Malmö – Europas dystopischer Entwurf

Immerhin. Ein morgendliches Durchsuchen einiger Twitter-Konten bestätigt: mein Gefühl hat nicht getrogen, ich war nicht allein. War mir auch vorher schon klar, denn ich habe zusammen mit einer Rentnerin den European Song Contest gesehen und die war fassungslos und konnte nur immer wieder die Worte stammeln: „Ich verstehe das nicht“ und: „Die jungen Leute von heute sind ganz anders“ und: „Die sind doch krank, oder?“

Ja, so ist es. Wollen wir versuchen, an ihrer statt ein paar von den Worten zu finden, die ihr, der einfachen, nach unserem Verständnis ungebildeten, aber noch natürlich empfindenden Person fehlen.

Ich hatte während der Sendung – die ich auch nur in Auszügen verfolgen konnte – permanent nur ein Wort im Kopf: Dystopie! Das Ganze hatte etwas schwer Apokalyptisches an sich. Es war von vorne bis hinten verkehrt und in diesem Sinne pervers. Wenn das unsere Kultur ist, dann ist sie dem Untergang geweiht – und zurecht; dann muß man sie auch noch stoßen.

Abstoßend schon die brüllende Menge, aufgeputscht und aufgegeilt, in Rage gebracht von Anheizern und Bombastik, wie auf Knopfdruck jubelnd, schreiend, springend, ein Bataillon Affen oder eine Massenparade an Puppen, die die Fäden ihrer Dirigenten nicht mehr sehen können.

Der Bombast selbst nur scheußlich, zu viel an allem, an Licht, Feuerkaskaden, Projektionen, Effekten und alle akribisch berechnet, dem Publikum auch die letzte Hirnzelle noch zu flashen. Aber man muß ein bestimmter Typus Mensch sein, wenn man darauf reagiert. Die Massenansammlung dieses Menschen wirkt auf uns – das sind eben auch die Alten, die das Normale noch kannten und die bittere Not; das sind auch wir Widerständigen – abscheulich. Nietzsches „letzter Mensch“ –

„‚Gib uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra‘, – so riefen sie – ,mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!‘ Und alles Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge“ und: „,Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.“  

– Nietzsches „letzter Mensch“ trifft es schon nicht mehr, ist schon eine Untertreibung.

Und dann ist die Politisierung der Chose ein anderes unangenehmes Ding. Seit je litt das Abstimmungsverfahren unter nationalen, kulturellen und ethnischen Solidaritäten, die das Künstlerische übertünchten. Das hat man nun gestrafft, um ein anderes Monstrum zu zeugen: die politische und ideologische Abstimmung.

Der diesjährige ESC war von vornherein politisch vergiftet. Einerseits hat man Israel als Teilnehmer durchgedrückt, andererseits haben westliche Wohlstandsrebellen ihre Pro-Palästina-Show veranstaltet und daß der Wettbewerb ausgerechnet in Malmö stattfand, eine der quasi-verlorenen Städte Schwedens, in denen ethnische Segregation, Gettobildung, Bandenkriege und lange Mordserien täglich Brot sind, war in jedem Fall ein potentielles Pulverfaß und mußte unter den derzeitigen weltpolitischen Koordinaten als Vabanquespiel gewertet werden.

Auch die Abstimmungsergebnisse spiegeln die Parteilichkeiten – wir wissen nicht, wie ein organisches Urteil für die beiden Kriegsländer ausgesehen hätte, können aber sicher sein, daß es ein anderes gewesen wäre. Man kann insofern froh über den Sieg der Schweiz sein, da das nächste Brimborium bei Europas Meister an Langeweile stattfinden wird – wenn er denn stattfindet.

FireShot Capture 036 - ESC Finale 2024_ Alle Ergebnisse, Platzierungen und Punkte - eurovisi_ - www.eurovision.de

Hinzu kamen undurchsichtige und wohl auch politisch motivierte Hintergrundquereleien: der holländische Protagonist – auch eine androgyne Gestalt – wurde ausgeschlossen, Jury-Mitglieder traten aus Protest gegen Israel zurück und dergleichen.

