Jene Leser, die sich nicht für Fußball interessieren, sollten sich nicht gleich von diesem Text abwenden. Er führt zu einer Schlußfolgerung, die allgemein lehrreich sein kann.
Haaland ist der Name des Moments. Seitdem der norwegische Ausnahmestürmer für Manchester City spielt – die wohl spielstärkste Mannschaft der Welt – ist er endgültig zum globalen Aufreger geworden. Das Netz und die Gazetten sind voller Wundern und Staunen, denn was wir zur Zeit beobachten, ist ein Schlüsselmoment in der Geschichte dieses Sports. Haaland hat das Zeug, sich in die Ehrenlinie Pelé-Maradonna-Messi-Ronaldo einzuschreiben. Das Verwunderliche dabei: er kann es fußballerisch mit keinem dieser Spieler aufnehmen, er ist viel weniger versiert, verfügt kaum über strategisches Gesamtverständnis des Spiels, ist auch technisch nicht so breit aufgestellt … und dennoch könnte er das Spiel revolutionieren.
Schon in Molde, Salzburg und Dortmund waren seine Statistiken atemberaubend und dabei drehte es sich immer um Tore und Vorlagen. Er braucht die mit Abstand wenigsten Ballkontakte, um ein Tor zu schießen, seine Torschnitt pro Spiel ist außerirdisch und stellt auch den jungen Messi in den Schatten, schoß Agüero in der Premier League noch regelmäßig 20+ Tore, darf man von Haaland locker das Doppelte erwarten, die Rekorde purzeln bereits nach sechs Spieltagen (10 Tore + 2 in der CL) und deuten daraufhin, daß er seine überaus erfolgreichen Zahlen beim BVB bald überbieten dürfte.
Sollte man ihn vergleichen wollen, dann fallen einem keine Namen ein, am ehesten vielleicht noch Lewandowski – der seit Jahren in einer schwächeren Liga konstant seine 40 Tore in vergleichbarer Position macht – oder Ibrahimovics – wenn es um Athletik und Körperbeherrschung geht. Jetzt aber spielt er mit einem Mittelfeld zusammen, das es in dieser Qualität bisher kaum gegeben hat. Allen voran De Bruyne, der beste Paßgeber und Flankenschläger aller Zeiten – daß er noch nicht Weltfußballer geworden ist, ist ein Skandal. Aber auch Gündogan, Foden, Mahrez, Cancello, Bernardo Silva sind Fußballer vom Feinsten, ballsicher, mit taktischem Überblick, vielseitig versiert, sie alle können und werden Haaland so füttern, wie er es noch nie erlebt hat.
Was aber macht ihn aus? Schon rätseln die Experten über sein Geheimnis. Seine Physis ist offensichtlich beeindruckend. Bei 1,95 Meter Körpergröße verfügt er über unglaubliche Schnelligkeit und recht gute technische Fähigkeiten. Sein Wille ist der eines Löwen. Er weiß immer, wo das Tor steht, und schießt aus allen Lagen, selbst im Fallen oder Liegen und mit allen Körperteilen, wenn es sein muß. Sobald er neben oder vor dem Verteidiger läuft, ist er praktisch nicht mehr regulär zu stoppen, er schüttelt sie ab wie lästige Fliegen.
Aber es steckt mehr dahinter als Naturtalent. Haaland hat selbst unglaublich an sich gearbeitet. In einem Interview gestand er, mit seinem Vater – der selbst ein Fußballprofi war und bei Manchester City eine Fast-Ikone ist – jahrelang am Abseits gearbeitet zu haben. Tatsächlich sieht man Haaland äußerst selten ins Abseits laufen, er hat sich einen sicheren Instinkt erarbeitet, immer hinter der letzten Linie zu bleiben. Konnte Sané noch fünf, sechs Mal pro Partie ins Abseits laufen, muß man bei Haaland vielleicht fünf Partien warten, bis ihm das ein Mal passiert.
Neuere Analysen zeigen, daß er einen sehr engen Bewegungsradius hat und sich fast immer im Torwartraum bewegt. Während Agüero sich immer wieder Bälle im Mittelfeld eroberte und sich in der Tiefe bewegte, bleibt der Norweger konstant horizontal.
