Orientierung am Großen

Als Edzard Schaper im Jahre 1937 Rilkes „Malte Laurids Brigge“ las, da war er bereits ein gestandener und viel gelesener Autor. Er hatte einen Vertrag beim Insel-Verlag, war mit der Verlegerin Katharina Kippenberg fast mehr als schicklich befreundet, hatte insbesondere mit seinem Roman „Die sterbende Kirche“ schon ein Hauptwerk aufzuweisen und fiel nach besagter Lektüre dennoch in eine Schaffenskrise. Die Ursachen dafür waren zwar vielfältig und zum Teil auch sehr privat – wie uns sein verdienstvoller Biograph belehrt – aber für unsere Zwecke konzentrieren wir uns auf die fatale Rilke-Lektüre.

Schapers Schreibhemmung lag am Selbstvergleich zu Rilke begründet, der im Übrigen auch von Frau Kippenberg betreut und verlegt wurde. Ihm wurde bewußt, daß er an die schriftstellerische Genialität und künstlerische Perfektion Rilkes – trotz hoher Auflagen und guter Kritiken – nicht heranreichte. Die Lektüre „setzte für Schaper einen Maßstab, vor dem sein Selbstbewußtsein nicht bestehen konnte“[1] – und dieses Selbstbewußtsein war ansonsten sehr stark ausgeprägt!

Er machte damit eine Erfahrung, die jeder macht und machen sollte, der schreibt oder überhaupt an die Öffentlichkeit tritt. Aber in ihr liegt auch eine Gefahr.

Der Vergleich zu anderen ist so natürlich wie notwendig und er sollte in zweierlei Richtungen und permanent stattfinden. Der Vergleich nach oben ist wohl der wichtigere, denn er gibt Orientierung, Ziel und Richtung, ebenjene Vertikalspannung, an der die positive Leistung sich ausrichten kann. Zugleich gibt sie dem schöpferischen Menschen eine Positionsbestimmung und daß diese bei den Besten der Zunft oft entfällt oder man sich nur in den historischen Tiefen noch vergleichen kann, stellt für jene wenigen eine große Tücke dar, denn sie könnten sich losgelöst, enthistorisiert empfinden, einsam in eisigen Höhen. Ob die Selbsteinschätzung zutrifft oder nicht, ist zweitrangig. Nietzsche etwa wußte von seiner Bedeutung und seinem Unverstandensein und steigerte sich immer mehr in die denkerische Raserei, Erwin Guido Kolbenheyer hingegen – als Beispiel, um keinen Lebenden zu nennen – war wohl zu Unrecht von seiner elitären Position überzeugt, vergrämte unter der Nachkriegsignoranz und machte daraus ein dreibändiges Denkepos[2], das außer ein paar Jüngern niemanden mehr interessierte.

Aber der Vergleich mit den Größeren kann auch – wir sahen es bei Schaper – destruktive Energien freisetzen, dann, wenn der Schreibende einsehen muß, daß er das wirklich Hohe und Eigenständige nie wird erreichen können. Zwar kann er sich schulen am positiven Vorbild, aber er weiß, daß Technik und Imitation die „Seele“ eines Werkes nie erreichen werden. Was nicht aus dem Verfasser selber kommt, kann nicht originell sein – die ernüchternde Einsicht ist, daß nicht alles, was aus einem Menschen von selber kommt, tatsächlich originell ist. Und was ist das Eigene überhaupt? Schon daran scheitern die meisten. Einerseits leidet man also unter der Einsicht, daß man dieses oder jenes nie selber hätte so fassen, entwerfen und aussagen können – wozu dann also schreiben? –, andererseits wäre der Wille, es auch nur zu versuchen, zum Scheitern verurteilt.

Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen
Wenn es nicht aus der Seele dringt,
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt.
Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen,
Braut ein Ragout von andrer Schmaus,
Und blas’t die kümmerlichen Flammen
Aus eurem Aschenhäufchen ’raus!
Bewund’rung von Kindern und Affen,
Wenn euch darnach der Gaumen steht;
Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
Wenn es euch nicht von Herzen geht.

Der Vergleich nach unten oder in die Horizontale liefert hingegen die Argumente für die Selbstberechtigung. Der schöpferische Mensch sieht, daß andere sein Vorhaben noch schlechter oder doch gleich gut oder schlecht vollbringen und also kann er sich eine relative Notwendigkeit seines Schaffens konstruieren, denn das Ziel eines denkerischen Produzierens sollte immer auch sein, den Anteil des Schwachen, Mißlungenen, Häßlichen an der Gesamtproduktion zu vermindern. Die meisten werden freilich im Ungewissen bleiben, ob sie der positiv- oder negativ-Waagschale zuzurechnen sind und die modernen Begriffsverluste stellen wenig Hilfe bereit. So kommt es, daß Qualität immer öfter an Quantität gemessen wird – wem es gelingt, eine Anhängerschaft etwa zu versammeln, der darf sich aufgewertet fühlen, ohne daß ein „höheres Gericht“ ihm diese Stellung im menschheitlichen Schaffensprozeß zubilligen könnte. Das ist mehr als eine Privatangelegenheit: noch heute und auch immer wieder neu, vielleicht sogar immer mehr, werden mehr oder weniger flache Köpfe aufs Piedestal gesetzt und angebetet.

Ihnen ist in der Regel der Schapersche Impuls verloren gegangen. Um nicht der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, ist es also eine Forderung, Rilke und seinesgleichen immer wieder aufs Neue zu lesen, aber darin muß man sich nicht erschöpfen und darf es auch nicht, will man die ganze Weite einer Epoche erfassen, in der man sich verorten kann.

[1] Uwe Wolff: Der vierte König lebt! Edzard Schaper – Dichter des 20. Jahrhunderts. Münster 2021. S. 119
[2] Sebastian Karst über sein Leben und seine Zeit, Autobiographie. 3 Bände. Kolbenheyer-Gesellschaft Gesamtausgabe II/3-5. 1957/58

Ein Gedanke zu “Orientierung am Großen

  1. Pérégrinateur schreibt:

    [Hinweis außerhalb des Themas, also wohl nicht zu veröffentlichen. Das Folgende könnte Sie interessieren:]

    Siehe [The cultural imperialism of taking the knee],(https://www.spiked-online.com/2022/06/06/the-cultural-imperialism-of-taking-the-knee/) Kommentar von Brendan O’Neill auf http://www.spiked-online.com

    Youtube-Suche ergab viel Gerede und korrektes Gemeine über den zugrunde liegenden Vorgang, aber nirgends die Szenen selbst. Fürchtet man die Ansteckung der bösen Zungentat?

    Seidwalk: Wenn Sie erlauben, dann bringe ich das doch – gehört allerdings in einen anderen Strang. Ist aber lesenswert.

    Hier zumindest die Ur-Szene: https://youtu.be/zt_lZpef-bo?t=15

    Und hier doch ein wackliges Bild der Untat: https://youtu.be/-6Pi0CArePc?t=4

    Die unerzogenen Rüpel hatten zumindest viel Spaß: https://youtu.be/uRJCe2OXV_Q

    Immer wieder erfrischend zu sehen, wie – gespielt oder genuin? – fassungslos man sich gibt. Entweder wir haben mit Hypokrisie zu tun oder Dummheit oder wahrem Glaube. In keinem der drei Fälle sind die Voraussetzungen für eine sinnvolle Kommunikation vielversprechend.

    Gefällt 1 Person

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