Daß Volk, Völker und Eliten unterschiedlichen Wertsystemen zugehören, haben die Abstimmungsdiskrepanzen einmal mehr gezeigt. Während die Jurys das Verquere, Queere und Quotige goutierten, steht die Mehrzahl der Menschen noch immer auf das mehr oder weniger Authentische und Normale. Das Verhältnis der Jury- und Publikumswahl der beiden mit großem Abstand Führenden – Schweiz und Kroatien – sind nahezu spiegelbildlich: Die Jury wollte die Federboa und den Mann im Minirock, das Volk die Hardrocker in Nationaltracht. Zu „Nemos“ Verteidigung kann freilich angeführt werden, daß sein Song aus rein musikalischer und auch sängerischer Sicht zu den besseren gehörte.

Auf der Bühne konnte man einen Kulturkampf sehen, den man nur in der historischen Entwicklung richtig einordnen kann. Man muß sich die Bilder aus San Remo vor Augen halten, die Wettbewerbe der 80er und 90er Jahre, der Ein-bißchen-Frieden und 99-Luftballons-Jahre, und von dort her die Entwicklung verfolgen. Dann wird sichtbar, daß gerade mindestens fünf oder sechs Kunstauffassungen und damit auch Ideologien miteinander ringen.

Da sind zum einen die letzten Überreste der Al-Bano & Romina-Power-Generation, der Ordentlichen, Friedfertigen, der Idyllen- und Herzschmerzbarden; anständig gekleidet, sanfte oder ergreifende Melodien, unschuldige Texte und unschuldiges Äußeres – vielleicht gehörte der deutsche „Isaak“ noch dazu; sein stärkstes Pfund war seine totale Harmlosigkeit.

Dann haben wir die klassische Feier des Schönen und meist Weiblichen. Musikalisch in der Regel bedeutungslos und austauschbar, aber immerhin schön anzusehen: prächtige Frauen mit meist sehr langem, üppigem, vollem Haar – schon immer ein Signum der Weiblichkeit – in engen köperbetonten und kurzen oder wallenden, nicht selten auch im Gegenlicht transparenten Kleidern spielen sie die Verführerinnen, haben den schmachtenden, manchmal noch unterwürfigen Blick, die erotischen Lippen und alles, was den Mann betört. Nur daß sie sich nahezu gesetzmäßig von vier oder sechs Figuren im Kreis umtanzen lassen oder alle über ein vergleichbares Gestik-Reservoire verfügen und im übrigen auch meist über auswechselbare Stimmen, enterotisiert sie wieder. Im Übrigen spielen auch diese Frauen bereits sichtbar mit der Transgression: futuristische Accessoires, Tattoos, Piercings etc. deuten die Flexibilität und die Sorge um die zu eindimensionale Identität an.

Unschuldig sind auch noch die Stimmungsmacher, die Lustigen, die Lebensfreudigen, die Gutgelaunten. Ihr letzter großer Triumph war wohl auch der letzte deutsche, als Lena 2010 mit „Satelite“ einen überzeugenden Sieg einfuhr. Selbst hat sie den frühen Erfolg mit jahrelanger Depression und kreativer Hemmung bezahlt. Es lohnt sich, diesen Beitrag heute – unter dem Eindruck des gestrigen Bombardements – noch einmal zu sehen: man ist fast peinlich berührt von der Schlichtheit des Arrangements und der Dünne von Stimme und Person.

Noch immer unausrottbar die Traditionalisten, die man vor allem dann sieht, wenn Süd- und Südosteuropäer teilnehmen. Sie kommen in Trachten, spielen oft heimische Instrumente, singen in Landessprache und wollen wirklich noch Werbung für die eigene Heimat machen. Sie werden weniger.

Mehr hingegen werden die letzten beiden Gruppen und sie werden wohl die kommenden historischen Sieger sein – zumindest eine Zeitlang, denn ihr Konzept ist nicht nachhaltig.

Da sind zum einen die Satanisten, die Monster, die Entmenschlichten. Zum ersten Mal hat es diese Bewegung 2006 auf die Bühne geschafft – die Finnen „Lordi“ dürften der „Bahnbrecher“ gewesen sein. Aber natürlich standen auch sie nur auf den Schultern anderer, denn sie haben eine schon lange zuvor existente Entwicklung nur in domestizierter Form präsentiert: Black Metal, Trash Metal, Pagan Metal und was weiß ich, das gibt es seit den 80ern und stellte den Schlußpunkt der Hard Rock und Metalbewegung dar, die sich seither nur noch in Nuancen und in Dauerschleife wiederholt. Der Hang zum Satanischen und der zur Verkleidung war in dieser Szene immer groß.

