und schrieb den ganzen Artikel ab und unterstrich in ihm alle anderen Wörter, die ich nicht kannte, Wörter wie „Metaphysik“, „Monismus“, „Positivismus“, „Empirismus“. „Fideismus“ und viele andere und in deren Lexikoneintrag fanden sich wieder neue Zauberworte und schließlich entstand ein riesiges Labyrinth an geheimen Vokabeln und mir kam der Gedanke: Wenn du eines dieser Wörter wirklich verstehen könntest, dann würden sich alle anderen auch erschließen.

Und noch etwas faszinierte mich: An einer Stelle hatte mein Großvater ein „falsch“ an den Rand geschrieben! Konnte es sein, daß er Lenin verstanden hat? Mehr noch: Konnte es sein, daß er bei Lenin, dem großen Lenin, dem „Bergadler“, einen Fehler gefunden hatte? War ich Enkel eines Mannes, der es gewagt hatte, Lenin zu kritisieren? … (Erst später konnte ich begreifen, daß mein Großvater Lenin weder kritisiert noch verstanden hatte.)

falsch

erste spätere Enttäuschung: Opa hatte doch nicht „kritisiert“, sondern sich nur versichert, mit Lenin das „Falsche“ zu erkennen

Dort begann mein Interesse für Philosophie und es begann mit Lenin. Auch ganz wörtlich. Mir kam später die Idee, den ganzen Lenin studieren zu wollen, aber dann las ich auf einer der ersten Seiten, daß man, um Lenin verstehen zu können, erst Marx und Engels kennen müsse – auch 40 Bände – und noch bei Lenin selbst war zu lesen, daß man, wenn man Marx und Engels verstehen wolle, dies nur tun könne, wenn man Hegel verstanden habe und von da an setzte meine eigene Phantasie ein und ergänzte Kant und Fichte und immer weiter zurück und landete schließlich bei Aristoteles und Platon und beim Urschleim, denn auch die hatten noch Vorfahren. Im Grunde war es sinnlos, entmutigend. Am besten, man sticht einfach irgendwo rein und versucht sich von dort aus in alle Richtungen freizuschaufeln: warum nicht bei Lenin beginnen?

pollu

noch so ein verräterischer Satz

So ganz auf mich allein gestellt und nur von der marxistisch-leninistischen Schulphilosophie beschützt, kam selbstredend nicht viel dabei heraus. Erst in Wendezeiten – da war ich dann Student – hatte mich Lenin wieder im Griff. Wir wollten die Verkrustungen loswerden und ganz zwangsläufig landete man wieder bei den sehr späten Artikeln des bereits von Schlaganfällen gezeichneten Lenin, in denen er einen Großteil seiner Theorien wieder verwarf, modifizierte. Sein Hirn war zu diesem Zeitpunkt schon schwer verkalkt, wie sich später herausstellte, regelrecht verkrustet, aber was er noch an denkerischer Bewegung hervorbrachte, überragte alle Zeitgenossen des Milieus.

Erst jetzt gehen mir viele seiner Ideen auf. Man muß sich dazu von allem historisch-moralischem Ballast befreien – ohne ihn zu vergessen oder zu leugnen – und nur in die Schrift eintauchen. Man muß den Diktator ausklammern können, die Beschimpfungen und Invektiven, vor denen seine Artikel strotzen, auch die historischen Konsequenzen, das stalinistische Rußland und auch das heutige Rußland.

Reine Arbeit am Text legt einen Lenin frei, den man enthusiasmiert lesen und der uns heute noch viel lehren kann. Da wird plötzlich der Bewegungsdenker sichtbar, das strategische Genie, dieser männliche Zugriff auf die Fragen, die Versatilität der denkerischen und literarischen Mittel, die Anpassungsfähigkeit an die Probleme, dieses beispielhafte Ringen um den Kairos. Zu alldem an anderer Stelle mehr.

lekt

aktuelle Lenin-Lektüren

Hier nur zwei überraschende und wichtige Entdeckungen einer aktuellen Leninlektüre.

