Quoten im Fußball

Bevor ich es vergesse, schnell aufschreiben.

Mir träumte – in einer wirren Folge von wenig zusammenhängenden Bildern –, daß ich mit Freunden Fußball schaute. Bei Everton im Tor ein neues Gesicht. Stürzte wie ein Wilder im Strafraum herum, seltsam unkonventionelles Verhalten, streichelte einen Gegenspieler, nachdem er ihm einen Ball vom Fuß genommen hatte, ein bißchen pummelig, rundes Gesicht, androgyn … Plötzlich fährt es mir durch den Kopf? Ist das eine Frau? Ich schreie meinen Nachbarn an: „Is this a woman?“ Ich bin entsetzt! Weiterlesen

Guardiolas Titanic-Fahrt

Verlieren gehört dazu! Wer nicht verlieren kann, der sollte kein Fußball-Fan sein. Manche – wie z.B. Schalke oder HSV-Fans – kennen gar nichts anderes mehr. Auch bei Manchester City weiß man ein Lied davon zu singen. Jahrzehntelang war man eine unberechenbare Fahrstuhlmannschaft, deren offizieller Slogan zwar „Superbia in Proelia“ lautete, inoffiziell erkannte man den wahren Fan aber an seinem „typical City“, was so viel hieß wie: nie Vorfreude riskieren, sie wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auf tragische Weise bitter bestraft werden.

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Die Sprache der Trikots

Die letzten Spieltage der großen europäischen Ligen gaben uns die Möglichkeit, einen ersten Blick auf die Trikots der kommenden Saison zu werfen. Es ist fester Bestandteil der Merchandising-Industrie, jedes Jahr neue Designs einzuführen und die Fans zum Kauf derselben zu animieren. Ein Shirt wird mittlerweile von 70 bis 120 Euro gehandelt – die weltweiten Umsätze dürften enorm sein, bei den großen Klubs macht das Merchandising zwischen 25 und 50% der Gesamteinnahmen aus – wir sprechen hier von hunderten Millionen. Ein neues, hochwertiges und attraktives Trikot anzubieten – genau genommen sind es drei verschiedene: Heim, Auswärts und drittes – ist ein wesentliches Ereignis, Star-Designer werden engagiert, Ausstatter gewechselt, um immer nahe am Bedarf zu sein.

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Das entscheidende Tor

Die Rede vom entscheidenden Tor hat mich immer verunsichert und nie richtig überzeugt. Nehmen wir an, eine Mannschaft liegt mit Null zu Eins im Rückstand, ihr gelingt der Ausgleich und in der Nachspielzeit schießt sie das zweite Tor. Mit großer Selbstverständlichkeit wird der Reporter vom „entscheidenden Tor“ sprechen, wenn nicht schreien. Dabei wäre dieses Tor nicht entscheidend gewesen, hätte es das erste Tor – also den Ausgleich – nicht gegeben. Damit das zweite Tor überhaupt entscheidend sein konnte, bedurfte es des ersten Tores, das damit entscheidend für das zweite Tor und letztlich für den Sieg war. Umgekehrt hätte es aber nicht für das zweite Tor entscheidend sein können, wenn dieses nicht gefallen wäre, womit das zweite Tor entscheidend dafür ist, daß das erste entscheidend sein konnte. Und von vorn.

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Klopps Liverpool als Vorreiter

Spiele dieses Kalibers, wie das CL-Finale, enthalten immer wichtige Lehren, wie wir bereits letztes Jahr gesehen haben. Auch dieses ebenfalls denkwürdige Endspiel, wenn auch aus ganz anderen Gründen, verdient ein paar Zeilen.

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Stammtischparolen

Jeder kennt das: man liest unsere Presse und greift sich alle paar Minuten kopfschüttelnd an den Kopf. Es gehen einem ein paar Gedanken durch selbigen, aber ehe man sie ausgefaltet hat, liest man schon den nächsten Artikel – das Drama beginnt von vorn. Man muß nicht immer alles bis ins Kleinste ausdeuten. Manchmal – auch aus Selbstschutz – genügt das Stammtischniveau.

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Die Gerechtigkeitsillusion

Der Videobeweis im Fußball wird in der Regel mit dem Gerechtigkeitsargument begründet. Tatsächlich opfert er der Illusion der Gerechtigkeit die Schönheit des Sports. Er nährt die Phantasie, daß es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt gäbe.

