Das Problem mit den „Satanischen Versen“

Vielleicht sehen sie auch, daß die Kontroverse um die Satanischen Verse im Grunde ein Streit um die Frage war, wer die Macht über die große Erzählung, die Geschichte des Islams, ausüben soll, und um die Meinung, daß diese Macht allen Gläubigen gleichermaßen zusteht. (Salman Rushdie)
Romanfiguren werden geschaffen, damit sie auf eigene Rechnung leben. (Umberto Eco)

Vor 33 Jahren wurde die Fatwa gegen Salman Rushdie, den Verfasser des bedeutenden Buches „Die Satanischen Verse“, verhängt. Gestern gab es den vermutlich ersten erfolgreichen Versuch, sie durchzuführen. Warum aber hassen viele Muslime den Mann und das Buch? Weiterlesen

Die Deutungshoheit über das Lachen

Viele dürfte die unglaubliche Vehemenz überrascht haben, mit der die eine Meinungsseite auf die gut 50 Corona-Clips reagiert hat, während die andere sogleich in Begeisterung fiel. Die Filmchen wirkten wie Marmite – You either love it or hate it. Man kann an der Reaktion grob die Linie zwischen rechts und links ziehen.

Die Empörung hat Geschichte – wir sprechen über die zweite subtextuelle, meta-mediale Frage des Medienereignisses. Denn es ist bei weitem nicht der erste Fall medial generierter Entrüstung über den Humor, es ist der bisherige Höhepunkt einer längeren Reihe an „Skandalen“: Uwe Steimle oder Kay Ray wurden entlassen, Andreas Thiel gilt ob seiner Islamwitze als fragwürdig, Dieter Nuhr oder Lisa Eckhart sind rote Tücher für das linke Feuilleton …, um nur einige Namen zu nennen.

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Die Abduktion – Charles Sanders Peirce

Die Abduktion bei Charles Sanders Peirce und Umberto Eco

„Es gab keine Intrige“, sagte William, „und ich habe sie aus Versehen aufgedeckt.“ Der Name der Rose

Eine Schwierigkeit, den akzelerierenden Ereignissen einen Sinn zu verleihen, liegt oft im Mangel an empirischen Daten, deren ideologieinduzierte Verarbeitung – meist statistisch – und das Fehlen entsprechender Denkmethoden, insbesondere dann, wenn Induktion und Deduktion aus obigen Gründen an ihre Grenzen geraten. In den Corona-Zeiten fällt das Herumstochern im Unwissen besonders auf, was viele Menschen nicht davon abhält, eine „feste Meinung zu haben“. Semiotik und detektivisches Denken feiern eine Renaissance, aber ihre amateurhafte Handhabung noch mehr. Es fehlt den meisten Theoretikern das erkenntnistechnische Handwerkszeug.

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Pop Poppen Popper

Was existiert, sind ungenaue Wörter, außerstande, etwas genau zu bezeich­nen. Schaffen wir außergewöhnliche Wörter – unter der Bedingung, von diesen­ den al­lerge­wöhn­lichsten Gebrauch zu machen, und die Entität, die sie be­zeich­nen, nicht minder exi­stent werden zu lassen wie den ge­wöhnlichen Gegen­stand. Gilles Deleuze

Wenn man eine ausführliche Antwort schuldet und sie im Moment nicht geben kann, dann rettet oft ein Witz. Mit dem schnell hingeworfenen Wort, „daß Poppers Hauptwerk eines der katastrophalsten philosophischen Fehlleistungen der Moderne ist und voller intrinsischer Totalitarismen steckt“, wurde ein Faß aufgemacht, das ich jetzt nicht leeren kann. Aber ein alter Text fällt mir dazu ein – und Popper findet darin nur ein Mal Erwähnung –, den ich hier etwas verschämt einwerfe.

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Rechtsschwenk Marsch! Warum?

Wenn man glaubt, der Tiefpunkt einer Debatte sei erreicht, dann gibt es meist noch einen, der auch das letzte Halteseil kappt und den Flug in die Hölle antritt.

