Immerhin. Ein morgendliches Durchsuchen einiger Twitter-Konten bestätigt: mein Gefühl hat nicht getrogen, ich war nicht allein. War mir auch vorher schon klar, denn ich habe zusammen mit einer Rentnerin den European Song Contest gesehen und die war fassungslos und konnte nur immer wieder die Worte stammeln: „Ich verstehe das nicht“ und: „Die jungen Leute von heute sind ganz anders“ und: „Die sind doch krank, oder?“
Ja, so ist es. Wollen wir versuchen, an ihrer statt ein paar von den Worten zu finden, die ihr, der einfachen, nach unserem Verständnis ungebildeten, aber noch natürlich empfindenden Person fehlen.
Ich hatte während der Sendung – die ich auch nur in Auszügen verfolgen konnte – permanent nur ein Wort im Kopf: Dystopie! Das Ganze hatte etwas schwer Apokalyptisches an sich. Es war von vorne bis hinten verkehrt und in diesem Sinne pervers. Wenn das unsere Kultur ist, dann ist sie dem Untergang geweiht – und zurecht; dann muß man sie auch noch stoßen.
Abstoßend schon die brüllende Menge, aufgeputscht und aufgegeilt, in Rage gebracht von Anheizern und Bombastik, wie auf Knopfdruck jubelnd, schreiend, springend, ein Bataillon Affen oder eine Massenparade an Puppen, die die Fäden ihrer Dirigenten nicht mehr sehen können.
Der Bombast selbst nur scheußlich, zu viel an allem, an Licht, Feuerkaskaden, Projektionen, Effekten und alle akribisch berechnet, dem Publikum auch die letzte Hirnzelle noch zu flashen. Aber man muß ein bestimmter Typus Mensch sein, wenn man darauf reagiert. Die Massenansammlung dieses Menschen wirkt auf uns – das sind eben auch die Alten, die das Normale noch kannten und die bittere Not; das sind auch wir Widerständigen – abscheulich. Nietzsches „letzter Mensch“ –
„‚Gib uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra‘, – so riefen sie – ,mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!‘ Und alles Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge“ und: „,Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.“
– Nietzsches „letzter Mensch“ trifft es schon nicht mehr, ist schon eine Untertreibung.
Und dann ist die Politisierung der Chose ein anderes unangenehmes Ding. Seit je litt das Abstimmungsverfahren unter nationalen, kulturellen und ethnischen Solidaritäten, die das Künstlerische übertünchten. Das hat man nun gestrafft, um ein anderes Monstrum zu zeugen: die politische und ideologische Abstimmung.
Der diesjährige ESC war von vornherein politisch vergiftet. Einerseits hat man Israel als Teilnehmer durchgedrückt, andererseits haben westliche Wohlstandsrebellen ihre Pro-Palästina-Show veranstaltet und daß der Wettbewerb ausgerechnet in Malmö stattfand, eine der quasi-verlorenen Städte Schwedens, in denen ethnische Segregation, Gettobildung, Bandenkriege und lange Mordserien täglich Brot sind, war in jedem Fall ein potentielles Pulverfaß und mußte unter den derzeitigen weltpolitischen Koordinaten als Vabanquespiel gewertet werden.
Auch die Abstimmungsergebnisse spiegeln die Parteilichkeiten – wir wissen nicht, wie ein organisches Urteil für die beiden Kriegsländer ausgesehen hätte, können aber sicher sein, daß es ein anderes gewesen wäre. Man kann insofern froh über den Sieg der Schweiz sein, da das nächste Brimborium bei Europas Meister an Langeweile stattfinden wird – wenn er denn stattfindet.
Hinzu kamen undurchsichtige und wohl auch politisch motivierte Hintergrundquereleien: der holländische Protagonist – auch eine androgyne Gestalt – wurde ausgeschlossen, Jury-Mitglieder traten aus Protest gegen Israel zurück und dergleichen.
Daß Volk, Völker und Eliten unterschiedlichen Wertsystemen zugehören, haben die Abstimmungsdiskrepanzen einmal mehr gezeigt. Während die Jurys das Verquere, Queere und Quotige goutierten, steht die Mehrzahl der Menschen noch immer auf das mehr oder weniger Authentische und Normale. Das Verhältnis der Jury- und Publikumswahl der beiden mit großem Abstand Führenden – Schweiz und Kroatien – sind nahezu spiegelbildlich: Die Jury wollte die Federboa und den Mann im Minirock, das Volk die Hardrocker in Nationaltracht. Zu „Nemos“ Verteidigung kann freilich angeführt werden, daß sein Song aus rein musikalischer und auch sängerischer Sicht zu den besseren gehörte.
