Das entscheidende Tor

Die Rede vom entscheidenden Tor hat mich immer verunsichert und nie richtig überzeugt. Nehmen wir an, eine Mannschaft liegt mit Null zu Eins im Rückstand, ihr gelingt der Ausgleich und in der Nachspielzeit schießt sie das zweite Tor. Mit großer Selbstverständlichkeit wird der Reporter vom „entscheidenden Tor“ sprechen, wenn nicht schreien. Dabei wäre dieses Tor nicht entscheidend gewesen, hätte es das erste Tor – also den Ausgleich – nicht gegeben. Damit das zweite Tor überhaupt entscheidend sein konnte, bedurfte es des ersten Tores, das damit entscheidend für das zweite Tor und letztlich für den Sieg war. Umgekehrt hätte es aber nicht für das zweite Tor entscheidend sein können, wenn dieses nicht gefallen wäre, womit das zweite Tor entscheidend dafür ist, daß das erste entscheidend sein konnte. Und von vorn.

Man kann sogar soweit gehen und behaupten, daß ein nicht geschossenes Tor entscheidend für den Spielstand oder sogar den Sieg/die Niederlage war und das trifft fast immer zu. Denn wenn dieses Tor gefallen wäre, dann hätte es jenen Spielstand nicht gegeben. Insofern kann auch der einzige Ausnahmefall, das Eins zu Null, unter obiger Prämisse subsumiert werden.

Kurz und gut: die Rede vom entscheidenden Tor ist mindestens suspekt. Die „Entscheidung“ ist etwas, was uns Sprache und menschliches Denken anbieten, um zu komplexe Phänomene lösbar erscheinen zu lassen. Man kann „Tor“ auch mit „Faktor“ ersetzen.

Daß Agüero – um ein klassisches Beispiel zu nehmen – in der letzten Spielminute der Verlängerung des letzten Spieltages der legendären Saison 2011/12 das „entscheidende“ Tor schießen konnte, lag nicht nur an den bereits zuvor gefallenen Toren, sondern an vielen anderen Faktoren ebenfalls. So dürfte der Gegner, QPR, der vor der Partie abstiegsgefährdet war, zu diesem Zeitpunkt bereits gewußt haben, daß die Ergebnisse auf den anderen Plätzen den Klassenerhalt bereits gesichert hatten – das erklärt das unkontrollierte Herausschlagen des Balles aus den eigenen Reihen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, weiter darum zu kämpfen, was Manchester City erst ermöglichte, auch diese letzte Chance herauszuspielen.

Aber die Bedingungen waren auch ganz konkret: Hätte der fallende Balotelli nicht instinktiv den Ball in die Gasse zu Agüero gespielt, hätte dieser das letzte Dribbling nicht gewonnen, wäre Nedum Onuohas verzweifeltes Tackle geglückt …, das „entscheidende“ Tor wäre nicht zustande gekommen. All diese Aktionen waren im Nachhinein entscheidend dafür, daß das „entscheidende“ Tor fallen konnte, mehr noch, genau betrachtet: alle Aktionen dieses Spieles waren entscheidend, denn selbst wenn der Schiedsrichter eine Minute später angepfiffen hätte, dann wäre die Partie wohl anders verlaufen.

Am Ende läuft das Weltgeschick – nicht zwangsläufig, aber zielstrebig – immer just auf jenen Augenblick hinaus, den wir gerade erleben.

Nur wenn man die Gesamtheit bewußt in Intervalle trennt, lassen sich tatsächlich Ursache und Wirkung – in einigen Fällen – scharf trennen.

Nehmen wir Corona. In Ungarn gibt es noch übersichtlich wenige Fälle. Die Opfer des Virus werden – wohl ein Unikum an Transparenz – tagtäglich akribisch aufgelistet, man kann das hier nachlesen. Aufgelistet werden auch die Vorerkrankungen und die sind in der Regel – man erfährt natürlich nie den Grad der Malaise – ernsthaft. Gerade heute wurde ein Mann vermerkt, dessen Vorerkrankung ein „Stroke“ war. Das ist fast schon komisch, wenn es nicht so tragisch wäre. Vermutlich ist dieser Mann an einem Schlaganfall gestorben und trug nebenbei den Virus in sich. Vielleicht aber wäre der Schlaganfall glimpflicher ausgegangen, wenn er durch den Virus nicht geschwächt gewesen wäre? Wir wissen es nicht. Vielleicht wäre ein anderer ohne Virusschwäche auch nicht die Treppe hinunter gestürzt? Hat der Virus ihn getötet oder die Treppe?

