Proteus Petőfi

Rezension Adorján Kovács: Sándor Petöfi – »Dichter sein oder nicht sein«: Dichtung und Deutung, Neustadt an der Orla: Arnshaugk Verlag 2023. 303 S., 34 €

Ohne Sándor Petőfi geht in Ungarn nichts. Man kann das Land sich nicht erschließen, hat man nicht wenigstens Grundkenntnisse über diesen Kraftmenschen und Poeten. Keine Stadt, in der es nicht ein Denkmal gäbe, kein nationaler Feiertag ohne sein „Nationallied“, kein Literaturlehrbuch ohne ihn als Mittelpunkt. Petőfi ist d e r Nationalschriftsteller schlechthin und das mag von außen schon deswegen seltsam erscheinen, weil sein Leben wild, seine Schaffensphase kurz und sein Werk vergleichsweise schmal ist. Adorján Kovács‘ Portrait und sensible Auslegung der Lyrik macht dem Leser verständlich, warum das so ist.

Er stellt uns einen multiplen Petőfi vor, der alles und nichts war und immer etwas anderes in einer jeweiligen Phase. Es gibt keine Aussage, die sich nicht durch eine andere konterkarieren ließe und dennoch gelingt es Kovács ein überzeugendes Gesamtbild zu präsentieren. Er liest den Dichter proteisch, der mit dem Meeresgott das Tiefe, das Aufwallende gemein hat aber auch den Wandel der Gestalten und das Prophetische. So prall präsentiert haben selbst die Ungarn ihren Heros noch nicht gesehen, ja Kovács kommt sogar zu dem Schluß, daß „Petőfis Popularität in Ungarn in Wirklichkeit ein Mißverständnis“ sei, aber ein sehr produktives.

Dort liebt man vor allem seine „Volkstümlichkeit“ und seine zarte Liebeslyrik oder seinen „Republikanismus“, zu sozialistischen Zeiten war es sein Revoluzzertum, doch damit ist der Dichter längst nicht ausgeschöpft, diese Konzentrationen aufs Spezifische sind ein Irrtum, denn Petőfi ist als Mensch und als Künstler nahezu unerschöpflich. Man liest diese Seiten atemlos und ahnend, wie komplex dieses scheinbar übersichtliche Werk des Dichters eigentlich ist.

Nach einem sehr dichten Einleitungskapitel, in dem der große Spannungsbogen gezogen wird, stellt uns Kovács nachfolgend den Proteus in all seinen Schattierungen, in seinem inneren Reichtum und in seinen zahllosen Widersprüchen in 13 Kapiteln vor, immer wieder mit beispielhafter Lyrik gesättigt, deren einziger Nachteil ist, daß die deutschen Übertragungen oft hinter dem Original zurückbleiben, aber auch hier versucht der deutsch-ungarische Kritiker durch Zusammenstellungen und Eigenkorrekturen das Bestmögliche herauszuholen. Allein die Gedichte zu lesen, ist ein Genuß, um so mehr als sie uns in ihrem Kontext erläutert und oft auch weltliterarisch verglichen werden. Kovács erweist sich nicht nur als sensibler Interpret, sondern auch profunder Kenner der magyarischen, der deutschen und der europäischen Literatur. Das Buch ist wissensschwer. Selbst philosophische Bezüge – etwa zu Nietzsche oder zu Sartre werden souverän präsentiert.

Was immer Petőfi anzufassen versuchte, schien zu Gold zu werden. Aber seiner inneren Unruhe gemäß konnte er bei keinem Gegenstand oder bei keinem Stil dauerhaft bleiben, schnell erreichte er ein Optimum und schrieb sich damit an die vorderste Front der Literatur – bis heute oftmals noch unbemerkt –, um sich einer neuen Lage, einer neuen Stimmung hinzugeben. Seine fünf, sechs produktiven Jahre vor seinem geheimnisvollen Verschwinden in der Schlacht bei Segesvár im Sommer 1849 weisen die ganze Gefühlspalette von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt und ein breites Arsenal an künstlerischen Mitteln vom klassischen oder religiösen Gedicht über naturalistische, pantheistische, atheistische, sogar perverse Exklamationen bis zum freien lyrischen Parlando oder einer Poésie pure auf und immer schien er zu exzellieren, selbst noch in seinen verschollenen Gedichten.