Im Herzen – man glaubt es kaum – war Lenin, der Revolutionär, ein Konservativer. Man merkt das am ehesten dort, wo er sich dem künstlerischen und lebensweltlichen „Fortschritt“ entgegenstellt. Mit Modernismen in Kunst und Lebensgestaltung, all den neuen Ismen, konnte er nichts anfangen, er war ganz klassisch gebildet. Majakowski hatte ihm ein großes Poem gewidmet, übervoll mit Verherrlichungen, aber Lenin konnte mit Majakowski und dem ganzen Futurismus nichts anfangen. Einmal soll er einen Künstler gefragt haben, warum die Menschen in seinen Gemälden keine Augen und Münder haben. Und so auch in der Literatur und der Musik. Und als ihm seine Geliebte Inessa Armand einen Dreier vorschlug, da war Lenins bürgerliche Moral überfordert und er nannte die Idee „bourgeoise dekadent“.

Und dann das, ganz wichtig!: Lenin reibt sich fast immer an unmittelbaren Kampfgefährten. Der eigentliche strategische Gegner – das Kapital, die bürgerliche Philosophie, Ökonomie, Politik etc. – interessiert ihn nur in wenigen Grundlagenschriften, etwa in „Materialismus und Empiriokritizismus“ –, ansonsten geht es ihm immer nur um den Schliff. Gängig ist die Erklärung geworden, es ginge ihm um die „Reinheit“, er hätte keinen Widerspruch ertragen können, er sei streitsüchtig und bösartig gewesen und dergleichen. Ich lese seine permanenten Absonderungen anders, als Versuch, die Waffen zu schärfen und jede Scharte auszuwetzen, um sie im entscheidenden Moment einsatzbereit zu haben. Zwar kennt er sehr wohl die taktische Allianz selbst mit dem Klassenfeind, aber wenn es darauf ankommt, dann ist er unerbittlich gegen alles, was zu viel will oder zu wenig, was sich an der eigenen Phantasie berauscht und nicht an den Tatsachen, was intellektuell unter- oder überfordert, was zum falschen Zeitpunkt Kompromisse sucht und zum richtigen vermeidet … kurz: Lenin stellt ununterbrochen die Frage nach dem Ort, nach der Höhe der Debatte. So kommt es, daß ihm oft sehr nahestehende Kombattanten, die in Vielem, auch Grundsätzlichem ähnlich denken, (vorübergehend) zum Hauptfeind werden, weil sie vielleicht die falsche Methode predigen oder weil sie nicht ehrlich agieren oder weil sie zu primitiv argumentieren etc. Der eigentliche Feind für Lenin ist oft der weltanschauliche Nachbar, der in einem Detail irrt, denn dieser entzieht der Bewegung entscheidende Kräfte.

Das, so scheint mir, ist eine sehr nützliche Lehre!

3 Gedanken zu “Lenin und die Wege des Herrn

  1. Pérégrinateur schreibt:

    In Lenin in Zürich vertritt Solschenizyn, seit Kurzem ebenfalls in der Exilsituation, eine andere Position, und ich meine mich zu erinnern in einem fiktivem Selbstgespräch Lenins gerade mit Bezug auf Materialismus und Empiriokritizismus. Es sei Lenin darum gegangen, die Partei so lange von Abweichlern zu reinigen und zu spalten, bis nur noch diejenigen Mitglieder übrigblieben, die als seine gehorsamen Werkzeuge taugten. Erst Reinigung der Partei, dann erfolgreicher Wiederaufwuchs.

    Diese Deutung klang für mich nach voriger eigener Lektüre dieses philosophischen Geschimpfes, bei der ich mich stets verwundert fragte, was er als praktischer Politiker, der auf andere, bis hin zum Bankraub praktischen Politiker wirken wollte, mit dem Schinken denn eigentlich erreichen wollte, recht plausibel.

    Lenin ist demnach der Paulus des Marxismus, der eine machtergreifungstaugliche Orthodoxie aus ihm machen wollte, was ihm offenbar gelang.

