„1956 ist auch für die Nachgeborenen eine unerschöpfliche Quelle geistiger, politischer und moralischer Kraft geblieben.“ Paul Lendvai
Zum 60. Jahrestag des „Ungarischen Volksaufstandes“
Über diesen Artikel habe ich lange gebrütet und gelesen, denn erst in Ungarn wird einem bewußt, was der Herbst 1956 wirklich war und was er den Ungarn bedeutet. Das Material explodiert einem schnell unter den Fingern. Selten wird Engels‘ Diktum[1] von den „sich mannigfaltig durchkreuzenden“ Interessen, die stets zu einem von keinem Teilnehmer gewollten historischen Ergebnis führen, den „verschiedenen Ständen“, einer „höchst verworrenen Masse mit den verschiedenartigen, sich nach allen Richtungen, durchkreuzenden Bedürfnissen“, „bald in offenem, bald in verstecktem Kampfe“ sich befindend, so klassisch bestätigt wie in diesen verwirrenden Herbstwochen.
Ungarn hatte im großen Weltkrieg, mal wieder, auf der falschen Seite gestanden. Es büßte mit der sowjetischen Vasallenexistenz und einem gewieften, rücksichtslosen Statthalter: Mátyás Rákosi, „Stalins bestem Schüler“, der in kurzer Zeit das brutalste Unterdrückungssystem des Ostblocks schuf. Trotz bescheidener 17% der Wahlstimmen, brachte sich die Kommunistische Partei innerhalb kürzester Zeit an die Macht, skrupellos wie in keinem anderen „volksdemokratischen“ Land. Von den vier starken Männern an der Parteispitze – Lászlo Rajk, János Kádár, Imre Nagy und ebenjenem Rákosi –, die sich in gegenseitiger Brutusliebe verbündeten und meuchelten, starb der erste bald nach einem Schauprozeß am Galgen, landete der zweite im Gefängnis, um später, von den Russen wiederbelebt, die gesamte folgende sozialistische Geschichte des Landes im Alleingang zu leiten, und schlug sich der dritte, nachdem er zuvor vielfach und fatal gezögert hatte, auf die Seite der Protestierenden, um dafür ebenfalls auf dem Schafott zu enden. Der verhaßte Rákosi lebte da schon im russischen Exil irgendwo als Bauer an der chinesischen Grenze.
Aber auch die Aufständischen waren alles andere als einig. Als die Proteste am 23. Oktober begannen, da waren es noch die Budapester Studenten, die teilweise ihre Solidarität mit dem polnischen Aufstand zeigen wollten, teilweise aber auch mit sehr konkreten radikalen politischen Forderungen auftraten. Die Demonstration geriet schnell außer Kontrolle, an allen Ecken der Stadt versammelten sich nun die Menschen, das große Stalin-Denkmal fiel, erste Selbstbewaffnungen fanden – nachdem vermutlich Geheimdienstleute auf Demonstranten geschossen hatten – statt, Armeeinheiten sympathisierten mit den Demonstranten: ganz Budapest war plötzlich auf der Straße, vom Kommunisten bis zum ehemaligen Pfeilkreuzler, vom Arbeiter und Bauern bis zum Intellektuellen, vom Klerus bis zur niederen Nomenklatura, und auch wenn der gemeinsame Haß auf das Regime und die katastrophale Versorgungslage sie vereinte, hatten sie doch gänzlich unterschiedliche Vorstellungen.
In Moskau war man alarmiert. Chruschtschow, der vor einem halben Jahr seine berühmte Rede auf dem 20. Parteitag gehalten hatte, schien nun das Ergebnis des „Tauwetters“ zu begreifen: eine Lawine bahnte sich an. Er schickte seine Emissäre, die auch jeder ein eigenes Süppchen zu kochen hatten und – wie nahezu alle Protagonisten – in ihren Haltungen schwankten und permanent Positionen wechselten. Der grausam agierende ungarische Geheimdienst, dessen Rolle selbst heute noch nicht aufgearbeitet ist, trat als Handlanger auf.
Aus der „freien Welt“, die mit diversen Radiosendungen seit Jahren versucht hatte, die Stimmung anzuheizen, kamen schnell – Solidaritätsbekundungen; tatsächlich war man gerade mit der Suezkrise mehr als beschäftigt und tat das doppelt Falsche: vertröstete einerseits und unternahm ansonsten nichts. Immerhin stand auch ein fragiles Verhältnis zum Kreml auf dem Spiel.
