Die Verantwortung der Psychoanalyse

Die meisten Leser werden wohl der Beobachtung zustimmen, daß unsere Jugend mehr und mehr psychischen Störungen unterliegt. Statistisch gesehen scheint sie immer weniger belastbar und leistungsfähig zu sein, die Zahl der jungen Leute mit einer psychologischen Diagnose ist exorbitant gestiegen, ob ADHS, Autismus, LRS, Bulimie, Borderline, SVV, Depression, Schulangst, andere Angststörungen und zuletzt Genderinkongruenz, all diese Krankheiten, Abweichungen und Verhaltensprobleme sind auf rasantem Vormarsch, es wird geschätzt, daß in Deutschland innerhalb eines Jahres jeder fünfte Teenager an einer psychischen Störung leidet – eine unvorstellbare Zahl. Wer nicht in seiner Pubertät eine Störung hatte, ist schon nicht mehr normal. Wir züchten systematisch eine kaputte Generation heran und die Perspektiven für die kommenden sind noch düsterer.

Die Ursachen sind komplex und vielfältig, über ihre Gewichtung wird gestritten. Unstrittig ist jedoch, daß die hyperkomplexe und sich immer weiter akzelerierende Gesellschaft nebst ihren  technisch-medialen Möglichkeiten und Zwängen, scheinbar unlösbare Probleme kreiert. Trotz der tausend Erleichterungen, die uns das moderne Leben verspricht – die Moderne ist überhaupt das Zeitalter der Erleichterung –, wird das Leben offenbar immer beschwerlicher. Eine Jugend, die 24/7 am Bildschirm hängt, die keine Not mehr kannte, die in einer allround-Versicherung lebt, überall abgefedert und gepampert, scheitert nun an der Last der Erleichterungen. Darauf wollen wir uns hier gar nicht einlassen: das Gelände ist schwer zu überblicken und überall lauern Tretminen.

Stattdessen soll die These vertreten werden, daß die Psychoanalyse, wie sie Sigmund Freud entworfen und institutionalisiert hatte, einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung beigesteuert hat – eine Beobachtung, die bisher nahezu unbemerkt blieb. Freuds Theorie ist freilich selbst ein Produkt der sich komplizierenden Gesellschaft …

Die Psychoanalyse war eine Revolution. Freud hatte gute Gründe, sie als dritte Menschheitskränkung zu beschreiben. Die kopernikanische warf uns Menschen aus dem Zentrum des Kosmos, die darwinsche machte uns zu einem Tier mit fragwürdiger Verwandtschaft und die freudsche nun lehrte uns, daß wir auch im eigenen Hause nicht zuhause seien, das „Unbewußte“ wurde plötzlich eine höhere Macht und erschütterte den Glauben an unsere bewußte Beschlußfähigkeit, und die Libidotheorie sollte uns davon überzeugen, daß all unsere Probleme in schlimmen frühkindlichen sexuellen Erfahrungen gründen, insbesondere Mutter und Vater wurden als belastende Figuren entdeckt, die sich fast zwangsläufig – schon durch den puren Besitz ihrer Geschlechtsmerkmale – kindlicher Traumatisierungen schuldig gemacht haben.

In dieser Denkfigur erkennen wir ein heute allgemein verbreitetes Phänomen, das zur Bastardisierung führte. Mit diesem Begriff beschrieb Peter Sloterdijk in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ die kaum zu leugnende Tatsache, daß erstmals in der Menschheitsgeschichte nun seit einigen Generationen, die Eltern ihre Kinder nicht mehr als eigene erkennen und die Kinder ihre Eltern nicht mehr verstehen. Und auch dieser Prozeß unterliegt einer rasanten Beschleunigung.

Das Schuld-Argument hat sich nun flächendeckend durchgesetzt. Egal, wie engagiert Eltern ihr Kind behütet und gefördert haben, am Ende wird es unter etwas leiden und die Eltern waren schuld. Sie waren es in vielen Fällen durch ihre Überbehütung und Extremförderung tatsächlich. Kaum erwähnenswert, daß es in der Phänomenologie dieser Fälle deutliche Stadt-Land-Differenzen gibt. Je „einfacher“ die Menschen, desto unkomplizierter ihr Nachwuchs. Die Psychoanalyse war ein inhärenter Aufruf: Kinder an die Macht!