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Trump als Inkarnation

„Unglücklicherweise ist ‚postmodern‘ heute ein Passepartoutbegriff, mit dem man fast alles machen kann. Ich habe den Eindruck, daß ihn inzwischen jeder auf das anwendet, was ihm gerade gefällt.“ (Umberto Eco)

Die sogenannte philosophische Postmoderne investierte einen großen Teil ihrer Denkenergie darein, zu erklären, was sie selbst ist, was das Wort „postmodern“ eigentlich bedeuten soll. Ein kurzes Brainstorming, ein bißchen blättern in den alten Texten und ein erst flüchtiger Verdacht erhärtet sich. Sie ist nicht tot, die Postmoderne, sie ist gerade erst wieder auferstanden und hat sich reinkarniert.

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Sprache und Sein – produktives Paradox

Lesen ist auf etwas zugehen,das gerade entsteht und von dem noch keiner weiß, was es sein ­wird … Italo Calvino

Es gibt seit je eine Schere zwischen der Sprache und dem Sein, doch erst mit der Moderne beginnt diese sich in einem solch rasanten Tempo zu spreizen, daß es zunehmend schwie­riger wird, das Sein sprachlich bewältigen zu können, dem Sein zu ent-sprechen. Zu­nehmend werden die Menschen vom Sein überrannt – sie werden, im Verhältnis zu diesem, sprachlos. Dabei wird das überschüssige Sein erst vom Menschen in die Existenz gesetzt. Überschüssig ist das Sein, das nicht sein oder nicht wahrgenommen werden müßte. Nicht, daß es den Men­schen je­mals ge­lungen wäre, selbst dem nicht überschüssigen Sein zu entspre­chen – aber das muß­te auch nie sein. Daß die Sprache keine Seinsverdopplung sein und auch nicht an­streben kann, ist evident, und die Sprache in der Geschichte entsprach, alles Über­schüssige abge­zogen, immer nur dem, was sein mußte – um zu überleben. Die neu­zeitli­chen Proble­me betreffen folglich nicht den Überlebenswortschatz und auch nicht dessen Mangelerscheinungen, die auszufül­len das Überlebenwol­len nicht verlangte.

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Die Geschichte der Zukunft

Die Geschichte der Zukunft und die Frage der Identität

Anthropologie ist jene Deutung des Menschen, die im Grunde schon weiß, was der Mensch ist und daher nie fragen kann, wer er sei. Denn mit dieser Frage müßte sie sich selbst als erschüttert und überwun­den bekennen. (Martin Heidegger)
Sicher gibt es bei Heidegger ein Bemühen, den Namen Nietzsche oder das „Wer ist Nietz­sche“ auf die Einheit der abendländischen Metaphysik, ja auf die Ein­zigkeit einer Grenzsi­tuation auf dem Gipfel dieser Metaphysik zu reduzieren. Und dennoch war die Frage „Wer ist X?“ seiner­zeit, auf Denker bezogen, eine seltene Frage; sie ist es noch immer, wenn man sie nicht in einem trivialen biographi­schen Sinn versteht. (Jacques Derrida)

Wie Alice das Wunderland durchstreift, gerät sie an eine blaue Raupe, mit der sie ins Ge­spräch kommt. Mit der Frage „‚Wer bist du?‘ erkundigte sie sich gelangweilt und mit schläfriger Stimme“. Alltäglicher und banaler kann ein Dialog kaum beginnen und doch: „Diese Eröffnung der Unterhaltung war nicht gerade ermuti­gend“. „‚Ich weiß nicht recht, mein Herr‘, antwortete Alice ziemlich kühl, ‚wenigstens augenblick­lich nicht'“. Dieses Nichtwissen über das eigene Sein hat seine Gründe, die jenseits der abstrusen Situation liegen. Sicher, in Alices Fall spielt die Verunsicherung eine wesentliche Rolle, denn seit sie sich im Wunderland befindet, mußte sie die wunderlich­sten Verände­rungen an sich erfahren, so daß sie Identitätsprobleme bekommt: „Ich bin nicht ich“. Was aber hätte sie antworten können auf die Frage „Wer bist du“?

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Umberto Eco über Migration

Die Rassisten müßten theoretisch eine aussterbende Rasse sein. (Eco)

Noch einmal Eco! Unter allen Nachrufen auf den großen Mann stechen die Worte Arno Widmanns von der Berliner Zeitung heraus – zumindest auf den ersten Blick und von den Flüchtigkeitsfehlern abgesehen; eine Zweitlektüre läßt Zweifel aufkommen. Immerhin macht er auf einen äußerlich unscheinbaren Text Ecos aufmerksam, der den geäußerten Genieverdacht zu bestätigen scheint. Wenigstens was den aus der Geschichte heraus denkenden Visionär betrifft. Schon vor fast 20 Jahren beschrieb der polyglotte Polykulturalist zwei Erscheinungsweisen der Jetztzeit. Die Entartung der politcal correctness zum Fundamentalismus und die Migrationsströme des dritten Jahrtausends – nach christlicher, besser eurozentrischer Rechnung.