Das waren die vier wichtigsten und oft in sich uneinigen Spieler dieses Skats: die Ungarn, die Ungarische Kommunistische Partei, Moskau und der Westen. Nun wurden die Karten tagtäglich neu gemischt, es kam zu einem Spiel ohne Gewinner und mit mehreren Verlierern. Es ging auf und ab, Phasen der Eskalation wechselten mit solchen der Kompromisse. Unmengen an persönlichen Fehlentscheidungen führten letztlich zur Katastrophe. Die Russen marschierten mit Panzerdivisionen ein, die Budapester verteidigten im aussichtslosen Häuserkampf, die ungarische Armee verhielt sich unentschlossen, Imre Nagy – mittlerweile von den Sowjets als kleineres Übel an die Macht gebracht – schlug sich auf die Seite des Volkes – was ihn trotz seiner zweifelhaften und zögerlichen Natur zum Nationalhelden werden ließ –, erklärte den Austritt aus dem Warschauer Pakt … und am Ende lagen fast 3000 Ungarn und 700 sowjetische Soldaten tot auf der Straße, dazu 20000 Verletzte, tausende landeten in den Folterkellern, 350 Todesurteile wurden später vollstreckt, mehrere hunderttausend Menschen verließen das Land, das Volk hatte auf schreckliche Weise lernen müssen, daß es zu schwach war.[2]
Und es litt! Und die Ungarn sind besonders erfahren im Leiden!
Zwar gelang es János Kádár durch einen Wechsel der Wirtschaftspolitik den Lebensstandard durch seinen „Gulaschkommunismus“[3] bald deutlich zu heben – binnen kurzem hatten die Ungarn sich bestechen lassen und ihm fast alles verziehen –, aber ein Stachel saß besonders tief. Besser noch: ein bereits tief im ungarischen Fleische wuchernder Stachel wurde mit den Ereignissen im Oktober/November 1956 noch tiefer hineingetrieben – und auf den kommt es mir an!
Man muß das begreifen, wenn man das Ungarn von heute, das Ungarn Orbáns, die Ablehnung der europäischen „Flüchtlingspolitik“ etc. verstehen und mit ihr umgehen will.
Prägend für viele Ungarn blieb das Gefühl des Verrates. Dieser Topos zieht sich durch die gesamte ungarische Geschichte: Man wird von den Großmächten verraten und nicht selten gerade dann, wenn man deren Interessen opferreich gerade verteidigt hatte.
Ein Geschichtsmythos, der lange zurück reicht. Als die Magyaren als ugrische und vollkommen kulturfremde Nomaden im 9. Jahrhundert in die ungarische Tiefebene einwanderten, da waren sie von sich formenden christlichen Nationen umgeben, mit denen sie im permanenten Kampf standen. Sie plünderten in ganz Europa und wurden 955 auf der Schlacht auf dem Lechfeld zurückgestutzt. Danach erst fanden sie ihre Form, ihr Territorium, wurden Christen und später Teil des europäischen Machtspiels. Allein ihre Sprache unterschied sie und unterscheidet sie noch heute von allen anderen.
Sie waren es, die 1241 unter enormen Verlusten gegen die Mongolen fochten und Europa (erfolglos) verteidigten und sie trugen die ganze Last. Das Land war verwüstet, wer nicht starb, wurde in die Sklaverei verschleppt. Damals entstand wohl schon der tief verwurzelte Mythos des Alleinseins.
200 Jahre später beschwerte Türkenschreck und Ungarnbefreier János Hunyadi sich beim Papst, seit Jahrzehnten im Kampf gegen die Osmanen allein gelassen worden zu sein. Wieder trugen sie allein die Bürde und fanden kaum Anerkennung dafür. Und so geht es weiter: Nach dem niedergeschlagenen Bauernaufstand des György Dózsa (1514), der seither als nationaler Märtyrer gilt, und der opferreichen verlorenen Schlacht von Mohács (1526) gegen die Türken – die zum negativen nationalen Mythos wurde –, schien Ungarn ein weiteres Mal am Ende zu sein. 170 Jahre Türkenherrschaft dezimierten die Bevölkerung empfindlich, ganze Landstriche waren komplett entvölkert und zerstört. Das Ungarntum hatte sich nach Siebenbürgen zurückgezogen.