Kovács Grundlagenwerk ist nicht hoch genug zu loben, ein Meilenstein, ein Muß für alle Liebhaber Ungarns, der Poesie und des freien Denkens. Es ist sicher kein Zufall, daß ein solches Werk unserem Milieu entstammt. Der Autor ist engagiert und hält dennoch den objektiven Ton. Dem deutschen Leser wird ein unentdeckter Kontinent erschlossen, dem Ungarn – das Buch erschien zuerst auf Ungarisch – ein neuer, anderer Nationalheld, den man nun auf höherer Ebene lieben kann: beseitigt man nämlich das eigentliche Mißverständnis auf solch kundige Weise, so müßte Sándor Petőfi in seinem Heimatland nun um ein Vielfaches populärer und bedeutender werden, als er es jetzt schon ist!

zuerst erschienen in Sezession 119

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Petőfi und der Nationalfeiertag der Ungarn

Unter den vier politisch motivierten Feiertagen in Ungarn stellt der 15. März laut einer Volksbefragung mit Abstand den bedeutendsten dar, selbst den Sankt Stephanstag – den eigentlichen Nationalfeiertag am 20. August – ausstechend. Heute stehen hunderttausende Ungarn an einem örtlichen Gedenkplatz und erinnern an die Revolution von 1848, deren Verlauf und hektische Abfolge an Ereignissen jedes Schulkind im Schlaf aufsagen kann. Weiterlesen

Das Kreuz Christi und der Galgen

Die 13 “Blutzeugen” (Aradi vértanúk) gelten in Ungarn als Helden und Märtyrer. Diese Generäle und Soldaten wurden am 6.10.1849 hingerichtet – die Tat erschütterte die Ungarn, der Tag gilt noch heute als Gedenktag. Einige dieser Männer waren nicht mal Ungarn, sondern Deutsche, Kroaten oder Serben und haben ihre letzten Worte vermutlich nicht auf Ungarisch gesprochen.
Die ungarische Rockgruppe „Kárpátia“ hat aus der Zusammenstellung der letzten Worte dieser Männer – unmittelbar vor der Hinrichtung gesprochen; so will es die Legende – ein beeindruckendes und nahegehendes Gedenkwerk gemacht, das – wie ich finde – auch zur Weihnachtszeit gut paßt. Hier vereinen sich christliche Botschaft, Heimatliebe, Opferbereitschaft und Ungarn in geglückter Weise.
Anhören, mitlesen.

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Hegemoniale Illusion und illusionäre Hegemonie

Aufgrund technischer Minderbemitteltheit kam mir erst heute Martins Sellners Replik auf die Buchkritik des „Nationalen Blocks“ zu Gehör. Wen es interessiert:

https://t.me/s/martinsellnervideos/2152?q=%23audioanalyse

Leider fehlt mir im Moment und auf Wochen hinaus die Zeit, darauf gebührend einzugehen. Weiterlesen

Nationaler Block

Bei dem vor wenigen Wochen im Jungeuropa-Verlag erschienenen Büchlein des ungarischen Spindoktors Márton Békés handelt es sich um eine vorbildlich übersetzte (Georg Nachtmann), um ein Abschlußkapitel und ein Vorwort (Benedikt Kaiser) erweiterte Wiedergabe des kleinen Taschenbuches „Nemzeti Blokk“, das Teil einer Art Minibuchreihe ist, in der neue, aber grundlegende rechte Texte to go verlegt werden. Kaiser, Sellner, Kubitschek, Stein … haben es alle als Vorab-Klassiker angekündigt. Weiterlesen

Die zwei Gesichter der ungarischen Stadt

Wenn man ungarische Städte besichtigt, dann sollte man die Fähigkeit mitbringen – wie die Photographen oder Maler – Bilder im Kopf zu rahmen. Da gibt es in Györ etwa die Schweidel utca, eine wunderschön pittoreske kleine Gasse im Barockstil, renoviert, winzige Cafés, man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, sieht sich wie ein Kossuth oder Arany durch die Straßen wandeln, mit Kragen und Stock …, aber nur, wenn man nach links schaut, denn rechts davon, gegenüber, steht das Betonmonster des Theaters, das wie eine riesige Schanze das ganze Viertel überragt und wenn man nach vorne blickt, dann schaut man auf graue und fleckige realsozialistische Elfstöcker, die teilweise in prekärem Zustand sind. Und so ist es in vielen ungarischen Städten, auch in den schönsten. Weiterlesen