Der Beitrag des irischen Duos – vor dem Hintergrund von Massenprotesten gegen die Massenmigration in Dublin und anderen Städten besonders pikant – war die letzte Eskalationsstufe. Das Thema ist zu groß und zu sensibel, um hier ausführlich bedacht zu werden.

Die sanfte Variante davon – der Auflösung und Verwischung aller Grenzen – ist die letzte Kategorie, die der Queeren, Perversen und Inversen. Mit „Conchita Wurst“ begann vor zehn Jahren die feindliche Übernahme des Events durch diese Subkultur, gestern waren sie die absoluten Gewinner des Abends; „No Rules“ sangen die Finnen und liefen nackt über die Bühne, auch die Spanier ritten auf dem Bitch- und Transticket in die Arena, und „I broke the code“ sang der Gewinner „Nemo“, den man bald nicht mehr „der“ nennen darf, will man nicht strafrechtlich belangt werden. Auch der englische Beitrag gehörte in diese Kategorie. Man sieht, daß all dies längst kein deutscher Wahnsinn mehr ist: er hat die gesamte westliche Kultur ergriffen.

„Nemo“ gewann deswegen, weil sein Beitrag einerseits künstlerisch am besten war und weil er andererseits das rein Homosexuelle mit Non-Binary überbot. Man kann ihn sehr gut mit dem Schweizer Kim de l’Horizon vergleichen – dem er auch optisch sehr nahekam. Sie haben eine gewisse, wenn auch limitierte Begabung, sie sind in dem, was sie tun, gut, sie können schreiben – wenn man diese abartige Form des Schreibens als Kunst akzeptieren will – und singen, aber sie gewinnen dennoch nur, weil sie Fahnenträger des Zeitgeistes sind.

FireShot Capture 037 - Eurovision Song Contest 2024_ Triumph für die Schweiz - Queer gewinnt_ - www.spiegel.de

@ Spiegel

Aber dieser Zeitgeist ist gar keiner, denn die Mehrzahl der Menschen will und lebt ihn gar nicht. Finnland und England hatten verheerende Publikumszahlen und auch „Nemo“ konnte sich nur über das Jury-Urteil legitimieren – zumindest als Gewinner. Es sind die Eliten, die uns ihre Ideologie aufdrücken. Sie sind zum Teil Gesinnungstäter und zum Teil Mitläufer und Angsthasen. In Künstlerkreisen kann heutzutage schon die Stimmenthaltung zu schwerem Ostrakismos führen, die gesamte Szene ist komplett durchseucht und durchsäuert von der ätzenden Säure des queeren und linken und pseudoökologischen (und wohl auch antisemitischen, antiisraelischen und propalästinensischen) Konformismus. Widerrede gibt es nur auf Gefahr des eigenen Untergangs. Auch in Malmö hatte man das Gefühl, ununterbrochen mit der Pride-Flagge konfrontiert worden zu sein, und das, obwohl das offizielle Reglement das untersagte – aber niemand hat er mehr den Mut, den einst Angela Merkel noch hatte: jemandem eine Flagge aus der Hand zu reißen und sie in die Tonne zu werfen.

So erreichen sie – diese noch immer winzige, wenn auch beängstigend wachsende Minderheit – eine fatale Überrepräsentanz, die uns – sofern wir uns an die medialen Fäden hängen – eine Mehrheit, eine gesellschaftliche Relevanz suggerieren will, die sie de facto nicht haben.

Denn was leisten diese Menschen für die Gesellschaft? Wo bauen sie etwas auf, wo schaffen sie materielle oder auch nur wahrhaft geistige Werte? Wo verteidigen sie das System, das sie trägt und austrägt aktiv und mit der Waffe oder der Schaufel in der Hand? Sie sind ephemere Typen, Erscheinungen, Gaukelbilder, gefüttert von jenen, denen sie nun ihre „Rechte“ ins Gesicht singen, grölen oder kotzen.