Die meisten Menschen auf dieser Liste sind alt und hatten einen ganzen Kanon an gesundheitlichen Problemen mit sich herumgeschleppt. Nehmen wir so eine künstliche Intervallabtrennung vor und imaginieren wir einen Fall – filmreif. Jemand schleift sich in seinen letzten Agonien, die ihm der Virus verschafft, vielleicht schon von Sinnen, auf eine Autobahn und wird von einem Lastzug überfahren. Dies mag wenige Augenblicke vor seinem sicheren Virus-Tod geschehen sein, wir können dennoch behaupten, daß der Mann durch Überfahren zu Tode kam, selbst dann, wenn wir wissen, daß die Agonien, die ihn verwirrt auf die Fahrbahn treten ließen, durch das Virus verursacht waren. Es ist wie das entscheidende Tor: man kann noch so viele Paradoxa aufführen, unser Menschenverstand will das letzte Tor als das entscheidende ansehen.

Aber wir wollen der wahren Wahrheit dennoch ins Angesicht schauen: der letzte Grund für den fürchterlichen Tod des Mannes ist nicht der Lastwagen, war auch nicht das Virus oder seine zahlreichen Vorerkrankungen … der eigentliche und letztgültige Grund war seine Geburt – und die seiner Mutter …

5 Gedanken zu “Das entscheidende Tor

  1. Thomas Schubert schreibt:

    Es mag ja sein, dass die Leistung von Messi im WM Finale von Rio der entscheidende Faktor war. Das entscheidende Tor hat trotzdem ein Mann Namens Götze geschossen und das – aller Wahrscheinlichkeit nach – sein Leben lang .

    Seidwalk: Sie vergessen das hier:

    und das hier:

    u.a.

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  2. Till Schneider schreibt:

    Gregor Samsa fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich in seinem Bette hin und her, denn es beschäftigte ihn die Frage, weshalb er überhaupt zu Bett gegangen war. Was war der eigentliche, der letztgültige Grund dafür gewesen? Die Frage, so wollte ihm scheinen, musste gewissenhaft beantwortet werden. Hinter dem Wandschirm raschelte Ungeziefer, während Gregor unablässig nachdachte. Einmal zuckte ihm die Hand gegen die zergrübelte Stirn, streifte dabei den Apfelkorb auf dem Nachttisch; ein Apfel fiel zu Boden und rollte ins tiefste Dunkel. Da erschien der Vater in der Tür; das Geräusch des fallenden Apfels musste ihn geweckt haben: „Gregor, ach Gregor!“, begann er zu klagen, doch Gregor fiel ihm atemlos ins Wort. „Lieber Vater, nenne mir doch den Grund, den eigentlichen, letztgültigen Grund dafür, dass ich heute zu Bett gegangen bin!“ Der Vater lächelte und sagte: „Von mir willst du den Grund erfahren?“ „Ja“, sagte Gregor, „da ich ihn selbst nicht finden kann!“ „Der Grund“, erwiderte der Vater ernst, „ist der, dass du heute früh aufgestanden bist, Dummkopf!“ Er wandte sich mit einem großen Schwunge ab, als wollte er mit seinem Lachen allein sein. Gregor aber, da er nun Gewissheit hatte, fiel augenblicklich in tiefen Schlaf.

    Seidwalk: Aber warum die Geschichte umdrehen? So ergibt sie keinen Sinn. Man kann das Ende natürlich nur vom Anfang her erklären und nicht umgekehrt.

    Was für eine Geschichte habe ich „umgedreht“? Die Verwandlung? Das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich habe einfach lustvoll ein paar Kafkaesken drauflosrekombiniert, besonders lustvoll welche aus „Gib’s auf!“, und habe mich überraschen lassen, was dabei herauskommt. Irgendwie hatte ich das Gefühl gehabt, aus dem Kafka-Universum könnten Antworten auf die Frage nach den eigentlichen, letztgültigen Gründen kommen, und siehe da: Der Vater hatte eine. Natürlich eine höchst dezidierte (wie immer), und nicht mal die schlechteste, denn um zu Bett gehen zu können, muss man vorher aufgestanden sein. Franz hingegen, der „alte Zausel“ (Eckhard Henscheid), war bekanntlich weniger dezidiert: „Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel“ etc .pp.; also habe ich wenigstens den Apfel ins tiefste Dunkel rollen lassen, weil mir die deutlich philosophischere Herangehensweise von Franz so sympathisch ist.

    Die Frage ist also nicht, ob die „umgedrehte Verwandlung“ „einen Sinn ergibt“, sondern ob meine Patchwork-Geschichte einen ergibt. Ich finde, das tut sie durchaus. Für mich als experimentell aus dem Kafka-Gedächtnis Rekombinierenden war’s ein Erlebnis, wie auf einmal Hermann auftauchte und des Sohnes „sinnlose“ Grübeleien plattmachte, und ein noch größeres Erlebnis, welche durchschlagend beruhigende Wirkung das auf Franz hatte (ich konnte es mir gut vorstellen, bzw. ich hätte es Franz gewünscht!). Der Sinn der Geschichte ist eben ein systemisch-familienpsychologischer, würde ich sagen. Nicht ein logischer, wie Sie es offenbar gern gehabt hätten. Trotzdem wüsste ich gern, inwiefern ich „den Anfang vom Ende her erkläre“ (denn das geht aus Ihrer Formulierung hervor). Oder hat sich die Frage erledigt, weil die Geschichte gar keine invertierte „Verwandlung“ ist?