„Die Migration, die Toleranz und das Untolerierbare“ heißt das Traktätchen – es zeigt auch Ecos blinden Fleck oder seine Zeitgebundenheit. Trotzdem hat Widmann recht: Hätte man Eco damals verstehend gelesen, wir müßten nicht vor einem derartigen Scherbenhaufen aus mißlungener Humanität, gesellschaftlicher Zerrissenheit, Bigotterie und schnell zusammengeschusterten Notlösungen stehen. Eco setzt für das neue Jahrtausend ein „Gemisch von Kulturen“ voraus, er sieht ein Europa, das dem New York der 90er Jahre ähnelt. Dort

„erleben wir die Negation des Konzepts vom melting pot, verschiedene Kulturen existieren nebeneinander, von den Puertoricanern bis zu den Chinesen, von den Koreanern bis zu den Pakistani; einige Gruppen haben sich miteinander vermischt (wie Italiener und Iren, Juden und Polen), andere bleiben getrennt (in verschiedenen Vierteln, wo sie verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Traditionen pflegen) und alle treffen sich auf der Basis einiger allgemeingültiger Gesetze und einer allgemeingültigen Verkehrssprache, des Englischen, das jeder leidlich genug spricht, um sich verständigen zu können.“

Hier muß man freilich Einspruch erheben. Mittlerweile ist die Zweisprachigkeit in den USA ein anerkanntes Problem geworden. Der Süden ist hispano- der Norden anglophon und immer weniger Menschen lernen die andere Sprache. Es wurde sogar schon die Teilung des Landes angedacht. Vor allem aber übergeht Eco einen wichtigen Fakt, den er zwar nennt, aber nicht zu denken wagt. Warum, so muß man sich doch fragen, haben sich Italiener, Iren, Juden und Polen – Deutsche dürften auch dazu zählen – miteinander vermischt, wohingegen Puertoricaner, Chinesen, Koreaner oder Pakistani „nebeneinander existieren“? Es liegt auf der Hand: die kulturellen und religiösen Differenzen sind zu gravierend. Es genügt Ed McBain zu lesen, den großartigen Krimiautor – der hat in über hundert Romanen anhand der „Big Bad City“ die Phänomenologie der Migration, die Eco fordert, schon längst entworfen … spannend zu lesen, aber kein schönes Bild.

Aber Eco will eigentlich die Abstraktion und die Kritik, die Unterscheidung und da wird er wieder wichtig. Es ist die (Im)Migration:

„Man sollte den Begriff der ‚Immigration‘ von dem der ‚Migration‘ unterscheiden. Immigration liegt vor, wenn einige Individuen sich aus einem Land in ein anderes begeben. Immigrationsphänomene können politisch kontrolliert, begrenzt, gefördert, programmiert und hingenommen werden. Nicht so die Migrationen. Gleich ob sie gewaltsam oder friedlich daherkommen, sie sind wie Naturphänomene. Sie treten ein und niemand kann sie kontrollieren. Migration liegt vor, wenn ein ganzes Volk aus einem Gebiet in ein anderes zieht (wobei es nicht relevant ist, wie viele von ihm im Ursprungsland bleiben, sondern wie radikal es die Kultur des Landes, in das es eingewandert ist, verändert).“

Dann unterscheidet Eco zwischen verschiedenen historischen Migrationsformen – eine Arbeit, die endlich fortgesetzt werden müßte.

Sind Migrationen wie Naturphänomene? Ja und nein! Selbst ein berstender Staudamm – wie die Mossul-Talsperre – wäre ein Naturphänomen, wenn es denn eintritt, und doch von Menschen gemacht. Daß es im Zeitalter der Globalisierung und Verflüssigung, „in einem Klima großer Mobilität“ – das hat Eco als einer der ersten gesehen – zu geschwinden Strömen, plötzlichen Wirbeln und überraschenden Wellen auch an Menschen kommen wird, ist unvermeidlich, das konkrete Wie aber beeinflußbar.