Auf der Bühne konnte man einen Kulturkampf sehen, den man nur in der historischen Entwicklung richtig einordnen kann. Man muß sich die Bilder aus San Remo vor Augen halten, die Wettbewerbe der 80er und 90er Jahre, der Ein-bißchen-Frieden und 99-Luftballons-Jahre, und von dort her die Entwicklung verfolgen. Dann wird sichtbar, daß gerade mindestens fünf oder sechs Kunstauffassungen und damit auch Ideologien miteinander ringen.
Da sind zum einen die letzten Überreste der Al-Bano & Romina-Power-Generation, der Ordentlichen, Friedfertigen, der Idyllen- und Herzschmerzbarden; anständig gekleidet, sanfte oder ergreifende Melodien, unschuldige Texte und unschuldiges Äußeres – vielleicht gehörte der deutsche „Isaak“ noch dazu; sein stärkstes Pfund war seine totale Harmlosigkeit.
Dann haben wir die klassische Feier des Schönen und meist Weiblichen. Musikalisch in der Regel bedeutungslos und austauschbar, aber immerhin schön anzusehen: prächtige Frauen mit meist sehr langem, üppigem, vollem Haar – schon immer ein Signum der Weiblichkeit – in engen köperbetonten und kurzen oder wallenden, nicht selten auch im Gegenlicht transparenten Kleidern spielen sie die Verführerinnen, haben den schmachtenden, manchmal noch unterwürfigen Blick, die erotischen Lippen und alles, was den Mann betört. Nur daß sie sich nahezu gesetzmäßig von vier oder sechs Figuren im Kreis umtanzen lassen oder alle über ein vergleichbares Gestik-Reservoire verfügen und im übrigen auch meist über auswechselbare Stimmen, enterotisiert sie wieder. Im Übrigen spielen auch diese Frauen bereits sichtbar mit der Transgression: futuristische Accessoires, Tattoos, Piercings etc. deuten die Flexibilität und die Sorge um die zu eindimensionale Identität an.
Unschuldig sind auch noch die Stimmungsmacher, die Lustigen, die Lebensfreudigen, die Gutgelaunten. Ihr letzter großer Triumph war wohl auch der letzte deutsche, als Lena 2010 mit „Satelite“ einen überzeugenden Sieg einfuhr. Selbst hat sie den frühen Erfolg mit jahrelanger Depression und kreativer Hemmung bezahlt. Es lohnt sich, diesen Beitrag heute – unter dem Eindruck des gestrigen Bombardements – noch einmal zu sehen: man ist fast peinlich berührt von der Schlichtheit des Arrangements und der Dünne von Stimme und Person.
Noch immer unausrottbar die Traditionalisten, die man vor allem dann sieht, wenn Süd- und Südosteuropäer teilnehmen. Sie kommen in Trachten, spielen oft heimische Instrumente, singen in Landessprache und wollen wirklich noch Werbung für die eigene Heimat machen. Sie werden weniger.
Mehr hingegen werden die letzten beiden Gruppen und sie werden wohl die kommenden historischen Sieger sein – zumindest eine Zeitlang, denn ihr Konzept ist nicht nachhaltig.
Da sind zum einen die Satanisten, die Monster, die Entmenschlichten. Zum ersten Mal hat es diese Bewegung 2006 auf die Bühne geschafft – die Finnen „Lordi“ dürften der „Bahnbrecher“ gewesen sein. Aber natürlich standen auch sie nur auf den Schultern anderer, denn sie haben eine schon lange zuvor existente Entwicklung nur in domestizierter Form präsentiert: Black Metal, Trash Metal, Pagan Metal und was weiß ich, das gibt es seit den 80ern und stellte den Schlußpunkt der Hard Rock und Metalbewegung dar, die sich seither nur noch in Nuancen und in Dauerschleife wiederholt. Der Hang zum Satanischen und der zur Verkleidung war in dieser Szene immer groß.
Der Beitrag des irischen Duos – vor dem Hintergrund von Massenprotesten gegen die Massenmigration in Dublin und anderen Städten besonders pikant – war die letzte Eskalationsstufe. Das Thema ist zu groß und zu sensibel, um hier ausführlich bedacht zu werden.
