Bären und Salamander

Fortsetzung von: Der Gottesstuhl

Am nächsten Morgen gibt es im Haus kein fließendes Wasser. Der Herbergsvater entschuldigt sich, spricht von einem schweren Sturm, den es kurz vor unserer Anreise gegeben habe, seither sei das Wasser braun und nicht mehr trinkbar, jetzt würde wohl repariert, aber wenn alle Stränge reißen, dann stünde noch ein Brunnen zur Verfügung und vorerst sollten wir mit Regenwasser spülen. „Das ist Rumänien“, sagt er dann noch resigniert und so etwas passiere hier ständig.

Unsere kleine Wandergruppe steht auch schon bereit, zwei ältere Herrschaften, zwei um die Vierzig und zwei kleine Mädchen, vier und acht Jahre alt. Wir fahren mit dem Auto den Bisztra-Bach hinauf, der auch im Roman[1] eine bedeutende Rolle spielt. Dort hatte die kleine Nuca – die später zur Hexe wurde und unfreiwillig jedem den Tod bringt, der bei ihr liegt – mit bloßen Händen Forellen gefangen. Trotz Straßen, Autos, Elektrizität scheint die Natur hier noch intakt. Der ältere Herr nimmt sogar ein Bärenabwehrspray mit, ein Pfefferspray und eine Signalpfeife hat er auch. Sein Sohn winkt ab, das brauche man nicht – und gibt uns trotzdem ein paar Verhaltensregeln mit auf den Weg. Der Vater wiederum zückt sein Handy und zeigt uns Bärenbilder, die er erst gestern an einer Straße aus unmittelbarer Nähe geschossen hatte.

Im Gespräch erfahren wir dann, daß die beiden Eltern der Kinder Akademiker sind, zwar in Kolozsvár aufgewachsen sind und auch dort studiert haben, nun aber seit mehr als zehn Jahren in Deutschland leben: er Professor an einer Uni und Leiter eines naturwissenschaftlichen Forschungsprojekts, sie im Überbau beschäftigt. Die Kinder sprechen fließend Ungarisch und Deutsch und dennoch, so sage ich, „werden sie Deutsche werden, das müßt ihr wissen“.

Noch sind sie Ungarn durch und durch und das merkt man an ihrem Verhalten. Nachdem die ersten Startschwierigkeiten überwunden sind, laufen sie problemlos mit, ohne Meckern, ohne Nörgeln, ohne Weinen. Die Kleine muß hin und wieder getragen werden, ansonsten genügt entweder die strenge Ansprache oder das motivierende Wort oder das ablenkende Spiel. In letzterer Disziplin ist meine Frau Weltmeister, weswegen die Vierjährige bald kaum mehr von ihrer Seite weicht.

Der Aufstieg ist sehr steil, 750 Höhenmeter müssen auf fünf Kilometer überwunden werden. Einmal tritt der Vater in ein Wespennest und muß ein paar Stiche quittieren, die Mutter bekommt einen, aber der schwillt sogleich an, ansonsten stellt sich bald die meditative Ruhe des Wanderns ein, nur von Geplapper der Kleinen unterbrochen. Ich schaue mich immer wieder um und denke an den alten Tóderik, die barfüßige Nuca, den alten Baron und seine vier eigenbrötlerischen Waldhüter. Jedem von ihnen hat das Leben schwere Wunden geschlagen, darüber und über das lange Leben im Wald sind sie still und wortkarg und weise geworden. Der eine, den man Farkas[2]-Dumitru nennt, hatte in einem Schreckenswinter vor vielen Jahren alles an die streunenden Wölfe verloren: erst die Schafe, dann das Kind und zuletzt die Frau. Vor Hunger waren die Wölfe damals von Bessarabien bis hierher gewandert und machten die Gegend unsicher. Seither ging Dumitru nur noch auf Wolfsjagd.

An einer Schautafel über die Tierwelt ist auch der Wolf zu sehen. Ob es denn noch Wölfe gäbe, frage ich. Auch das.

Schließlich kommen wir durchschwitzt auf dem Berggrat an. Plötzlich wieder in der Sonne. Zuerst hatten wir – oft an Bachbetten entlang – dichte Buchen-, später Fichtenwälder durchstiegen, jetzt stehen wir inmitten von Blaubeeren und Himbeeren. In einer kürzlich ausgetrockneten Pfütze sind deutlich frische Bärenspuren zu sehen, große und kleine, eine Mutter mit Nachwuchs. Vielleicht kamen auch sie zum Beerenfressen hier herauf, vielleicht sind sie noch irgendwo?

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Das ideale Spiel für die Kinder: Blaubeeren pflücken. Ihre Münder, Zungen und Zähne sind bald dunkellila, ein Grund für Späße. Mit dem Kamm wäre das eine einfache Ernte gewesen. Unten hatte der Wirt gesagt, daß die Zigeuner hier jede Woche 500 kg Blaubeeren mit dem Kamm ernten, was wohl verboten ist. Aber auch bei Géza liegen drei Kämme auf dem Fensterbrett und in einer freien Minute kocht er in einem riesigen Topf frische Blaubeermarmelade.

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Und dann stehen wir an den Felswänden, die senkrecht in die Tiefe führen, auf dem Dach der Welt. Der „Gottesstuhl“ entpuppt sich als Plateau aus porösem Eruptivgestein, oben bewachsen, aber an den Rändern kahl und steil abfallend. Der Ausblick ist grandios, man schaut gen Süd-Südost grenzenlos in die weite Marosebene hinein, nur weit im Westen verdecken die hohen und dicht bewaldeten Gipfel des Kelemen den Blick … und dahinter beginnt fast schon Moldawien und von dort ist es bis Odessa nicht mehr weit. In jenen Bergen hatte der Held des anderen bedeutenden Wass-Romans – „Gebt mir meine Berge zurück“ – erbittert und bis zur letzten Patrone gegen die Russen gekämpft. Aber daran denkt jetzt niemand, die Welt liegt fern, weit unter uns, das Aktuelle ist woanders.