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  2. Bahroschüler schreibt:

    „Der eigentliche Feind für Lenin ist oft der weltanschauliche Nachbar, der in einem Detail irrt, denn dieser entzieht der Bewegung entscheidende Kräfte.
    Das, so scheint mir, ist eine sehr nützliche Lehre!“

    Oje, nun habe ich alles in allem nicht viel mehr als vielleicht 500 Seiten Lenin geschafft, aber dafür nehme ich für mich in Anspruch, diese genau gelesen zu haben. An manchen Stellen tritt der Überredner und weltanschauliche Winkeladvokat nur all zu deutlich hervor, so dass der Rest seiner Gedanken unmöglich ernst genommen werden kann – insbesondere seine Erkenntnistheorie.
    Vor diesem Hintergrund erschreckt mich an Seidwalks Text dessen Schluss.
    Den im Detail Irrenden als Feind zu betrachten, das ist Leninismus at its best. Aber der sich darin ausdrückende und auf einen totalen – weil ewig andauernden – Bürgerkrieg hinauslaufen Politikbegriff ist vielleicht rechts, aber er ist wenig einladend. Ähnlich verhält es sich mit dem was hier Wahrheit sein soll, denn es „irrt“ nicht nur immer jemand, den es darum zu bekämpfen gilt, sondern da weiß auch immer jemand genau Bescheid. Das ist niemand anderes als Lenin selbst, und darum war Stalin oder ist eine Person wie Stalin ein echter Leninist!
    Was kann da die Lehre sein?
    Die Sehnsucht nach einem Führer? Ich hoffe nicht!

    Erschüttert hoffe ich auf eine paar klärende Worte.

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    • Die Lehre kommt aus der Lektüre. Man kann sehr gut lernen, warum Lenin sich an der kleinen Differenz so erhitzen kann. Das ist in jedem Fall etwas anderes, weshalb man die jeweilige Schrift kontextualisieren sollte. Auch darf man sich vom Ton nicht irritieren lassen, denn auch ein aggressiver Ton kann Treffendes ausdrücken. Zudem sollte man nicht vergessen, daß Lenin Russe ist, in einem Land aufgewachsen, in dem das Sich-Prügeln Kommunikationsform war und oftmals nicht mal das, sondern einfach nur Zeitvertreib. Läsen wir die Entgegnungen seiner Kontrahenten, würden wir keinen Unterschied bemerken: das war damals und dort der „gute Ton“.

      Das „Rechthaben“ darf man nicht an einer „objektiven Wahrheit“ messen, sondern am Erfolg. So zumindest sah es Lenin und der Erfolg gab ihm schließlich erstmal recht. Daß er tatsächlich öfter recht hatte als seine Kontrahenten – unter dieser utilitaristischen Voraussetzung – lag vermutlich an seiner überragenden strategischen Intelligenz. Die zwang ihn auch – trotz aller Rechthaberei – seine Position immer wieder zu variieren und manchmal auch komplett umzuwerfen. Er mag habituell ein Dogmatiker gewesen sein, tatsächlich ist er aber ein Bewegungsdenker.

      Die kleine Differenz und das Ringen damit ist deshalb lehrreich, weil wir heute zu viel „Seltsames“ mitschleppen und akzeptieren, nur weil es ein paar mehr Zahlen bringt. Wir sehen oft nicht das Kraftziehende solcher Ränder, das Desorganisierende, das Zerstreuende etc. nicht. Dafür hatte L ein sehr feines Gespür. Es geht dabei um Trennungen, nicht um Vernichtungen.

      Über den philosophischen Wert seiner „Erkenntnistheorie“ müssen wir nicht streiten. Er glaubte, die Schrift verfassen zu müssen, weil der Machismus Einzug in die Sozialdemokratie hielt und dieser Quasi-Solipsismus hätte die Handlungsfähigkeit komplett gelähmt. Daher der Furor gegen Bogdanow – ihm philosophische vll. sogar überlegen – mit dem er ein paar Jahre zuvor noch freundschaftlich Schach gespielt hatte, und Lunatscharski, der später dennoch wichtige Posten einnahm, u.a.

      @ Pérégrinateur

      Solschenizyn ist vermutlich keine vertrauensvolle Quelle in dieser Frage, auch ist „Lenin in Zürich“ ein eher schwaches Buch, weil die persönlichen Animositäten zu sehr durchscheinen. Selbst im „GULAG“ und in „Krebsstation“ gibt es mehr Distanz.
      Vom „Geschimpfe“ bitte wirklich absehen! (Oder auch auf Solschenizyn anwenden.)
      Der Paulus, das kommt wohl von Gramsci her – der selbst glühender Leninist war und nahezu alle seine heute gefeierten Konzepte von Lenin übernommen hat.
      Zu alldem – wie ich hoffe – später oder sehr viel später – mehr.

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