Sie sind im Aufwind. Momentan. Sie räumen die Preisverleihungen ab. Aber sie bleiben der Mehrzahl Aliens. Sollten sie je gewinnen – im Sinne einer Mehrheitsbewegung – dann dürfte es spannend werden, den inneren Verfall zu verfolgen, wie sich gegenseitig zerfleischen, wie sie um die Fleischtöpfe kämpfen, wie sie auf ihre jeweiligen Individualrechte bestehen, die auch in der Differenz den anderen Queeren ausschließen – schon heute muß sich der Feminismus gegen die Transbewegung wehren. Solange sie einer Mehrheitsgesellschaft gegenüberstehen, können sie sich in künstlicher Einheit stärken; die Differenzen werden aufbrechen, wenn sie an der Macht sind oder eine größere Macht sie in existentieller Situation nach dem letzten Einsatz fragt.

Bis dahin leben wir Normalen, wir Alten, wir Klassischen und Konservativen in der Dystopie, im Entwurf des Üblen, der das Übel selbst noch nicht ist.

 

Was sie sich da rangezüchtet haben, beginnen nun auch einige Protagonisten der Bewegungen zu begreifen

Proteus Petőfi

Rezension Adorján Kovács: Sándor Petöfi – »Dichter sein oder nicht sein«: Dichtung und Deutung, Neustadt an der Orla: Arnshaugk Verlag 2023. 303 S., 34 €

Ohne Sándor Petőfi geht in Ungarn nichts. Man kann das Land sich nicht erschließen, hat man nicht wenigstens Grundkenntnisse über diesen Kraftmenschen und Poeten. Keine Stadt, in der es nicht ein Denkmal gäbe, kein nationaler Feiertag ohne sein „Nationallied“, kein Literaturlehrbuch ohne ihn als Mittelpunkt. Petőfi ist d e r Nationalschriftsteller schlechthin und das mag von außen schon deswegen seltsam erscheinen, weil sein Leben wild, seine Schaffensphase kurz und sein Werk vergleichsweise schmal ist. Adorján Kovács‘ Portrait und sensible Auslegung der Lyrik macht dem Leser verständlich, warum das so ist.

Er stellt uns einen multiplen Petőfi vor, der alles und nichts war und immer etwas anderes in einer jeweiligen Phase. Es gibt keine Aussage, die sich nicht durch eine andere konterkarieren ließe und dennoch gelingt es Kovács ein überzeugendes Gesamtbild zu präsentieren. Er liest den Dichter proteisch, der mit dem Meeresgott das Tiefe, das Aufwallende gemein hat aber auch den Wandel der Gestalten und das Prophetische. So prall präsentiert haben selbst die Ungarn ihren Heros noch nicht gesehen, ja Kovács kommt sogar zu dem Schluß, daß „Petőfis Popularität in Ungarn in Wirklichkeit ein Mißverständnis“ sei, aber ein sehr produktives.

Dort liebt man vor allem seine „Volkstümlichkeit“ und seine zarte Liebeslyrik oder seinen „Republikanismus“, zu sozialistischen Zeiten war es sein Revoluzzertum, doch damit ist der Dichter längst nicht ausgeschöpft, diese Konzentrationen aufs Spezifische sind ein Irrtum, denn Petőfi ist als Mensch und als Künstler nahezu unerschöpflich. Man liest diese Seiten atemlos und ahnend, wie komplex dieses scheinbar übersichtliche Werk des Dichters eigentlich ist.

Nach einem sehr dichten Einleitungskapitel, in dem der große Spannungsbogen gezogen wird, stellt uns Kovács nachfolgend den Proteus in all seinen Schattierungen, in seinem inneren Reichtum und in seinen zahllosen Widersprüchen in 13 Kapiteln vor, immer wieder mit beispielhafter Lyrik gesättigt, deren einziger Nachteil ist, daß die deutschen Übertragungen oft hinter dem Original zurückbleiben, aber auch hier versucht der deutsch-ungarische Kritiker durch Zusammenstellungen und Eigenkorrekturen das Bestmögliche herauszuholen. Allein die Gedichte zu lesen, ist ein Genuß, um so mehr als sie uns in ihrem Kontext erläutert und oft auch weltliterarisch verglichen werden. Kovács erweist sich nicht nur als sensibler Interpret, sondern auch profunder Kenner der magyarischen, der deutschen und der europäischen Literatur. Das Buch ist wissensschwer. Selbst philosophische Bezüge – etwa zu Nietzsche oder zu Sartre werden souverän präsentiert.

