„OTT ÁLL az Istenszéke magosán a Maros fölött. – Dort steht der Gottesstuhl[1] hoch über dem Maros.“
Mit diesen ikonischen Worten eröffnet Albert Wass seinen Großroman „Die Hexe von Funtinel“. Sie gehören in die überblickbare Reihe großartig gelungener erster Sätze in Romanen der Weltliteratur. Nur auf den ersten Blick können diese Worte trivial erscheinen, wenn man Wass aber kennt, dann spürt man sofort die große Setzung. Da gibt es etwas, das ist unveränderlich, ewig, ein Grund, ein Anker, unverrückbar – ein Halt. Und zwar ein doppelter: die Natur und Gott in einem Wort und in einer Erscheinung, und das IST.
Dort oben nämlich – so fährt der Roman einleitend fort – hatte Gott seinen Platz; jetzt aber sitzt er da nicht mehr, die Welt ist nicht mehr so, wie sie einst war und zu sein hatte und hätte: „Die Menschen haben ihn vertrieben. Verscheucht haben ihn die Dampfsägen, der Lärm und das Geschrei, der Krach der Holzfäller, das Schrillen der Lokomotiven, die hastig zusammengeschusterten Häuser, der Müll, der Dreck, der Unfriede und alles, was mit dem Menschen zusammen die Täler hinauf kam.“ Wass‘ Roman ist auch eine große Variation über Nietzsches Tollen Menschen.
© Wikipedia
Nun stehe ich vor ihm, Aug in Aug, vor dem Gottesstuhl. Man sieht ihn schon aus großer Ferne wenn man in dieses Tal biegt, wie er in Höhe und Form alle anderen Gipfel überragt. Der Istenszéke hat keine Kuppel, von unten sieht er aus wie abgesägt, ein kilometerlanges Plateau.
© Auguszta Istenszéke vendégház
Als ich das Auguszta-Gasthaus am Fuße des mystischen Berges zum ersten Mal im Internet sah, war mir sofort klar: dort mußt du übernachten, da schien alles zusammenzukommen. Direkt am Ufer des Maros und dem Berg gegenüber gelegen, ein altes Jagdhaus von klar herrschaftlicher Bauart im Herz jener urungarischen Region, in der die großen Romane Albert Wass‘ spielen: Erdély[2]. Als der alte Tóderik mühsam vom Berg heruntersteigt, da kommt er in Galonya an, exakt hier an diesem Punkt, irgendwo kam er jenen Berg herunter, der nun, während ich das tippe, vor mir in der Sonne liegt. Ich sitze auf der Terrasse des Jagdhauses.
Und wäre das nicht schon genug gewesen, so winken auch noch ungarische Fahnen und Székler Symbole vor dem Haus und innen ist es voller Devotionalien, Bilder, Plaketten, Schautafeln und Landkarten – ganz nach meinem Geschmack. Ich kenne den kräftigen bärtigen Mann auf den Bildern nicht – er ist der Betreiber der Herberge – aber ich weiß instinktiv, daß wir uns sympathisch sein werden, daß ich viel von ihm werde lernen können – über Wass, die Székler, Siebenbürgen – und daß wir Ungarisch reden werden inmitten von Rumänen.
Wie national-rumänisch die Gegend ist, wird erst bei der Anreise deutlich. Überall hängen die rumänischen Farben und auf den Dorfplätzen wehen überdimensionierte Flaggen, nicht selten von kleineren EU-Flaggen komplementiert. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich vermute, daß die aggressive Beflaggung hier auch ein Affront sein soll, der den vielleicht 20 Prozent Ungarn jeden Tag deutlich machen soll, daß hier Rumänen und nicht Ungarn herrschen. Hundert Kilometer südlich, dort wo die Ungarn die Mehrheit stellen, dürfte sich die Sache spiegeln. Géza aber – unser Wirt – zeigt seinen Mut und seine Entschlossenheit, wenn er sein Haus in rot-weiß-grün und blau-gelb eindeckt.
Wir kommen später als gedacht in der Herberge an, der Grund dafür waren Diskrepanzen zwischen tatsächlich existierenden oder nichtexistierenden Straßen und Autobahnen und Karten in Papier und Geräten: Welcome in Romania.
Diese Worte kamen mir schon am Grenzübergang in den Sinn: hundert Meter Luftlinie Entfernung zu Ungarn und man ist in einer anderen Welt. Wir stehen in brütender Sonne für eine Autobahnvignette an, demonstrativ wird der zweite Schalter geschlossen. Ich hatte es versäumt, noch in der Zivilisation auf Toilette zu gehen, hier bezahle ich den Preis dafür: die Tür kaum zu verriegeln, keine Klobrille, natürlich auch kein Papier, die Seifenspender leer und am Eingang fordert einer einen Obolus für all den Service. Dann aber nagelneue Raststätten auf nagelneuen von EU-Geldern finanzierten Autobahnen, nur daß die Restaurants und Tanksäulen noch nicht arbeiten. Es wäre einen Test wert, diese Plätze in drei oder fünf Jahren wieder zu besuchen …
Das Haus – als wir endlich ankommen – wirkt noch heruntergekommener als auf den Bildern, seine Architektur offenbart wirkliche Seele, aber eine Renovierung größeren Umfanges täte ihm wohl gut. Im großen Empfangssaal sitzen ein paar Männer und Frauen um einen Tisch und reden, Kinder sitzen auf den Schößen. Vom Bild her hätte ich den Wirt nicht erkannt, er muß in den letzten Jahren enorm an Gewicht zugelegt haben. Er sitzt an der Stirnseite, führt das Wort, steht auf in seinen kurzen Hosen, das fleckige T-Shirt überdeckt gerade so den üppigen Bauch – es stellt die Székler Flagge dar – später wird sich zeigen, daß er einen Faible für solche Hemdbotschaften hat: heute eine Flagge, morgen ein Zitat, dann ein Porträt oder Werbung für das Csiki-Bier; sein Vorrat scheint unausschöpflich.