Die sanfte Variante davon – der Auflösung und Verwischung aller Grenzen – ist die letzte Kategorie, die der Queeren, Perversen und Inversen. Mit „Conchita Wurst“ begann vor zehn Jahren die feindliche Übernahme des Events durch diese Subkultur, gestern waren sie die absoluten Gewinner des Abends; „No Rules“ sangen die Finnen und liefen nackt über die Bühne, auch die Spanier ritten auf dem Bitch- und Transticket in die Arena, und „I broke the code“ sang der Gewinner „Nemo“, den man bald nicht mehr „der“ nennen darf, will man nicht strafrechtlich belangt werden. Auch der englische Beitrag gehörte in diese Kategorie. Man sieht, daß all dies längst kein deutscher Wahnsinn mehr ist: er hat die gesamte westliche Kultur ergriffen.
„Nemo“ gewann deswegen, weil sein Beitrag einerseits künstlerisch am besten war und weil er andererseits das rein Homosexuelle mit Non-Binary überbot. Man kann ihn sehr gut mit dem Schweizer Kim de l’Horizon vergleichen – dem er auch optisch sehr nahekam. Sie haben eine gewisse, wenn auch limitierte Begabung, sie sind in dem, was sie tun, gut, sie können schreiben – wenn man diese abartige Form des Schreibens als Kunst akzeptieren will – und singen, aber sie gewinnen dennoch nur, weil sie Fahnenträger des Zeitgeistes sind.
@ Spiegel
Aber dieser Zeitgeist ist gar keiner, denn die Mehrzahl der Menschen will und lebt ihn gar nicht. Finnland und England hatten verheerende Publikumszahlen und auch „Nemo“ konnte sich nur über das Jury-Urteil legitimieren – zumindest als Gewinner. Es sind die Eliten, die uns ihre Ideologie aufdrücken. Sie sind zum Teil Gesinnungstäter und zum Teil Mitläufer und Angsthasen. In Künstlerkreisen kann heutzutage schon die Stimmenthaltung zu schwerem Ostrakismos führen, die gesamte Szene ist komplett durchseucht und durchsäuert von der ätzenden Säure des queeren und linken und pseudoökologischen (und wohl auch antisemitischen, antiisraelischen und propalästinensischen) Konformismus. Widerrede gibt es nur auf Gefahr des eigenen Untergangs. Auch in Malmö hatte man das Gefühl, ununterbrochen mit der Pride-Flagge konfrontiert worden zu sein, und das, obwohl das offizielle Reglement das untersagte – aber niemand hat er mehr den Mut, den einst Angela Merkel noch hatte: jemandem eine Flagge aus der Hand zu reißen und sie in die Tonne zu werfen.
So erreichen sie – diese noch immer winzige, wenn auch beängstigend wachsende Minderheit – eine fatale Überrepräsentanz, die uns – sofern wir uns an die medialen Fäden hängen – eine Mehrheit, eine gesellschaftliche Relevanz suggerieren will, die sie de facto nicht haben.
Denn was leisten diese Menschen für die Gesellschaft? Wo bauen sie etwas auf, wo schaffen sie materielle oder auch nur wahrhaft geistige Werte? Wo verteidigen sie das System, das sie trägt und austrägt aktiv und mit der Waffe oder der Schaufel in der Hand? Sie sind ephemere Typen, Erscheinungen, Gaukelbilder, gefüttert von jenen, denen sie nun ihre „Rechte“ ins Gesicht singen, grölen oder kotzen.
Sie sind im Aufwind. Momentan. Sie räumen die Preisverleihungen ab. Aber sie bleiben der Mehrzahl Aliens. Sollten sie je gewinnen – im Sinne einer Mehrheitsbewegung – dann dürfte es spannend werden, den inneren Verfall zu verfolgen, wie sich gegenseitig zerfleischen, wie sie um die Fleischtöpfe kämpfen, wie sie auf ihre jeweiligen Individualrechte bestehen, die auch in der Differenz den anderen Queeren ausschließen – schon heute muß sich der Feminismus gegen die Transbewegung wehren. Solange sie einer Mehrheitsgesellschaft gegenüberstehen, können sie sich in künstlicher Einheit stärken; die Differenzen werden aufbrechen, wenn sie an der Macht sind oder eine größere Macht sie in existentieller Situation nach dem letzten Einsatz fragt.
Bis dahin leben wir Normalen, wir Alten, wir Klassischen und Konservativen in der Dystopie, im Entwurf des Üblen, der das Übel selbst noch nicht ist.