Was immer Petőfi anzufassen versuchte, schien zu Gold zu werden. Aber seiner inneren Unruhe gemäß konnte er bei keinem Gegenstand oder bei keinem Stil dauerhaft bleiben, schnell erreichte er ein Optimum und schrieb sich damit an die vorderste Front der Literatur – bis heute oftmals noch unbemerkt –, um sich einer neuen Lage, einer neuen Stimmung hinzugeben. Seine fünf, sechs produktiven Jahre vor seinem geheimnisvollen Verschwinden in der Schlacht bei Segesvár im Sommer 1849 weisen die ganze Gefühlspalette von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt und ein breites Arsenal an künstlerischen Mitteln vom klassischen oder religiösen Gedicht über naturalistische, pantheistische, atheistische, sogar perverse Exklamationen bis zum freien lyrischen Parlando oder einer Poésie pure auf und immer schien er zu exzellieren, selbst noch in seinen verschollenen Gedichten.

Kovács Grundlagenwerk ist nicht hoch genug zu loben, ein Meilenstein, ein Muß für alle Liebhaber Ungarns, der Poesie und des freien Denkens. Es ist sicher kein Zufall, daß ein solches Werk unserem Milieu entstammt. Der Autor ist engagiert und hält dennoch den objektiven Ton. Dem deutschen Leser wird ein unentdeckter Kontinent erschlossen, dem Ungarn – das Buch erschien zuerst auf Ungarisch – ein neuer, anderer Nationalheld, den man nun auf höherer Ebene lieben kann: beseitigt man nämlich das eigentliche Mißverständnis auf solch kundige Weise, so müßte Sándor Petőfi in seinem Heimatland nun um ein Vielfaches populärer und bedeutender werden, als er es jetzt schon ist!

zuerst erschienen in Sezession 119

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Die Philosophie der Ahmadiyya

Im Herbst 2015 kam es in Weimar zu einem unverhofften und intensiven Gespräch mit Suleman Malik, dem Vorsitzenden der Erfurter Ahmadiyya-Gemeinde und im darauffolgenden Frühjahr konnte ich mit Said A. Arif, dem Imam der Berliner Moschee, sprechen und einen kurzen Mailwechsel führen. In den Beiträgen „Der friedliche Islam“ und „Friede und Islam in Sachsen?“ wurde über diese Begegnungen berichtet und die Zugriffszahlen beweisen, daß es ein Bedürfnis sowohl nach Aufklärung über den Islam als auch nach einer friedlichen Auslegung gab. Beide empfahlen ein viel angepriesenes Buch, das Hauptwerk des Gründers dieser Glaubensrichtung – Mirza Ghulam Ahmad –  mit dem anspruchsvollen Titel: „Die Philosophie der Lehren des Islam“. Hier soll es auf Herz und Nieren geprüft werden; hält es einer kritischen Prüfung stand?

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Die Erstbegegnung mit dem Buch verlief nicht glücklich, denn die ersten 20 Seiten werden mit unangenehm empfundener Veneration verplempert. Zumindest erfahren wir die Entstehungsgeschichte des Textes, bei dem es sich um einen Redebeitrag zu einer „Konferenz Großer Religionen“ im Jahre 1896 in Lahore handelt. Es scheint eine Art Wettbewerb gewesen zu sein, in dem Religionsvertreter die Vorteile und die Wahrheit ihrer Religion darlegen konnten und nur Ahmad, so behaupten die abgedruckten Presseartikel ebenso wie der Autor selbst, hatte überzeugt – sein Aufsatz war „frei von menschlicher Schwäche“, belegte „die Unwahrheit falscher Religionen“, bewies „die Vollkommenheit des Islam und seine Überlegenheit über alle anderen Religionen“. Hört man heute nicht mehr so gern, mag Glaubenswilligen aber eine Entscheidungshilfe sein.