Aber ihr destruktives Werk – das konstruktive soll hier nicht geleugnet, sondern nur ausgeklammert werden – geht noch tiefer. Indem sie alle Modernen und sogar die Alten psychologisierte, machte sie uns alle zu Problemfällen. Selbst der glücklichste und ausgeglichenste Mensch mußte – vielleicht sogar durch sein zur Schau gestelltes Glücklichsein – ein dunkles Geheimnis verbergen; man mußte nur lang genug danach suchen und je länger man nichts fand, umso größer stand der fürchterliche Verdacht der „Verdrängung“ in der Luft. Normal sein galt als unnormal und unnormal sein als normal. In den big Cities wurde es Mode, „zu seinem Analytiker“ zu gehen – Woody Allen hat dieser Spezies in mehreren Anläufen ein Denkmal gesetzt, ganz genial in „Der Stadtneurotiker“ („Annie Hall“).

Mit der Psychoanalyse war das Besteck einer allumfassenden Psychologisierung bereitgelegt worden. Daran ändert auch nichts, daß sie in ihrer klassischen Form heute nur noch eine Nischenrolle spielt. Sie selbst hatte sich schon in Kognitive Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie und Systemische Therapie aufgefächert, mittlerweile gibt es dutzende andere Verfahren – jede leistet auch Gutes! Aber alle haben eines gemeinsam, sie teilen die Freudschen Unterstellungen und auf dieser Basis wurden von den zahlreichen Schulen teilweise waghalsig und assoziative Theorien hervorgebracht.

Auch in ihrem Agieren ähneln sie sich insofern, als ihr Ziel zuerst die Diagnose ist. Und hier beginnt ein vielfach repetierter Teufelskreis.

Kinder hatten auch früher Probleme: mit den Eltern, mit der Schule, mit den Gleichaltrigen, mit dem anderen Geschlecht, mit Gewalterfahrungen usw. Aber sie hatten keine Chance auf eine Diagnose und so mußten die Probleme gelöst werden und wurden in den meisten Fällen auch gelöst. Sie trugen Verletzungen davon, aber daß das Leben aus unausweichlichen Verletzungen besteht, war damals unausgesprochene Grundannahme. Die meisten dieser Kinder haben ihr Leben dennoch gemeistert, mehr oder weniger freudvoll und glücklich, aber sie konnten mit den Verletzungen umgehen, haben sich angepaßt. Sie wußten nicht, was „sie hatten“ und konnten sich nicht hinter einer Diagnose verstecken.

Wir beobachten heute hingegen sehr oft den Fall, daß Kinder bereits bei kleinsten Problemen oder Auffälligkeiten – die früher gar nicht aufgefallen wären – zum Psychologen geschickt werden. Sind sie einmal dort, dann muß der Seelendoktor eine Diagnose stellen, das ist ihm systemisch vorgeschrieben. Diese Diagnose gehört zu einem beeindruckend umfassenden Diagnoseschlüssel, dem „ICD“ („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”) und berechtigt den „Patienten“ zu einer Therapie. Eine ganze Armee an Therapeuten lebt davon – von der Pharmaindustrie zu schweigen – und auch diese sind mittlerweile heillos überarbeitet. Die Diagnose wirkt aber zugleich als Stigma. Dem Strafregister vergleichbar, trägt der junge Mensch dieses Kainsmal nun lebenslang mit sich herum und oftmals identifiziert er sich auch damit, agiert also so, als hätte er das, was ihm zugeschrieben wird.

