Eine neue Frau

Lehrstunde in kultureller Diversität. Klassisch!

Nach dem Essen steht Mohammed am Fenster, raucht und brummt etwas vor sich hin. Ich brauche Hussain nur fragend anzuschauen, um von ihm die Übersetzung zu bekommen: Mohammed denkt laut darüber nach, zu heiraten. Heiraten? Ich dachte, er sei schon verheiratet? Ist er auch …

Zur Erinnerung. Mohammed ist der Syrer mit dem Tinnitus. Zusammen mit seinem Bruder Salim verließ er die Türkei und seine Familie und seine Arbeit. Doch Deutschland ist schwerer als gedacht. Mit seinen 40 Jahren und einer nur kurzen Schulbildung ist es ihm nicht möglich die Sprache zu erlernen. Hinzu kommen private Probleme mit seiner Frau, die den Nachzug verweigert. Nun will er zurück zu seinen vier Kindern, wartet schon seit Wochen auf Antwort der türkischen Botschaft, wartet auf ein Visum für die Rückreise. Seit langem ist er psychisch labil. Sobald Salims Frau nebst den beiden Kindern – ich habe sie letzte Woche kennengelernt – aus Dresden kommt, werden diese eine gemeinsame Wohnung beziehen; dann wird Mohammed vollkommen allein sein …

Nun also denkt er an eine weitere Heirat für den Fall, daß das Projekt Türkei scheitert. Und selbst wenn es klappt, die Differenzen mit seiner Frau scheinen unüberwindbar.

Mir fällt es schwer, den Gedanken zu fassen – es entspinnt sich eine lange Diskussion mit Hussain. Aufs Surrogat zusammengedampft enthielt sie folgendes:

Warum will Mohammed erneut heiraten? Weil er allein ist. Er sucht ein Wesen, das sich um ihn kümmert, eine Gefährtin, die ihn unterhält …

Wie soll das gehen, da er doch keinen Menschen kennt und die Sprache nicht beherrscht (wie naiv kann man sein?). Er wird einen Heiratsvermittler kontaktieren. Wo? Über den Imam in der Moschee. Und der wird dann seine Beziehungen spielen lassen und irgendwo im Lande wird sich vielleicht ein Vater finden, der seine Tochter verheiraten möchte. Irgendwo in den syrischen Gemeinden von Kiel bis Kempten oder irgendwo in der Welt.

Aber was hat Mohammed denn zu bieten? Er hat nichts und kann in Deutschland nichts anfangen? Das muß der Vater der Frau bestimmen.

Kann die Frau auch entscheiden? Ja, sie kann den Werber ablehnen, aber auch der Vater der Frau kann das und in beiden Fällen kommt es nicht zur Heirat.

Kennen die beiden sich bzw. wie lernen sie sich kennen? Es wird ein Treffen arrangiert. Dürfen die beiden allein sein? Natürlich nicht: das Treffen findet unter Aufsicht des Vaters und zweier männlicher Zeugen statt. Sind die beiden – Mann und Frau – sich sympathisch, zahlt der Werber eine bestimmte Summe, die der Braut zugutekommt. Körperliche Erfahrungen sind verboten.

Muß die Frau unberührt sein? Ja, sofern sie nicht geschieden oder Witwe ist, würde das von ihr erwartet werden, ganz unabhängig vom Alter.

Was würde Mohammeds Ehefrau dazu sagen? Das sei kein Problem, solche Fälle seien normal. Aber du glaubst doch nicht, daß die Ehefrau eine zweite Ehefrau problemlos akzeptieren würde? Doch, davon müsse man ausgehen und selbst wenn nicht, sie könne nichts dagegen tun.

Schließlich kommen wir auf die Frage der Legalität zu sprechen – es wird der am härtesten diskutierte Punkt werden. Polygamie ist in Deutschland strafbar! Hussain: Hier müsse man unterscheiden zwischen juristisch legalen und religiös legalen Ehen. Vor dem Gesetz wäre Mohammed mit seiner ersten Ehefrau verheiratet, aber im religiösen Rahmen könne er bis zu drei andere Frauen haben. Diese Ehen würden nicht vor dem Gesetz geschlossen und würden daher den deutschen Staat nicht tangieren. Hussain habe selber Kenntnis von mehreren solcher Verhältnisse, Männer mit zwei oder drei Frauen, mitten in Deutschland. De facto Mehrfachehen, de jure Einehen. Schließlich könne doch auch jeder deutsche Mann mehrere Frauen haben, selbst wenn er verheiratet sei. Ich erwidere: Er kann Beziehungen, auch sexuelle, zu anderen Frauen haben und das geschieht auch im wirklichen Leben, aber erstens sind das Affären und keine Ehen – juristisch oder kirchlich legitimiert – und zweitens hat auch jede Frau dieses Recht.

An diesem Punkt kommen wir nicht weiter. Der Araber kann nicht sehen, daß eine in der Glaubensgemeinschaft akzeptierte und vor Gott geschlossene Ehe für den Staat ein Problem sein kann, wenn dieser gar nichts davon erfahren soll oder sie juristisch nicht legitimieren kann, und der Deutsche will nicht begreifen, daß eine vor Gott geschlossene Ehe nicht juristisch bindend sein soll. (Tatsächlich habe ich keine Ahnung, wie die Rechtslage ist.) Die Regeln der Parallelwelt – so übersetze ich das – gehen die erste Welt nichts an.

Was, wenn aus diesen „Ehen“ Kinder hervorgehen? Wo liegt die Verantwortung? Wer unterhält sie? Der Mann natürlich, denn die Frau geht nicht selber arbeiten. Und wenn der Mann auch nicht arbeitet oder genügend verdient, um vier, sechs, neun Kinder zu alimentieren? Schweigen. Also das Sozialsystem! Es braucht nur zwei, drei Sätze, um dem klugen Hussain die wirtschaftliche Unmöglichkeit klar zu machen. Wenn dieses System sich massenhaft durchsetzte, wäre der Sozialstaat schnell am Ende. Sieht er – but it’s the religion? What can you do? (Ich verschweige meine deutliche Antwort.)

Und damit sind wir beim Grundkonflikt. Wo wird die Loyalität liegen, wenn deutsches und islamisches Recht kollidieren? Wo werden sich die muslimischen Einwanderer positionieren? Hussain sagt: das deutsche Recht gilt. Ich weise ihn auf den Widerspruch zu obigen Aussagen hin. Die Katze beißt sich in den Schwanz; das Lippenbekenntnis stimmt, die Realität sagt etwas anderes. Er kann den Konflikt gar nicht wahrnehmen, sieht ihn nicht, ist fast rührend ehrlich und offen. Wir kommen nicht weiter und verschieben das Thema auf später.

An der Haustür frage ich Hussain (20 Jahre alt) noch, wie er sich vorstellt, eine Frau zu finden. Den deutschen Weg – über Zuneigung, Liebe, Selbstbestimmung – oder den arabischen – über Heiratsvermittlung? Beides wäre für ihn möglich, solange die Frau eine Gläubige ist. Gläubige? Sie muß an den einzigen Gott glauben, sie könne Muslima, Christin, Jüdin sein … alles ginge.

Nur Atheist_*Innen wären tabu.