Von Wühltischen und Fundgruben

Drei, viermal die Woche schaue ich am Wühltisch vorbei. In der Markthalle kann man dort gebrauchte Bücher ablegen oder mitnehmen. Dieser Tätigkeit fröne ich seit Jahrzehnten, und zwar in verschiedenen Ländern, zuerst wohl in England – dort waren es vor allem die Charity Shops, die man an jeder Ecke findet, und die Boot Sales –, aber auch bei meinen seltenen Aufenthalten in Dänemark, wo man ebenfalls in Zweitverwertungsläden, hauptsächlich aber auf privaten Trödelmärkten, wahre Schnäppchen machen kann. Dann selbstredend auch in Deutschland, wo sich die ausgedienten Telefonzellen als Büchersammelstellen bewährt haben, und nun also in Ungarn. Weiterlesen

Im Gen-Pool der Magyaren

In einer seiner stoischen Regeln empfahl Sándor Márai das regelmäßige Heilbad[1], am besten zwei bis drei Mal pro Woche. Das ist für einen Budapester leicht gesagt, denn die ungarische Metropole hat gleich mehrere und sehr vielfältige Thermalbäder. Die Touristen strömen ins Gellért, ins Rudas oder ins Széchenyi-Heilbad, wer aber authentisch baden will, der sollte in die kleinen Bäder, das Lukács etwa, gehen. Weiterlesen

Warum Ungarn

Manche Leute reden heutzutage gleich von Hetze, wenn man etwas oder jemanden kritisiert. Tatsächlich ist Kritik oft eine Form der Liebe oder ein Erinnern daran, was etwas oder jemand sein könnte, wenn es oder er sein ganzes Potential entfaltete. Selbst die geliebteste Person ist nicht fehlerfrei und je länger man sie kennt, umso mehr Fehler entdeckt man auch, zeigt sie sich von ihren fragwürdigeren Seiten. Eigentliche eine Banalität – daß man das hervorheben muß, zeigt den geistigen Zustand unserer Gesellschaft. Weiterlesen

Ungarn als Menschen

Vor Jahren hatte ich bereits darüber geschrieben, mehrfach, und nun bestätigt es sich wieder. Es ist für unsereinen nicht immer leicht mit den Ungarn. Irgend etwas hemmt sie, irgendwo geht ihnen etwas ab, was für uns Deutsche vor Normalität fast unsichtbar ist. Die Rede ist vor allem von Ungarn hinter Tischen, Tresen, Theken, an Schaltern, an Kassen, in Büros. Weiterlesen

Ein Buch, zwei Meinungen

Mittlerweile trudeln die ersten Stellungnahmen zu Albert Wass‘ neu übersetzten Roman „Gebt mir meine Berge zurück!“ ein. Sie werden hier kommentarlos aufgelistet, denn sie sind vielsagend, sie sagen nicht nur viel über dieses Buch, sondern auch über die Welt, in der wir leben.

Leserbrief: Das Buch hat mich sehr aufgewühlt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals ein Buch gelesen hätte, das mir so nah war. Es ist so schön und wahr und allgemein gültig und tief menschlich. Es liest sich wunderbar, auch wenn es gleichzeitig erschütternd ist, weil es deutlich macht, wie Menschen Spielbälle, eher Opfer von Systemen werden. Was mit den Siebenbürgern passiert ist, zeigt die ganze Tragik und Absurdität, die politische und damit auch Menschen gemachte Entscheidungen zur Folge haben. Welch eine Ungerechtigkeit, welch ein Leid! Wie können Menschen anderen Menschen so etwas antun? Ein Antikriegsbuch, zugleich voller Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Ich musste an meine Vorfahren denken. Die Familien meiner Eltern sind ja beide vertrieben worden. Entwurzelte Menschen ohne richtige Heimat, ohne eigene Kultur, denn die eigene Kultur mussten sie ja unterdrücken, vergessen, verleugnen…“ Weiterlesen

Nationalfeiertag in Ungarn

Sándor Petőfi und das Nationallied

Er war der erste, der in den einfachen Menschen das Bewußtsein weckte, was es eigentlich bedeute, ein Volk zu sein. Was das Wort „Heimat“ bedeute. Und damit verbunden, das Wort „Freiheit“. Denn er konnte beide nicht voneinander trennen.  László F. Földényi

Schon Tage zuvor tauchen sie auf, die Nationalkokarden in den ungarischen Landesfarben. Zuerst auf den Märkten, dann in den Auslagen und Schaufenstern und schließlich an den Revers, Schals und Kragen der Menschen. Bald ist der 15. März, der Nationalfeiertag.