Umgekehrt wurde den Eltern ein Instrument in die Hand gegeben, die eigene Überforderung, das „Gestreßtsein“, das erzieherische Versagen hinter einer Diagnose zu verstecken und die Verantwortung für die eigenen „schrecklichen Kinder“ abzulehnen, etwa wenn ein ADHS die Unerzogenheit des Kindes aufgrund mangelnder Grenzsetzung erklärt oder ein Kind, das aus welchen Gründen auch immer, Schwierigkeiten bei der sozialen Integration hat, eine Autismus-Diagnose bekommt. Hier repliziert sich die weit verbreitete moderne Unart, die Schuld einerseits immer bei einem anderen zu suchen und andererseits die Beseitigung des Mißstandes institutionell abzugeben. Man hat verlernt, für den eigenen Mißerfolg einzustehen, ist andererseits stets wach, des Vergehen der anderen wahrzunehmen und aufzudecken. Die Überwachungsgesellschaft ist kein Einbahnstraßenphänomen, sie funktioniert auch von unten nach oben.

Im Grunde funktioniert diese Logik bereits flächendeckend. Eine halbwegs aufgeklärte Öffentlichkeit ist – mehr oder weniger bewußt – auf der permanenten Suche nach verdächtigen Symptomen. Ein Kind malt mit Vorliebe Elefanten? Es muß vom Vater sexuell mißbraucht worden sein! Eine Mutter ergoogelt sich Autismus? Plötzlich versteht sie ihre Tochter viel besser und weiß nun, weshalb sie manchmal so seltsam ist. In der Schule gibt es eine Weiterbildung über ADHS? Mit einem Male kommen dem Lehrer eine Reihe Problemkinder in den Sinn … Die Sensibilisierungsschwelle ist enorm gesunken, eine Jungenschlägerei etwa, einst als Schritt zur Mannwerdung gewertet, bekommt heute das Etikett Mobbing und Bullying und damit eine gut einzuordnende Diagnose. Hätte man von drangsalieren oder schikanieren gesprochen, wäre alles noch im Bereich des normal Menschlichen geblieben, insofern man es mit einer moralischen, vielleicht auch juristischen Kategorie zu tun gehabt hätte, aber nicht mit einer psychologischen und therapierbaren.

So kommt es, daß viele Kinder im eigentlichen Sinne individuell, aber doch vollkommen normal sind, von aufgeregten Erziehungsberechtigten – Eltern, Lehrer, Psychologen vor allem – problematisiert und in die Falle der Diagnostizierung getrieben werden. Ohne das Einsickern der frühen Psychoanalyse in das öffentliche Bewußtsein wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen – was die tatsächlich krankmachende Wirkung modernen Lebens nicht negieren soll. Mit seinen literarischen Studien und den Arbeiten zum Witz hatte Freud seine Verdächtigungen bis tief in die Sprache versenkt.

Hinzu kommen die Moden. Im 19. Jahrhundert war es die Hysterie und Ohnmacht der Frauen. Freud beschrieb sie als „Krankheit des Gegenwillens“; tatsächlich hatte sie oft die versteckte Funktion, die rollenspezifischen Spannungen im modernen städtischen Frauenleben temporär zu lösen. Schon damals war der Unterschied von Stadt und Land bekannt. In seinem grandiosen burlesken Roman „Sankt Peters Regenschirm“ beschrieb der bedeutende ungarische Romancier Kálmán Mikszáth etwa die Ohnmacht einer Gouvernante nach einem Schreck mitten in einem Pusztadorf. Sie wurde von den komplett ratlosen Bauern weggetragen; diese hatten derartiges noch nie gesehen und konnten es sich beim besten Willen nicht erklären.

In den letzten Jahren waren Eßstörungen und Selbstverletzungen in Mode – von ihnen hört man immer weniger, sie werden durch die Transgeschlechtlichkeit und die Unsicherheit, das eigene Geschlecht zu definieren, substituiert. Der exponentielle Anstieg dieser Fälle ist ein klarer Beweis dafür, daß wir es mit einer neuen Form der Hysterie zu tun haben. So wie jene auf wunderliche Weise wieder verschwand, so wird auch diese Welle wieder abebben (und vermutlich von einer neuen ersetzt werden), sobald sich die gesellschaftlichen Bedingungen ändern.

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