„Immigration haben wir nur, wenn die Immigranten (die aufgrund einer politischen Entscheidung aufgenommen worden sind) in großer Zahl die Lebensweise des Landes, in das sie einwandern übernehmen, Migration dagegen haben wir, wenn die Hereinströmenden (die niemand an der Grenze aufhalten kann) die Kultur des Landes radikal verändern.“

Sowohl Anzahl als auch Abstand dürften entscheidend sein.

„Solange man es mit Immigration zu tun hat, können die Völker hoffen, die Immigranten in einem Ghetto zu halten, damit sie sich nicht mit den Einheimischen vermischen. Ist es Migration, dann hilft kein Ghetto mehr, und die Vermischung wird unkontrollierbar. Die Phänomene, die Europa heute noch als Fälle von Immigration zu behandeln versucht, sind indessen schon Fälle von Migration. Die dritte Welt klopft an die Pforten Europas, und sie kommt herein, auch wenn Europa sie nicht hereinlassen will. Das Problem ist nicht mehr, zu entscheiden, ob in Paris Schülerinnen mit dem Tschador herumlaufen dürfen oder wie viele Moscheen man in Rom errichten soll. Das Problem ist, daß Europa im nächsten Jahrtausend ein … vielrassiger, wenn man lieber will, ein ‚farbiger‘ Kontinent sein wird. Ob uns das paßt oder nicht, spielt keine Rolle: Wenn es uns gefällt, umso besser; wenn nicht, wird es trotzdem kommen.“

Darin die Aufforderung zu erkennen – wie Widmann das tut – einer problematischen Sache eine freiwillige Affirmation entgegenzusetzen, um sie dann als Problem aus dem Zirkel der Aufmerksamkeit gezaubert zu haben und sie vielleicht sogar positiv voranzutreiben – als quasi-marxistischer Helfer der Geschichte –, entbehrt der Logik, die hier ohnehin verletzt wird. Liest man diese Zeilen genau, dann fällt der Kategoriensprung auf. Gleichsam im Nebensatz schwenkt Eco vom ethnischen und kulturellen Fokus auf den religiösen. Ob er es nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte, er meidet jedenfalls diese Auseinandersetzung, was umso erstaunlicher ist, als er im nächsten Abschnitt ausführlich über den wachsenden Fundamentalismus und Integralismus spricht, ohne auch nur das Hauptproblem zu benennen: die Einwanderung einer Fundamentalreligion, deren innerster Kern der totale Integralismus ist.
Die Kernfrage der Zukunft wird sein, wie die „Offene Gesellschaft“ mit sich rasch vermehrenden geschlossenen Ideologien umgehen wird: bleibt sie offen, wird sie an ihrer Offenheit schon numerisch untergehen, bekämpft sie das Geschlossene, ist sie nicht mehr offen. Ecos Trost, daß diese Ein- und Unterwanderung wie im dekadenten Rom sich über Jahrhunderte hinziehen könnte, ist angesichts der vollkommen anderen Mengen und der Fluidität auf allen Ebenen leider wohl ein Selbstbetrug.

Schließlich widmet er sich dem Begriff der Toleranz. Auch hier sind Licht und Schatten eng beieinander. Erfrischend ist, den Begriff nicht als Ideologem behandelt zu sehen:

„Intoleranz beginnt vor jeder Doktrin. In diesem Sinne hat sie biologische Wurzeln … Intoleranz gegenüber dem Andersartigen oder Unbekannten ist beim Kind so natürlich wie der Instinkt, sich alles, was es haben will, einfach zu nehmen. … Es ist jedoch nicht so, daß die Doktrinen der Verschiedenheit diese rohe Intoleranz hervorbrächten. Im Gegenteil, die Doktrinen machen sich einen bereits diffus vorhandenen Bodensatz von Intoleranz zunutze.“

Gegen diese rohe Intoleranz könne keine Theorie und kein Intellektueller etwas ausrichten. Sie in die politische Rechnung von vornherein mit aufzunehmen – das scheint die Konklusion daraus zu sein – ist ein Akt staatskluger Weisheit, sie auszuschließen und mit Moralin zu übergießen – was wie ein Brandbeschleuniger wirkt – dagegen politische Dummheit. So verabscheuenswürdig die zahlreichen direkten Angriffe auf Flüchtlinge sind, sie waren so vorhersagbar und damit auch einrechenbar wie der morgige Sonnenaufgang.