Im gespannten Verhältnis zu den Habsburgern kam es wieder zu Selbstbewußtsein. Anfang des 19. Jahrhunderts setze eine Magyarisierung, eine nationale Erneuerungsbewegung und eine Spracherneuerung ein, die in der Unabhängigkeitserklärung ebenso ein Fanal fand wie in der folgenden Niederschlagung der Revolution 1848/49. Die rebellierenden antihabsburgischen Armeen der Honvéd, der „Vaterlandsverteidiger“, konnten erst geschlagen werden, nachdem die überlegene russische Streitkraft ins Land einfiel und eingriff; der Beginn einer dauernden ungarisch-russischen Gereiztheit. Kossuth richtete einen Aufruf an die Welt: „Auf ungarischem Boden wird die Freiheit Europas entschieden. Mit diesem verliert die Weltfreiheit ein großes Land, mit dieser Nation einen treuen Helden“[4] – aber Europa schwieg erneut und nahm den Einmarsch der Russen hin. Nationalheld Kossuth ging in die Emigration und pflegte dort den Opfermythos.
Während der fast sieben Jahrzehnte der Herrschaft Franz Joseph I. (1848-1916) und unter besonderer Protektion seiner Gattin Elisabeth wurde Ungarn innerhalb des Habsburgerreiches innenpolitisch unabhängig und wieder zur Großmacht; es erlangte seine größte Ausdehnung – nur, um bald seinen größten Fall zu erleben.
Nach dem Kollaps des Habsburgerreiches im Zuge des verlorenen Ersten Weltkrieges, mußte Ungarn in den Verträgen von St. Germain und Trianon zwei Drittel seines Gebietes an die Nachbarstaaten abgeben, schrumpfte seine Bevölkerung von 22 auf 9 Millionen Menschen, wurden Millionen Ungarn über Nacht gezwungen, in einem anderen Staat leben zu müssen, plötzlich ungeliebte Minderheit zu sein.
Man wurde als Kriegsverlierer, nicht als Vertragspartner behandelt, Proteste, Vorbehalte und Vorschläge – etwa eine Volksbefragung – wurden ignoriert. Damit wurde Ungarn de facto eine größere Last auferlegt als Deutschland im Vertrag von Versailles, der wiederum den Grundstein für die Kriegsgeschichte der 30er und 40er Jahre legte. Die Ungarn, nun zu einem Kleinstaat zurückgeschnitten, hatten nie die Mittel, den als ungerecht empfundenen Vertrag anzufechten – und so schwelt dieses Trauma, schmerzt diese Wunde – die man natürlich auch mit Absicht immer wieder aufkratzen kann –, als vorletzte einer ganzen Kette, noch immer fort. Im Jahr 2010 erklärte die Fidesz-dominierte Nationalversammlung den 4. Juni, den Tag der Vertragsunterzeichnung (unter Vorbehalt), zum „Tag der nationalen Zusammengehörigkeit“.
Die Ereignisse im Herbst 1956 sind nun das (bislang) letzte Glied dieser Kette. Wenn man die Gedenkveranstaltungen sieht und den lebendigen Geist spürt – das ist keine abgelebte Erinnerungskultur, wie man sie aus dem Staatssozialismus oder der Bundesrepublik kennt –, dann begreift man ein wenig die verletzliche „ungarische Seele“.
Dann begreift man auch die Aversionen, die viele Ungarn haben, wenn ein dirigistisches Deutschland oder Europa nun erneut bestimmen können will, was Ungarn zu tun und zu lassen hat. Einmal mehr sieht man sich als Verteidiger Europas, als Beschützer der Integrität, Identität und der Grenzen und erneut reagiert „Europa“ mit Ausschließung, Strafe und Verachtung. Dabei gibt es kaum ein Land und kaum ein Volk, das europäisch genannt zu werden mehr verdient, als Ungarn. Es war und ist sein heimliches Herz. Man kann sich nicht leisten, es zu verlieren, man sollte aber auch die spezifischen Befindlichkeiten kennen und würdigen.
Aus der Geschichte lernen, heißt es so schön. Dieser Satz wird falsch verstanden, wenn man ihn ins konkret-Historische wendet. Aus der Geschichte lernen, heißt in erster Linie die Geschichte lernen, verinnerlichen, annehmen. Sie ist ein breiter, träger Fluß wie die Donau, der Rhein, die Wolga oder der Nil, der die Menschen einerseits trägt, der aber auch durch sie, durch jeden Einzelnen, hindurchfließt. Es ist eine Illusion zu glauben, man könne diesen Fluß ignorieren. Er mag in ruhigen Zeiten als Unbewußtseinsstrom fast unbemerkt dahinfließen, aber an bewegten Stellen, an Staudämmen, Hemmungen, Untiefen oder Wasserfällen, Wirbeln und Kaskaden wird er wieder an die Oberfläche sprudeln. Dann kann man darin ertrinken.