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Integrationsversagen Klopp

1. Mein alter Wasserballtrainer war ein integrer und fairer Mann. So sehr, daß ich ihn als Bürgen wählte, als ich in die Partei eintreten wollte. Er sagte voraus, daß ich ein guter und zuverlässiger Genosse sein werde – und hatte recht behalten, wenn auch vielleicht anders als gedacht. Von ihm habe ich einige wichtige Lehren fürs Leben erhalten.

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Die rote Rassismuskarte

Ich spiele die Rass(ismus)karte nur sehr ungern. Als ontologischer Trumpf hat sie mich nie überzeugt – was an mangelnder Kenntnis der Diskussion, die mich bisher auch wenig interessierte, liegen mag –, ästhetisch finde ich sie wenig anziehend und erkenntnistheoretisch scheint sie mir kaum etwas zu leisten. Wenn andere sie allerdings im Diskursskat austeilen, dann muß man sie gezwungenermaßen aufnehmen. Trotzdem: es ist alles nur ein Spiel.

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Sanés mißlungene Integration

Als Manchester City vor drei Wochen die Meisterschaft mit 100 000 Fans in der Stadt feierte, wurde Ilkay Gündogan, der den ganzen Tag schon sehr nachdenklich wirkte – es war der Tag, an dem sein Besuch bei Erdogan publik wurde –, auf offener Bühne gefragt (ab 16.55):Do you think this Manchester City side can beat the German National side?“ Gündogan kann endlich wieder lachen, muß eine Weile nachdenken – ein wahres Dilemma der Loyalitäten – und sagt dann lachend, zur Freude der Fans: „It’s possible“. Ich glaube, seit heute ist es mehr als das, es ist probable.

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Warum das Ende naht

Das Langsamste wird im Lauf niemals vom Schnellsten eingeholt werden; erst einmal muß doch das Verfolgende dahin kommen, von wo aus das Fliehende losgezogen war, mit der Folge, daß das Langsamere immer ein bißchen Vorsprung haben muß.
Aristoteles über das Achillesparadox des Zenon von Elea (Physik VI 9. 239 b)

Seit Jahrzehnten gehörte in ein gutes allumfassendes Schachbuch die Computerrubrik, und die wiederum konnte es sich offensichtlich nicht leisten, ohne Prognose auszukommen: Wann würde der Computer endgültig den Menschen – gemeint sind natürlich immer nur die besten der Spezies – hinter sich lassen. Gesucht wurde der Zeitpunkt, an dem auch die hervorragendsten Geister keinerlei Chance mehr haben werden, so als würde Max Mayer tausend Mal gegen Magnus Carlsen antreten und tausend Mal verlieren.

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Die letzten Helden

Some people think football is a matter of life and death. I assure you, it’s much more serious than that. Bill Shankly

In einer wertentkernten Welt wird die identitätsstiftende und geschichtstragende Rolle des männlichen Helden, die seit Jahrtausenden im mythologischen Zentrum der Großzivilisationen lag, nach außen verlagert und medial an Männer vergeben, die es zu überragender und beeindruckender Meisterschaft im Werfen oder Treten von Bällen geschafft haben.

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West Ham

Londoner Impressionen

Der 33. Spieltag der Premier League-Saison 2015/16 wird als Ereignis in die englische Fußballgeschichte eingehen. Leicester City, die Mannschaft mit der schlechtesten Paßquote dürfte mit seinem Auswärtssieg in Sunderland die Meisterschaft endgültig gesichert haben. Mit einem Spielergesamtwert von gerade einmal 127 Millionen Euro – Manchester City, Chelsea, Arsenal und ManUnited haben jeweils das Vier- bis Fünffache – hat der Aufsteigerclub die Liga förmlich überrannt und alle Fußballphilosophie über den Haufen geworfen. Trotz notorischen Mangels an Ballbesitz – oft weniger als 30% – ist es keiner einzigen Mannschaft gelungen, gegen die überfallartigen Konterangriffe mit aus der Verteidigung herausgeschlagenen langen Bällen, die jede noch so ausgeklügelte Abwehrorgansiation ad absurdum führt, ein Mittel zu finden. In der Spitze lauern pfeilschnelle und rotzfreche Angreifer, die hohen Bälle eiskalt zu verwerten. Sage und schreibe ganze drei Spiele hat Leicester bis dato verloren …