Es galt seinerzeit fünf Fragen zu beantworten. Ahmad macht von vornherein klar, daß er die Wahrheit des Korans ausschließlich aus den Aussagen des Korans erschließen will, was sofort methodologische Probleme eröffnet, die meisten islamischen Diskussionen jedoch charakterisiert. Einerseits wird apriori ein Grundvertrauen eingefordert – in religiösem Terminus: Glauben –, andererseits nimmt man ein grundlegendes Paradox in Kauf: Man will die Reinheit des Diamanten mithilfe seiner zweifellos vorhandenen intrinsischen Schönheit beweisen und verzichtet auf den (evtl. verstörenden) Vergleich mit anderen Diamanten. Wissenschaftlich und erkenntnistheoretisch wäre das Buch damit bereits erledigt, nur, so einfach sollte man es sich nicht machen.

Die erste Frage des Religions-Wettbewerbs lautete: „Was sind die physischen, moralischen und geistigen Zustände des Menschen?“ – ihr widmet Ahmad zwei Drittel seines Buches. Er versucht strukturiert, durchaus im Sinne des aufklärerischen Rationalismus, vorzugehen, hält das allerdings nicht immer durch und driftet in Exkurse ab.

Demnach gäbe es drei „Zustände des Menschen“, jedem wird im Koran ein eigener Ursprung zugeordnet und im Falle des physischen Zustandes sind das: der Trieb, das Gewissen („das sich anklagende Selbst“) und die „beruhigte Seele“. Daß ein Zustand den anderen wechselseitig beeinflußt, wird in einem ersten Exkurs anhand der Nahrung beschrieben: man ist also, was man ißt. Der Koran schreibt Mischkost vor, dem Vegetarier etwa „gebricht es an persönlichem Mut“, beim reinen Karnivoren „gehen Sanftmut und Demut zugrunde“. Aus diesen Überlegungen heraus erklären sich auch die „unsäglichen Aussagen“ des heutigen Kalifen, der behauptet haben soll: „Essen von Schweinefleisch führt zu Homosexualität“.

So fragwürdig die konkreten Schlußfolgerungen sind, so avantgardistisch kommt uns heute der holistische Ansatz vor; er wurzelt freilich weniger im Koran als in den indischen Weisheitslehren.

Trotzdem glaubt der Verfasser der Ur-Philosophie damit die Regulierungswut des Koran erklärt zu haben, ohne auf die historischen und geographischen Bedingtheiten einzugehen: „Mithin hat der Heilige Qur’an der Besserung der physischen Zustände des Menschen große Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat die äußeren Handlungen des Menschen bis aufs Kleinste geregelt, wie zum Beispiel sein Lachen, Weinen, Essen, Trinken, Bekleiden, Schlafen, Sprechen, Schweigen, Heiraten, Ledig bleiben, Gehen, Anhalten, Baden usw.“ (59)

Ahmad nimmt – das muß man noch einmal betonen – auch nicht in Anspruch, selber zu argumentieren, sondern läßt den Koran durch sich sprechen: nicht er, „das Heilige Wort Gottes ordnet alle natürlichen Triebe des Menschen, seine fleischlichen Begierden und Leidenschaften, seinen psychischen Zuständen zu“. Wie durch ein Wunder stimmen also die Fragen der Akademie vollkommen mit den Antworten des Korans überein.

Man kann diesen „Begierden und Leidenschaften“ natürlich begegnen, man kann sich stufenweise bessern und der Koran bezweckt letztlich nichts anderes. Zuerst indem man die einfachen Verhaltensregeln einhält, dann indem man die „moralischen Eigenschaften des Menschen lernt“ und schließlich indem man „die Liebe zu Gott“ kultiviert.