Herzlicher Empfang, Pálinka zum Einstand, auf nüchternen Magen. Er zeigt uns das Zimmer – jedes mit eigenem Thema, historischer oder literarischer Art. Wir wohnen – war es Zufall oder hatte er tatsächlich noch in Erinnerung, daß ich ihm vor Monaten über mein spezielles Interesse schrieb? – wir wohnen im sogenannten Wass-Zimmer.
Darin zwei Betten, eine Lampe und sonst nichts. Die Tür zur Veranda läßt sich nicht schließen. Aber die Wände voller Wass-Zitate und Bilder, Photographien und Zeichnungen, Gebete, Gedichte, weise Worte … man spürt, wie sehr dieser Autor, der Siebenbürgen und seine Menschen so sehr liebte, von diesen wiedergeliebt wird.
Gleich geht es zum Abendessen in den Saal. Dort hängt die gesamte Garde der ungarischen siebenbürgischen Literatur in Porträtform an den Wänden, jener legendäre Helikon-Kreis, der einst ein wichtiger Teil der ungarischen Nationalliteratur war: Bánffy Miklós, Kós Károly, Tamási Áron, Dsida Jenő, Kuncz Aladár, Nyirő József, Makkai Sándor, Kemény János und wie sie alle heißen – jeder ein Werk, jeder eine Welt, die meisten vergessen, fast alle als „Nationalisten“ verschrien, weil sie ihre Heimat liebten und gegen das historische Unrecht verteidigten. Der größte unter ihnen, zumindest der heute noch präsenteste: Wass Albert. Er fehlt natürlich nicht an der Wand, ebensowenig wie Horthy oder der junge Orbán.
Wir wechseln ein paar freundliche Worte mit den Gästen, dann gibt es noch einen Pálinka und ein Bier, immer auf Kosten des Hauses: Csiki-Sör. Székler-Bier. Ungarisches Bier, wie Géza betont, auch wenn man es in Rumänien verkauft. Es ist stark und dunkel und würzig, das vielleicht beste ungarische Bier und es gehört keiner der internationalen Konsortien.
Dann setzt er sich zu uns und wir unterhalten uns geschlagene zwei Stunden über Wass, Literatur, Geschichte, Siebenbürgen, über das Haus, seine Familie, Ungarn und Rumänien, über Orbán und alles, dazu noch ein Bier, noch ein Pálinka – Géza stößt immer wieder auf, man sieht ihm an, daß der Abend lang war. Schließlich setzen sich auch die anderen Gäste zu uns. Jetzt wird es schwer, dem Gespräch zu folgen, wie immer, wenn Ungarn sich untereinander unterhalten, aber es ist nicht zu übersehen, daß der junge Mann in der Runde – auch wenn er dem dominanten Redner in seinen radikalen Positionen nicht zu widersprechen wagt – sich nicht immer wohl fühlt.
Später stellt sich heraus, daß zu der jungen Familie das Auto mit dem Frankfurter Kennzeichen gehört. Ich spreche sie also deutsch an. Sie verraten uns, daß sie am nächsten Tag zum Istenszéke hochwandern wollen und bieten uns die Begleitung an.
Genauso hatte ich mir den Besuch hier vorgestellt: Vollkommen unvorbereitet, ohne Karte, ohne Plan wird sich immer etwas ergeben, kann man improvisieren und wenn nicht, dann wird das Wort „Wass“ bei Géza oder seinen Freunden automatisch Türen öffnen.
[1] Istenszéke – hohe Felsformation, 1381 Meter hoher Berggipfel im südwestlichen Teil des Kelemen-Gebirges
[2] Siebenbürgen
Übersetzungen: Seidwalk
Fortsetzung: Bären und Salamander
Ein Artikel (auch) über einen Berg ohne seine Geologie muss als unvollkommen angesehen werden.
Hochplateaus haben oft im Anstehenden eine besonders erosionsresistente Schicht, im Südwestdeutschen Schichtstufenland etwa die Felsenkalk-Formation des Weißjuras, die Arietenkalk-Formation des Schwarzjuras, die Löwenstein-Formation, die Hassberge-Formation oder die Stuttgart-Formation des Mittelkeupers usw.
Die Dinge der Welt sind keine Zeichen, aber gewöhnlich der Erklärung fähig. Besonders ärgerlich ist es, wenn man etwa unter obligatorischer Führung eine Tropfsteinhöhle besichtigt und sich im Publikum, nachdem der Führer die „populären“ Namen irgendwelcher Tropfsteinbildungen genannt hat, eine längere Diskussion darüber entspinnt, ob man nicht etwa ein „Höhlenweiblein“ besser „Hochzeitstorte“ oder „Christbaum“ hätte nennen sollen. (Immerhin nicht „Höhlen-Elter-1“, aber wer weiß, wie man das inzwischen hält …)
Oh diese Sinnsuchenden in Platons Höhle!
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