Dann können 1000 Jahre ein Tag werden – wie der 23.Oktober 1956.
Nur ganz kurz: Natürlich haben die Ungarn wie alle anderen Nationen des Ostblocks recht, sich als Betrogene der Geschichte zu fühlen, sind sie doch die Leidtragenden, denen der Deutschen Krieg den Stalinismus in ihre Länder und diesen damit Jahrzente an Freiheit und Wohlstand (ceteris paribus, natürlich unmöglich in der Geschichte) und weitere Millionen an Menschenleben geraubt hat. Nur sollte man, von allen anderen Aspekten mal abgesehen, vielleicht nicht verschweigen, dass die Kehrseite des ungarischen Nationalismus und Nationalstolzes wiederum (scheint bei Nationalismus fast gar nicht anders möglich) die weitgehende Marginalisierung und Zurücksetzung derjenigen Nationen war, die das Glück hatten, im Land der Stephanskrone zu leben: Bosnier, Rumänen, Serben etc. können ein Lied davon singen. (Daß der Vor-WK1-Nationalismus noch harmlos war im Vergleich zu späterem, ist klar). Und als was hätte man die Ungarn denn nach WK 1 behandeln sollen – sie haben doch den Kriegskurs des Habsburgerreiches unterstützt, mitgeprägt und dabei versucht, das Beste für sich herauszuschlagen. Kann man tun, sollte sich aber nicht beschweren, wenn man dann nicht wie ein Partner behandelt wird. Also Mitleid mit dem Nachkriegsungarn 2: ja; mit dem Nachkriegsungarn 1: nein.
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Nun kann man natürlich genauso fragen: Was hätten sie als Teil des Habsburgerreiches denn anderes tun sollen und was wäre denn passiert, wenn sie sich gegen die Mutternation gestellt hätten? Wären sie damit besser gefahren? Eine akademische Frage, sicher …
Mitleid ist keine Kategorie, die politische Entscheidungen primär treiben sollte – Verständnis aber wohl. Darum ging es hier. Ob man das Leid nun als heroische Mythologisierung zelebriert, oder es als Wehleidigkeit empfindet, sei dahingestellt.
Das willkürliche Verschieben von Landesgrenzen durch Volks-. Kultur-, und Sprachgrenzen hindurch ist wohl immer ein Rezept für kommendes Desaster – sehen wir gerade in Syrien, haben aber alle Pariser Verträge schon zur Genüge bewiesen.
Umgekehrt darf man auch nicht übersehen, daß Trianon auch einiges geleistet hat für Slowaken, Tschechen, Serben, Kroaten, Rumänen … Ob man das als Ungar auch so sehen muß, weiß ich nicht.
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Es wurden anscheinend aber auch Gebiete amputiert und anderen Staaten zugeschlagen, in denen Ungarn die Mehrheitsbevölkerung stellten und nicht vom ungarischen Staat weg wollten. Wie man das halt macht, wenn man nach dem Krieg Alliierte belohnen will. Tut man das dagegen nicht oder nicht ausreichend, können die wiederum unangenehm unzufrieden werden, vgl. Italien nach dem Ersten Weltkrieg.
Moral in der Weltpolitik ist halt immer nur ein Rauchvorhang für die Naiven, vor allem die in der eigenen Bevölkerung. Ich will nicht ausschließen, dass zuweilen die leitenden Figuren diese seelenwärmenden moralischen Selbstgewissheiten wirklich hegen. Umso schlimmer! Idealisten anerkennen nämlich gewöhnlich am wenigsten Schranken für ihr Handeln.
Wenn ich zum Beispiel an einen gewesenen deutschen Außenminister denke, der die Existenz Israels zur deutschen Staatsraison erklärte – au weia! (Der späte Helmut Schmidt hat deutlich gewarnt, natürlich gesittet, als unsere derzeitige oberste Berliner grammatik- und argumentationsbehinderte Sprechpuppe auch mit dem Sprüchlein auftrat´ – das Kriegserlebnis macht eben nüchtern.) Der Gutmenschenfischer oder zumindest das von ihm anscheinend glänzend überzeugte Publikum wussten wohl nicht, dass diese ach so imponierend staatsmännisch klingende Staatsraison in der untersten Schublade der Rechtfertigungen liegt, welche man tunlichst erst öffnet, wenn gar nichts moralisch Präsentableres mehr zur Verfügung steht. Und dass man die selbstredend nur zum eigenen Nutzen öffnet. Viele Deutschen schweben offenbar auf einer rosa Wolke und sehen die Welt durch sie hindurch gar nicht mehr, wie sie wirklich ist.
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