Ist es optische Täuschung, ein Wirrspiel der Natur?, doch es scheint, als würde das Gelände unten mit der Distanz ansteigen, als würde man – trotzdem wir auf dem höchsten Punkt stehen – nach oben schauen, so als gäbe es keine Erdrundung und keinen Horizont. Selbst mit dem Fernglas ist nicht zu erkennen, was noch Land und was schon Wolken sind. Und unter uns die klaffende Tiefe. Der Blick erklärt mir einiges, unübersetzbare Begriffe aus Wass‘ Romanen werden nun sichtbar, die alten halb ungarisch-siebenbürgischen, halb rumänischen Wörter für Weiden, Senken, Lichtungen, Kahlschläge … hier liegen sie vor mir. Das ist das pulsierende Herz des Wass-Landes!

Bosz Ist

Das ist Ungarn-Land würde Géza, unser Wirt sagen. Wenn man „Istenszéke“ in Wikipedia eingibt, dann wird man ihn schnell finden, wie er just auf jenem Felsgrat steht und trotzig seine Ungarnflagge in die Kamera hält – damals war er noch ein paar Kilo leichter, sein Faible für patriotische T-Shirts scheint er jedoch schon gepflegt zu haben. Das gleiche Bild hängt überdimensioniert in der Empfangshalle seines Gasthauses.

Auch unser junger Professor kennt die Romane Albert Wass‘. Während des Abstieges kommen wir darauf zu sprechen. Politisch steht er zwischen den Stühlen. Als gebürtiger Székler liebt er seine Heimat und seine ungarische Kultur, versteht auch das tiefe Sehnen in der Erdélyi-Literatur, die der der deutschen Heimatliebe und der Waldverklärung so nahe ist, kennt die wichtigsten Romane Albert Wass‘. Aber er lebt natürlich auch das weltoffene, multikulturelle deutsche Leben, ist selbst Teil davon. Er sieht die Probleme mit der Masseneinwanderung, lehnt die politische Korrektheit und die cancel culture ab, möchte dennoch nicht mehr tauschen und einer der Gründe, weshalb er nicht mehr nach Ungarn oder Siebenbürgen zurück möchte – so sagt er –, sei Orbán. Mit großer Sorge sehe er dessen Nationalismus, der auch die siebenbürgischen Ungarn aufstachele, die Rumänen provoziere. Diese wiederum – darauf würde Géza beharren – nehmen ihre ungarischen Landsleute nicht ernst, selbst im Grundgesetz – so sagte er mir im Gasthaus – käme das Wort „Ungar“ nicht vor.

Noch sei alles ruhig, sagt der junge Umweltprofessor – aber es war schon mal ruhiger. Es ist keine dreißig Jahre her, da hatte es in Marosvasárhely (Târgu Mureș), der letzten rumänischen Großstadt mit ungarischer Mehrheit noch ethnische Konflikte gegeben. Jetzt, wo alles wieder unsicher wird, droht es erneut aufzubrechen. Deswegen rutschte er bei Gézas nationalen Reden unruhig auf dem Stuhl hin und her.

An einem kleinen Bachlauf machen wir Rast, seine Frau und ich, denn ins Gespräch vertieft, haben wir die anderen verloren. Sie spürt Heimweh, ihr geht es nicht ganz so gut in Deutschland, sie vermißt die Eltern, die Freunde, die Natur. Und da sehe ich plötzlich einen gelben Fleck vor mir: auf einem Stein, mitten im tosenden Wasser, sitzt reglos ein großer Feuersalamander. Wir hätten ihn vorbeilaufend nicht bemerkt – wieder ein Zufall! Noch nie habe ich einen in der Wildnis gesehen – große Freude. Als die anderen ihm zu nahe kommen, bewegt er sich mit erstaunlich langsamen Bewegungen zum Wasser und läßt sich mitten in den Strudel fallen. Zwei Meter weiter unten klettert er dann seelenruhig aus dem Bach hervor.

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[1] Die Hexe von Funtinel – A Funtineli boszorkány
[2] Wolf

siehe auch: Der Gottesstuhl

Ein Gedanke zu “Bären und Salamander

  1. Pérégrinateur schreibt:

    Karst ist ein Anfang. Jurakalk oder jüngerer?

    Seidwalk: Streng genommen ist das wohl pliozäner Pyroxen-Andesit – da war ich zu schnell – , sieht aber aus wie Karst, sehr hell, und formt auch Höhlen.. Sieht man vielleicht auch an der Schichtung. Die vulkanische Geschichte kann man noch an einigen heißen Quellen und einer Art Geysir erkennen. Maroshévíz – heute Thermalbad – spielt auch im Roman eine Rolle. Die Karpaten sind geologisch aber extrem vielfältig, in diesem Teil der Ostkarpaten wohl vulkanisch. Wird im Text verändert.

    Pérégrinateur: Danke! Also ein recht junger Berg. Die dem Anschein nach recht einheitliche Höhe des Plateaus ist bei einem Ergussgestein dann recht auffällig. Für gewöhnlich tritt vulkanisches Ergussgestein aus verschiedenen Schloten aus, was dem Ganzen morphologisch dann eine feinere Struktur gibt.

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