Die Zirkularität der Argumentation ist wohl kein logischer Lapsus, sondern Teil des Inklusionsprojektes. „Der Qur’an hatte (sic!) eine großartige Aufgabe: die Wilden als Menschen zu zivilisieren, sie dann die Moral zu lehren und schließlich die moralischen Menschen auf den höchsten Gipfel der Entwicklung zu leiten und sie zu gottnahen Menschen zu machen.“ … „Die Moralanweisungen, Vorschriften und Lehrsätze des Qur’ans haben den allumfassenden Zweck, den Menschen vom natürlichen, physischen Zustand, der einen Anstrich von Wildheit hat, in den moralischen Zustand zu versetzen, und ihn dann aus dem Moralischen in den uferlosen Ozean des Geistigen zu lenken.“ (67)

Es folgen nun eine ganze Reihe von Koranversen, die zur „Besserung“ aufrufen, sei es bei der Nahrung oder im Umgang mit Frauen, Kindern, Eigentum etc. – hier wird in der Tat die zivilisierende Bedeutung der Schrift deutlich. Ausnahmsweise wollen wir einem Exkurs folgen, da er ein sensibles Thema anspricht und die Argumentationslogik offenbart: Schweinefleisch. Warum ist es verboten? Das ließe sich schon etymologisch in mehreren Sprachen nachweisen und Ahmad zeigt hier eine Affinität zu scholastischem Denken, vor allem aber sei das Schwein nun einmal „unrein“, „ist doch der Schmutz und Dreck dieses Tieres wohl überall bekannt“, es lebe von Unrat und sei das „schamloseste Tier“, sein Fleisch „erzeugt Schamlosigkeit“.

In besagtem Stufenmodell folgen nun die moralischen Zustände und die Mittel der Besserung. Da ist zum ersten die „Unterlassung des Bösen“ (Keuschheit, Ehrlichkeit, Friedfertigkeit, Höflichkeit), zum zweiten die Vollbringung des Guten (Nachsicht, Güte, Verwandtschaftsgüte, Mut, Wahrheitsliebe, Standhaftigkeit, Mitleid). Dabei habe vor allem der Verstand zu regieren; als Grundregel gilt: „Für eine moralische Eigenschaft wird der Verstand vorausgesetzt, und sie kann nur so heißen, wenn sie bei richtigem Anlaß Ausdruck findet.“ (104)

Moralisch kann ein Tun also nur dann sein, wenn es bei vollem Verstand vollführt wird und wenn es auch de facto die Möglichkeit des unmoralischen Handelns gibt. Einen Hungernden von meinem Teller zu speisen, weil ich selber schon satt bin oder die Speise nicht mag, qualifiziert dafür nicht, wie auch die „echte Gelegenheit die Wahrheit zu sagen, diejenige ist, bei der man den Verlust von Leben, Eigentum und Ehre befürchten muß“ (112).

Auch die „bloße Vergebung ist keine moralische Handlung“, da sie einer natürlichen Veranlagung des Kindes – das schnell vergißt und verzeiht – entspricht.

Hier macht Ahmad auch die Differenz zum Christentum deutlich, ohne es zu erwähnen, doch dürfte folgendes Argument gegen die christliche Vergebungslehre gerichtet sein: „Der Qur’an lehrt nicht, daß man in keinem Fall dem Bösen Widerstand leisten soll, oder daß dem Missetäter und Bösewicht die Strafe auf keinen Fall auferlegt werden soll. Er empfiehlt die Umstände genau zu prüfen und zu entscheiden, ob Vergebung oder Bestrafung erforderlich ist, und dann so vorzugehen, wie es dem Bösewicht sowie der Allgemeinheit wirklich nutzbringend sein wird. Manchmal veranlaßt die Verzeihung einen Missetäter zu bereuen und ein andermal ermutigt sie ihn zu weiteren Verbrechen. Daher verlangt das Wort Gottes nicht, blindlings aus Gewohnheit zu vergeben, sondern die Angelegenheit einer Erwägung zu unterziehen und mit Bedacht zu entscheiden. Wir sollen also dem Fall angemessen handeln.“ (100)

In obiger Aufzählung der Besserungsmittel der moralischen Zustände fehlte noch die „Suche nach einem höheren Wesen“, die aufgrund der kategorialen Verschiedenheit einzeln genannt werden muß. Ahmad fügt folgerichtig einen längeren Exkurs über koranische Theologie ein, der an dieser Stelle ausgeklammert werden soll.