    Seidwalk:

    Habe die Sache offenbar leichter genommen als Sie.
    – Gregor erwacht bei Kafka.
    – Daß einer abends ins Bett geht, folgt nicht aus der Tatsache, daß er morgens daraus aufgestanden ist. Dafür gibt es keinen letztgültigen Grund, da willensabhängig. Daß aber einer morgens aufwacht, folgt aus der Tatsache, daß er abends einschlief – sofern er nicht unterwegs gestorben ist, dann tritt Variante 1 in Kraft, meine.

    Was Sie mir damit sagen wollen, entgeht mir leider. Sie machen aus einer stoischen Erklärung eine existentialistische.

    Till Schneider: Nein, umgekehrt, ich habe die Sache leichter genommen als Sie. Statt mich ernsthaft der Frage nach den letztgültigen Gründen zu widmen, habe ich ein Pasticcio aus Kafka-Versatzstücken … vergessen Sie’s, das war bloß eine kleinkünstlerische Impulshandlung ohne Anspruch auf Konsistenz. Und hinterher habe ich mir das Ergebnis zu erklären versucht, weil ich Ihren Kommentar nicht verstanden hatte. Den zweiten verstehe ich, aber auch der scheint mir zu hoch zu zielen angesichts der Vorlage. So ernst war’s nicht gemeint … Verzeihung.

    Seidwalk: Da stand ich wohl auf dem Schlauch. Kein Problem!

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  3. Pérégrinateur schreibt:

    Man könnte das Phänomen vielleicht Gewichtungs-Deixis nennen. So wie beim Sprechen zwischen (zeitlich oder örtlich) nahe und fern zum Sprecher unterschieden wird und es dafür sogar ein System grammatischer Kategorien und Wörter gibt, hält man es hier bei der Gewichtung von Ereignissen. Das entscheidende Tor ist dasjenige, das näher am naiv-retrospektiven Standpunkt des Sprechers liegt. Das ist wohl Ausfluss der anthropologisch vorgeprägten selbstbezogenen Perspektive: Ich bin der wichtigste Punkt in meinem Weltmodell, was diesem Punkt nahe ist, ist wichtig, was ferne, unwichtig. Ein verwandtes Phänomen ist der anscheinend im Tschechischen recht häufige Dativus ethicus: „Sie haben uns (!) den Ferdinand erschlagen.“

    Ein Studienfreund von mir lief in sehr abgeschabten Blue Jeans herum. Das ging seiner Großmutter, die ihn beständig davon abbringen wollte, ziemlich gegen den Strich, und zwar weil das doch auf sie zurückfalle: „Die Leut in der Stadt, die dich so rumlaufen sehen, die denken sich doch; ‚Was muss denn der bloß für eine Großmutter haben!‘“

    Auch von mir Glückwünsche zur Genesung.

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  4. Stefanie schreibt:

    Endlich spricht es mal einer an! Dieser unübersehbare Zusammenhang zwischen Corona und gestiegenen Autounfällen. Zumal inzwischen ja bekannt sein dürfte, daß der Virus auch aufs Nervensystem geht. Ich befürchtete bald haben wir deshalb eine schlimme zweite Welle. Ach was! Bei den Mengen von Radfahrern und Sonntagsfahrern, die heute im Jahnsgrüner Moor unterwegs waren und einen nonchalant mitten in der Kurve trotz Anhänger überholen, muss ich konstatieren: Es geht schon los!

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  5. Skeptiker schreibt:

    Danke Seidwalk, daß Sie wieder aus der Quarantäne zurück sind!
    Interessant der Link zu der ungarischen Corona-Statistik. Im Kern wohl eine Leistung, die den stringenten Regeln der statistischen Methodenregel folgt und für die Rekonstruktion der Historie des Vorgangs wertvoll sein wird (ich nehme an, dass man in Südkorea, Taiwan und auf Island ebenso verfährt). Leider gelingt es im Lande eines Gauß, Riemann oder Hilbert nicht, einen vergleichbaren belastbaren Datenschatz zu erstellen. Oder sollte die amtliche Dyskalkulie politisch akzeptablere Resultate hervorbringen, als die berühmten „nackten Zahlen“? Ich denke in diesen Wochen oft an das Diktum des Epiktet: „Was die Menschen bewegt, sind nicht Tatsachen, sondern Meinungen über Tatsachen.“ Oder, um ein berühmt-berüchtigtes Wort zu paraphrasieren: Souverän ist, wer über den statistischen Ausnahmezustand verfügt. Eine kleine Erweiterung Ihrer Torvergleiche: im Falle der gegenwärtigen Merkelherrschaft zähle ich die Summe der Eigentore, die eigentlich zum Abbruch des grottenschlechten Spieles führen sollten. Oder ist auch hier die landläufige Sportlogik auf den Kopf gestellt worden: mit Eigentoren zum Sieg?

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