Die Quoten bei den Bookies für die Meisterschaft sollen bis zu 1:5000 gelautet haben – einige die-hard-Leicester-Fans und Spaßvögel, die 10 oder 100 Pfund gesetzt hatten und die bis zuletzt die Nerven behielten und den panischen Rückkaufangeboten standgehalten haben, dürfen sich freuen. (Mein Tipp für das nächste Jahr: Leicester steigt ab.) Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

Auch für West Ham United war der 33. Spieltag geschichtsträchtig. Zum letzten Mal hat es ein London-Derby im altehrwürdigen Upton Park gegeben. Damit setzt sich ein Trend fort: alte, traditionsreiche Stadien werden neuen und moderneren Spielstätten geopfert, um noch mehr Zuschauer anzulocken. Die wirtschaftliche Entwicklung der Premier League, die Attraktion des englischen Fußballs, kennt im Zuge der Globalisierung noch lange keine Grenzen. Meist geht der Stadiontausch jedoch mit einem Verlust an Atmosphäre einher und nicht wenige alte Fans gehen verloren. Auch das ist eine Frage der Identität. Sowohl Arsenal (Highbury Emirates Stadium) als auch Manchester City (Maine RoadEtihad Stadium) haben diese Erfahrung bereits gemacht, Tottenham und Chelsea ziehen demnächst nach. Einst repräsentierten die Fußballclubs die jeweilige Stadt oder das Stadtviertel, Fußballspiele waren Revierkämpfe, besonders dann hart umkämpft, wenn große Klubs gemeinsame Reviere teilten (West Ham – Millwall, Arsenal – Tottenham, Chelsea – Fulham etc.), heute pilgern die Zuschauer aus aller Welt in die Fußballkathedralen.

Blowing Bubbles

Blowing Bubbles at Upton Park: West Ham – ManCity 2015

Nun also auch West Ham. Nach Ende der Saison zieht man ins neue Olympiastadion um. Damit meint man, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Nach der Olympiade 2012 stand die Immobilie leer und drohte eine Investruine zu werden. Die Stadt London zeigte großes Interesse und Engagement, dies zu verhindern. West Ham kann dann fast 20 000 Tickets mehr verkaufen. Der fußballerische Aufstieg der letzten Jahre und Monate unter dem neuen Trainer Slaven Bilic scheint weiterzugehen – vielleicht gelingt es The Hammers tatsächlich, sich dauerhaft mit den Magnatenklubs zu messen.

Ein weiterer Grund dürfte eine Rolle gespielt haben. Er wird sichtbar, wenn man den Upton Park besucht. Ich war im letzten Jahr Zuschauer bei der Partie gegen Manchester City und erlebte einige surreale Szenen. Das Stadion liegt inmitten eines ausgedehnten Wohnviertels mit den typisch englischen Einzel- oder Terrassenhäusern. Hier lebte einst das englische Proletariat, hier wurde Cockney gesprochen. Im Süden des Borough of Newham liegen die Londoner Docks: Industriearbeiter, Dockarbeiter, kleine Angestellte besiedelten diesen Stadtteil, der schon immer ein „tough ground“ war. Am Wochenende pilgerten sie in die Stadien.

Heute sind die Straßen um den Upton Park fest in pakistanischer Hand. Kaum noch 40% Weiße besiedeln die Viertel, in Teilen Newhams sind „ethnische Minderheiten“ längst die Mehrheit. Upton Park wirkt wie ein Marsraumschiff in dieser Gegend. Die muslimische Bevölkerung kann mit dem Klub kaum etwas anfangen, das traditionelle Publikum ist längst der Ghettoisierung gewichen. Eine endlose Schlange weißer Männer und Frauen zieht sich von der U-Bahn-Station hin zum Stadion, am Rand stehen Männer mit weißen Kaftanen, langen Bärten und Badelatschen. Selbst die Polizei kennt kaum noch englische Physiognomien. Ein riesiger asiatischer Markt bietet von exotischen Früchten über Halal-Fleisch bis zu muslimischen Friseuren eine vollkommen autarke Welt. Gäbe es den vierzehntägigen Lindwurm an singenden Fans nicht, die neupakistanische Idylle wäre fast perfekt. Bald ist es soweit.

London Baker Street 2016

London Baker Street 2016

 siehe auch: Die große Fußballmetapher