Ungarn hat mehrere davon, doch die Erinnerung an die Revolution von 1848 sitzt am tiefsten, auch wenn sie von allen Regimes und Regierungen immer wieder instrumentalisiert und umgedeutet wurde. Eine Umfrage Ende der 90er Jahre sah den 15. März mit mehr als 50% Zustimmung weit in Front, immerhin wollten viele noch den 20. August, den Sankt-Stephans-Tag als bedeutsamstes Ereignis sehen, aber nur 4% werteten den 23. Oktober hoch, der Tag, an dem 1956 der Ungarische Aufstand losbrach[1]. Weiterlesen

Lob des Nationalismus

Orbáns Leseliste IV

Als Viktor Orbán in seinem großen Interview in der „Budapester Zeitung“ nach Lektüretipps gefragt wurde, da fiel ihm zuerst Yoram Hazony ein. Dann berichtet er sogar von persönlichen Gesprächen mit dem israelischen Philosophen und Bibelwissenschaftler, die ihn sehr beeindruckt haben. Gleich zwei Bücher empfiehlt er dem Leser – „Nationalismus als Tugend“ wird hier deswegen ausgewählt, weil es seit zwei Jahren eine sehr gut lesbare deutsche Übersetzung gibt. Weiterlesen

The West and the rest

Orbáns Leseliste II

Roger Scrutons Buch erschien vor 20 Jahren und ist als unmittelbare Reaktion auf den 11. September 2001 zu lesen. Wenn Viktor Orbán es in seine Allzeit-Leseliste aufnimmt, dann wird es wohl bleibenderen Wert für ihn beanspruchen. Warum, das wird schnell klar: Scruton will uns nicht den Islamismus erklären, sondern dessen Geburt aus dem Islam und den fundamentalen Unterschied zu dem, was wir die „westliche Demokratie“ nennen. Dabei versucht sich der konservative und sehr traditionell wirkende englische Philosoph in Objektivität, er vermeidet also die Parteinahme, will uns beide Konzepte in objektivem Ton vorstellen, ohne freilich das „Wir“ und „Die“, in das wir hineingeboren werden, zu negieren. Weiterlesen

Orbáns Leseliste – Nationale Interessen

In seinem sehr lesenswerten großen Interview mit der “Budapester Zeitung” hatte Viktor Orbán auch einige Lesetipps verteilt, Bücher benannt, die ihn beeindruckt und beeinflußt haben. Der Zufall will es, daß ich die meisten davon im Hause habe. Es kann keine schlechte Idee sein, Orbáns Hinweis zu folgen, die Bücher zu lesen und vielleicht gelingt es uns dadurch sogar, seinem Denken, seiner politischen Grundüberzeugung näher zu kommen.
Heute: Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen

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Wehrdienst, Treue, Liebe, Triebe

Ungarische Rock-Kultur III

Das hier ist dritte Liga und dennoch ein paar Worte wert. Zum einen, weil wir von einer Künstlerin sprechen – Ica Bìró, alias Metal Lady – zum anderen, weil sie in diesem Lied ein Thema besingt, daß viele DDR-Bürger aus eigener Erfahrung kennen. Sie besingt es auf einfache Weise und mit einer Stimme, die künstlerisch wenig hergibt. Sie ist wohl die einzige ungarische Rock- und Heavy-Metal-Sängerin, die es überhaupt zu einem gewissen Ruhm gebracht hat. Im Land ist sie ansonsten nur als frühe Aerobic-Ikone und als Skandalnudel bekannt, der es später schwer fiel, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Heute wirken die Gymnastikvideos, die bewußt den Sex-Appeal einsetzen, nahezu lächerlich, sie verraten aber viel über die Zeit. Weiterlesen