Leider hat Eco es hier versäumt, den Begriff der Toleranz näher zu beleuchten, obwohl er der italischen Sprache entstammt: „tolerare“. Er bedeutet nicht „anerkennen“, wie viele meinen, sondern „dulden, ertragen, aushalten“. Goethe hingegen hatte das Problem bereits erkannt. Dabei muß man genau auf die grammatischen Subtilitäten achten, wenn er in den Maximen und Reflexionen schreibt:

„Toleranz sollte eigentlich eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Quelle: Umberto Eco: Vier moralische Schriften. München 1998

Ecco Eco!

Sobald ein Text für eine bestimmte Kultur „heilig“ wird, wird er Gegenstand des Spiels der argwöhnischen Interpretation und damit zweifellos überinterpretiert. (Umberto Eco)

Auch Unsterbliche müssen sterben. Vielleicht klingt das in deutschen Ohren pathetisch, denn schließlich sei Eco doch nur ein Bestsellerautor gewesen, wie es sie heutzutage zu tausenden gibt. Das wäre grob daneben!

Richtig ist: Eco schrieb Bestseller. Falsch ist: diese in die Phalanx der Schriften von der Stange einzureihen. Ecos Bestseller – genau genommen sind es nur zwei – „Der Name der Rose“ und „Das Foucaultsche Pendel“, sind hochkomplexe Logikexerzitien, randvoll mit philosophischen, semiotischen, literaturtheoretischen und historischen Fragestellungen. Wenn es je autopoetische Texte gegeben hat, dann sind diese beiden Romane der Idealtypus. Und dies alles zudem in eine fesselnde Handlung gepackt zu haben – Sherlock Holmes, den Eco liebte, sei dank –, dürfte nicht das geringste Alleinstellungsmerkmal gewesen sein.

Danach freilich, nach dem großen Erfolg, hatte der Schriftsteller die Leichtigkeit verloren. „Die Insel des vorigen Tages“ stellt den Übergang zu den zu sehr gewollten späten Romanen dar. Ecos Name jedoch machte auch den „Baudolino“, die „Königin Loana“ oder den „Friedhof von Prag“ zu gut verkauften Büchern. Für mich war die „Rose“ ein Schock und eine Offenbarung – um es im Original zu lesen, habe ich Italienisch gelernt.

Zwanzig Jahre vor dem Welterfolg (1962) war Eco den philosophischen Insidern längst ein Begriff. Sein Buch „Das offene Kunstwerk“ hatte wahrlich öffnende Wirkung. Es war die Eintrittskarte in die Welt der neuen avantgardistischen Literatur und Kunst und in die postmoderne Philosophie. „Die Poetik des ‚offenen‘ Kunstwerks strebt … danach, im Interpreten ‚Akte bewußter Freiheit‘ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpfbaren Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerks vorschriebe.“ „Netzwerk“ und „Labyrinth“ waren zwei seiner Schlüsselkategorien.

Im Osten war das noch Anfang der 90er Jahre Sprengstoff. Nun, nachdem man Zugang zu allen Quellen bekam, hat man sich durch die „Semiotik“ durchgearbeitet, und die „Philosophie der Sprache“, das Logikbuch „Der Zirkel oder im Zeichen der Drei“, in dem Eco eine Lanze für die logische Schlußform der Abduktion brach, dann die ästhetischen und literaturtheoretischen Schriften und „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“ und schließlich wollte man auch die zahlreichen Essays, Kritiken und Gespräche nicht verpassen – und immer, immer blieb man belehrt und um vieles reicher zurück.

Für Italien aber war Eco noch mehr! Er war eine Instanz, eine Institution, nach Benedetto Croce wohl der letzte seiner Art – Deutschland hat dergleichen schon lange nicht mehr zu bieten. Eco war das nationale Orakel. Als Historiker und Visionär, als Zeitanalytiker, Kommunikationspionier und als Kompendium war er berechtigt, zu allem eine maßgebliche Meinung zu haben – heute und in Zukunft wird man seinesgleichen nicht wiederfinden. Wo dieser humorvolle Ästhet und Genußmensch Zeit und Kraft hernahm, all das zu bewältigen? Auch das wird nun sein Geheimnis bleiben.

Ecce homo! Ecce Eco!

Empfehlung: Die Theorie der Abduktion bei Charles Sanders Peirce und Umberto Eco