Djihad beim Zahnarzt

Dresdener Impressionen

In der Universitätsbibliothek sitzt ein junger Mann neben mir – ich kenne ihn vom Sehen noch vom letzten Mal: er paukt Medizin bis in die Nacht und leidet oft mächtig, stöhnt, ruckelt unruhig auf dem Stuhl hin und her, schaut auf das Handy, steht auf, setzt sich, stöhnt …

Ich lese über Asabiyya und Polis. Der arabische Begriff will mir nicht recht aufgehen und da mein Nachbar arabisch ausschaut, frage ich ihn. Wir sind uns nicht unsympathisch. Es ist Freitag, der 13. – um diese späte Stunde müssen die Pariser Attentäter schon auf dem Weg gewesen sein.

Tags darauf versuche ich den Begriff „irhaab“ (رهاب إ), das arabische Wort für „Terror“, zu verstehen. Ist in diesem Begriff auch die „Botschaft“ enthalten? Gibt es den Begriff im Koran oder ist es, wie bei uns, ein Neologismus? Auch im Arabischen, erfahre ich, ist das Wort neu, wohl einer dieser von Gelehrten geschaffenen Begriffe, um moderne Phänomene zu fassen.

So kommen wir ins Gespräch. Er ist aus Palästina, 24 Jahre alt und studiert Zahnmedizin. Will er zurück? Ja, denn hier wäre es zwar leichter, aber was solle aus seiner Heimat werden, wenn alle ausgebildeten und jungen Menschen das Land verlassen? Eine Bilderbuchantwort, die ihn nur noch sympathischer macht. Und dann so ein Hammersatz: Er verstehe sein Studium als eine Art des Djihads. Ich erschrecke, er bemerkt das und erklärt, daß wir oft eine falsche Vorstellung von diesem Begriff hätten. Er bedeute eben nicht nur Kampf und Krieg, sondern auch Bemühung, Anstrengung, Kampf als Ringen um etwas und wenn er seinem Volke helfe, dann diene das auch der islamischen Sache. Der Gedanke helfe ihm beim Lernen.

Was er von den Attentaten halte? Er verstehe den IS nicht. Muslime seien das jedenfalls keine. Man könne den Koran nicht nach seinem Gutdünken nutzen, sondern müsse ihn als Ganzes sehen. Zum Beispiel Alkohol: Im Koran gebe es zwei Stellen zu diesem Thema – einmal empfehle Mohammed maßvolles Trinken, ein andermal verbiete er es. Also gilt Alkoholverbot, das stärkere, absolutere Argument. So auch beim Töten – zwar gebe es diese Tötungsstellen, aber auch jene, wo zur Barmherzigkeit gegenüber Mensch, Tier und sogar Bäumen aufgerufen wird. Letztere seien dann die allgemein gültigen und wer sich nur einzelne Aussagen herauspickt, ist im Unrecht.

Aber im Grunde genommen wisse er nicht viel über Religion und Philosophie. Überhaupt habe er erst seit zwei Jahren, seit er in Dresden ist, begonnen sich mit dem Islam zu beschäftigen. Ständig würden ihn Leute fragen, also mußte er sich belesen und in der Fremde findet man ohnehin viel leichter zu seiner eigentlichen Identität. Das hat gar nicht unbedingt mit sozialer Ausgrenzung zu tun, sondern einfach mit der Situation, ein Fremder, ein Anderer zu sein, selbst wenn man – wie er – vollkommen eingegliedert ist. Nun glaubt er umso fester daran. Dieses Buch sei einfach anders als alle anderen, ein ganz besonderer Zauber gehe davon aus. Und dann: Mohammed wußte so viele Sachen, die wir erst heute als richtig begreifen. Zum Beispiel, daß jeder Mensch einen eigenen Fingerabdruck hat. Woher konnte der das wissen, wenn nicht aus göttlicher Offenbarung? Oder die genaue Beschreibung der Einpflanzung des Phötus in die Gebärmutter – dieses Argument kannte ich schon von meinem Syrer Hussain.