Zuletzt gab es eine Studie, die nachweisen wollte, daß Haaland deutlich weniger auf den Ball schaut als andere Stürmer oder Mitspieler, dafür aber signifikant öfter die Spielsituation scannt, die Positionen und Bewegungsrichtungen seiner Gegenspieler, um die kommende Konstellation zu antizipieren und sich öffnende Lücken zu sehen, den Verteidigern also zu entkommen. Ihm genügen ein paar Zentimeter Freiheit, um zu einer Toraktion zu kommen.
Auch sind seine Wendemanöver beeindruckend. Lukaku etwa lehnt sich gegen den Verteidiger und verteilt den Ball nach hinten weiter, um sich dann durch eine Drehung für einen Paß bereit zu halten. Haaland täuscht die Wendung selber an und kann sich dadurch den Paß, das Dreieck und damit eine Gelegenheit zur Verteidigung ersparen.
Wir werden sicherlich bald noch mehr über ihn erfahren, schon sind Wissenschaft und Statistik interessiert. Der Mann ist ein Phänomen.
Die Frage, ob er der Mannschaft letztlich helfen wird oder nicht, muß freilich noch offen bleiben. Man kann nach dem bisherigen Start mit 40 oder 50 Toren von ihm rechnen, keine Frage, ob aber die Gesamttorzahl steigt, muß sich noch zeigen. Sicher ist City versatiler geworden, das typische Flankenspiel hat einen neuen Abnehmer und auch der Paß in die Schnittstelle ist nun wieder eine echte Option.
Andere Spieler werden aber vielleicht weniger Tore schießen, sie werden auch in der Entscheidungsfindung beeinträchtigt. Phil Foden etwa mußte bereits drei Mal die frustrierende Erfahrung machen, mit einer falschen Entscheidung gescheitert zu sein. Jedes Mal hätte der Querpaß in die Mitte zu Haaland fast sicher zum Tor geführt, doch Foden probierte es direkt und scheiterte. Auch Kyle Walker hätte City im letzten Spiel gegen Aston Villa den Sieg bescheren können, wenn er den Paß gewagt hätte.
Beunruhigend sind auch die Gegentore, die die Ausnahmemannschaft noch immer bekommt. Zum einen arbeitet Haaland wenig nach hinten und überhaupt spielt die Mannschaft oft nur zu zehnt, zum anderen bleibt sie bei hoch aufgerückten Situationen konteranfällig und wehrt über die Verteidigung gespielte Bälle noch immer schlecht ab. Schließlich muß man auch die Kabine in die Rechnung einbeziehen. Guardiola ist es bisher hervorragend gelungen, eine Mannschaft zu formen, in der man füreinander kämpft. Ein Spieler, der alle Schlagzeilen auf sich vereint und andere Ausnahmekönner plötzlich gewöhnlich wirken läßt, kann die Chemie stören.
Von alldem abstrahierend zeigt Haaland, daß auch scheinbar ausdifferenzierte Systeme sich neu organisieren können er könnte sogar das Ende der Philosophie Guardiolas bedeuten. Man kann ihn vielleicht mit Boklöv vergleichen, der durch seine neue Skisprungtechnik den Sport revolutionierte. Oder denken wir an den Scatingschritt im Skilanglauf, den Flop im Hochsprung, der Schere und Rolle ablöste. Diese Athleten werden von der Entwicklung hervorgebracht, erneuern diese aber selbst und bringen sie in neue Dimensionen. Oft ernten sie nicht mal den großen Erfolg, denn die neue Sichtweise, die Technik braucht Vervollkommnung. So könnte man vielleicht auch Lewandowski als den eigentlichen Pionier bezeichnen, aber Haaland wird – körperliche und geistige Gesundheit vorausgesetzt – das Spiel neu definieren, sein Typus wird bald das Nonplusultra sein. Ein Spieler wie der gerade von Klopp geholte Darwin Núñez stellt die Bestätigung dieser These dar. Haaland könnte – wie sein Landsmann Magnus Carlsen im Schach – den Sport die nächsten Jahre dominieren, aber auch er wird seinen Lehrmeister finden und auch sein System wird sich irgendwann festfahren und noch niemand weiß, welch neuer innovativer Typ folgen wird.