Londoner Impressionen
Der 33. Spieltag der Premier League-Saison 2015/16 wird als Ereignis in die englische Fußballgeschichte eingehen. Leicester City, die Mannschaft mit der schlechtesten Paßquote dürfte mit seinem Auswärtssieg in Sunderland die Meisterschaft endgültig gesichert haben. Mit einem Spielergesamtwert von gerade einmal 127 Millionen Euro – Manchester City, Chelsea, Arsenal und ManUnited haben jeweils das Vier- bis Fünffache – hat der Aufsteigerclub die Liga förmlich überrannt und alle Fußballphilosophie über den Haufen geworfen. Trotz notorischen Mangels an Ballbesitz – oft weniger als 30% – ist es keiner einzigen Mannschaft gelungen, gegen die überfallartigen Konterangriffe mit aus der Verteidigung herausgeschlagenen langen Bällen, die jede noch so ausgeklügelte Abwehrorgansiation ad absurdum führt, ein Mittel zu finden. In der Spitze lauern pfeilschnelle und rotzfreche Angreifer, die hohen Bälle eiskalt zu verwerten. Sage und schreibe ganze drei Spiele hat Leicester bis dato verloren …
Die Quoten bei den Bookies für die Meisterschaft sollen bis zu 1:5000 gelautet haben – einige die-hard-Leicester-Fans und Spaßvögel, die 10 oder 100 Pfund gesetzt hatten und die bis zuletzt die Nerven behielten und den panischen Rückkaufangeboten standgehalten haben, dürfen sich freuen. (Mein Tipp für das nächste Jahr: Leicester steigt ab.) Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
Auch für West Ham United war der 33. Spieltag geschichtsträchtig. Zum letzten Mal hat es ein London-Derby im altehrwürdigen Upton Park gegeben. Damit setzt sich ein Trend fort: alte, traditionsreiche Stadien werden neuen und moderneren Spielstätten geopfert, um noch mehr Zuschauer anzulocken. Die wirtschaftliche Entwicklung der Premier League, die Attraktion des englischen Fußballs, kennt im Zuge der Globalisierung noch lange keine Grenzen. Meist geht der Stadiontausch jedoch mit einem Verlust an Atmosphäre einher und nicht wenige alte Fans gehen verloren. Auch das ist eine Frage der Identität. Sowohl Arsenal (Highbury – Emirates Stadium) als auch Manchester City (Maine Road – Etihad Stadium) haben diese Erfahrung bereits gemacht, Tottenham und Chelsea ziehen demnächst nach. Einst repräsentierten die Fußballclubs die jeweilige Stadt oder das Stadtviertel, Fußballspiele waren Revierkämpfe, besonders dann hart umkämpft, wenn große Klubs gemeinsame Reviere teilten (West Ham – Millwall, Arsenal – Tottenham, Chelsea – Fulham etc.), heute pilgern die Zuschauer aus aller Welt in die Fußballkathedralen.
Nun also auch West Ham. Nach Ende der Saison zieht man ins neue Olympiastadion um. Damit meint man, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Nach der Olympiade 2012 stand die Immobilie leer und drohte eine Investruine zu werden. Die Stadt London zeigte großes Interesse und Engagement, dies zu verhindern. West Ham kann dann fast 20 000 Tickets mehr verkaufen. Der fußballerische Aufstieg der letzten Jahre und Monate unter dem neuen Trainer Slaven Bilic scheint weiterzugehen – vielleicht gelingt es The Hammers tatsächlich, sich dauerhaft mit den Magnatenklubs zu messen.
Ein weiterer Grund dürfte eine Rolle gespielt haben. Er wird sichtbar, wenn man den Upton Park besucht. Ich war im letzten Jahr Zuschauer bei der Partie gegen Manchester City und erlebte einige surreale Szenen. Das Stadion liegt inmitten eines ausgedehnten Wohnviertels mit den typisch englischen Einzel- oder Terrassenhäusern. Hier lebte einst das englische Proletariat, hier wurde Cockney gesprochen. Im Süden des Borough of Newham liegen die Londoner Docks: Industriearbeiter, Dockarbeiter, kleine Angestellte besiedelten diesen Stadtteil, der schon immer ein „tough ground“ war. Am Wochenende pilgerten sie in die Stadien.
Heute sind die Straßen um den Upton Park fest in pakistanischer Hand. Kaum noch 40% Weiße besiedeln die Viertel, in Teilen Newhams sind „ethnische Minderheiten“ längst die Mehrheit. Upton Park wirkt wie ein Marsraumschiff in dieser Gegend. Die muslimische Bevölkerung kann mit dem Klub kaum etwas anfangen, das traditionelle Publikum ist längst der Ghettoisierung gewichen. Eine endlose Schlange weißer Männer und Frauen zieht sich von der U-Bahn-Station hin zum Stadion, am Rand stehen Männer mit weißen Kaftanen, langen Bärten und Badelatschen. Selbst die Polizei kennt kaum noch englische Physiognomien. Ein riesiger asiatischer Markt bietet von exotischen Früchten über Halal-Fleisch bis zu muslimischen Friseuren eine vollkommen autarke Welt. Gäbe es den vierzehntägigen Lindwurm an singenden Fans nicht, die neupakistanische Idylle wäre fast perfekt. Bald ist es soweit.
London Baker Street 2016
siehe auch: Die große Fußballmetapher
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