Die dritte Stufe der Besserung betrifft die geistigen Zustände, deren Quelle die „beruhigte Seele“ ist, „die den Menschen von der Stufe des Moralischen zur Stufe des Gottnahen leitet“ (139). Diese „völlige Harmonie mit seinem Schöpfer“, in dem man Ruhe, Glück und Trost finde, sei das „Paradies auf Erden“. Ahmad wendet sich damit gegen die jenseitsparadiesische Teleologie der meisten seiner muslimischen Glaubensgenossen. Der Weg dahin ist recht einfach: Gebet, Unterwerfung (Islam) und geistige Verbindung mit Gott. Das vortrefflichste Gebet ist al-Fatiha, die erste Sure des Korans, Unterwerfung bedeutet „das sich Niederwerfen seiner sämtlichen Fähigkeiten vor Gott“ (145), die Verbindung wird durch den Willen hergestellt, „für die Sache Gottes tausendfachen Kummer auf sich zu nehmen und sich mit solch absoluter Hingabe und Aufrichtigkeit ihm hinzuwenden, als ob alle außer ihm tot wären“ (147), es ist die „Opferung des Selbst auf dem Pfade Gottes“ (150), „die vorbehaltlose Fügung unter den Willen Gottes“. (162)

Von diesem Fundament aus – aus der triebgeleiteten, gewissensbeladenen und Ruhe suchenden Existenz heraus die Unterteilung der menschlichen Zustände in physische (natürliche), moralische (psychische) und geistige (spirituelle) abzuleiten und jeweilige Wege der Besserung in Beachtung der Primärvorschriften (Essen, Trinken, Heiraten usw.), Unterlassung des Bösen (Keuschheit, Ehrlichkeit, Friedfertigkeit, Höflichkeit)  und Vollbringung des Guten (Nachsicht, Güte, Mut, Wahrheitsliebe, Standhaftigkeit, Mitleid, Suche nach höherem Wesen), sowie dem Gebet, der Unterwerfung unter und der geistigen Verbindung mit Gott – von dieser Grundlage aus, will Ahmad nun im Schnelldurchlauf die restlichen vier Fragen beantworten.

Erstens: Was ist der Zustand des Menschen nach dem Tod? Er ist kein „völlig neuer“, es gibt also eine Kontinuität zwischen Leben und Tod, er ist „eine vollkommene Wahrnehmung und ein klares Abbild der Zustände im irdischen Leben.“ (169) Spätestens hier wird die starke Influenz durch den Hinduismus bzw. Buddhismus deutlich, was für einen Inder nicht überraschen kann. Die Parallelen zur theravada-buddhistischen Trieb- bzw. Tendenzlehre sind offenkundig, freilich um das Element der Reinkarnation verkürzt.

Auch aus einer anderen Perspektive sind diese Ausführungen höchst interessant: sie distanzieren sich vom in muslimischen Kreisen weit verbreiteten Buchstabenglauben! „Wer das Paradies als einen Ort ansieht, wo die irdischen Dinge in großer Menge zu bekommen wären, der hat kein einziges Wort des Heiligen Qur’ans verstanden.“ (170) Die „geistigen Früchte“, die man auf Erden genossen habe, die werde man gleichartig auch im Jenseits genießen und das Leben nach dem Tode stelle kein neues Leben dar, „sondern nur ein Abbild und eine Wahrnehmung des gegenwärtigen Lebens“ (174).

Damit wird – und das muß man ganz deutlich hervorheben – die eschatologische Wucht des Mainstream-Islams, die eine wesentliche Triebkraft des politischen Islams, des Islamismus darstellt, deutlich abgebremst: Der Gläubige kann sich weder direkt in ein vollkommen anderes Paradies katapultieren, sondern wird dort nur die Verlängerung seiner Taten vorfinden – keine guten Aussichten für Selbstmordattentäter o.ä. –, noch spielt der Djihad, insbesondere der kleine oder äußere Djihad, der Kampf gegen Ungläubige, überhaupt eine wesentliche Rolle. Daher nimmt die andernorts so eminent wichtige „Hölle“ bei Ahmad kaum eine tragende Funktion ein und wo doch, dort wird sie ebenfalls metaphorisch verstanden. Tatsächlich unternimmt der Autor sogar gewisse Anstrengungen, relativ eindeutige Koranverse – „Ergreifet ihn und fesselt ihn und werft ihn in die Hölle. Dann stoßt ihn in eine Kette, deren Länge siebzig Ellen ist (69.31)“ (185) – in abstrakte Symbolik umzuwandeln. Einem Mujahed muß es grauen, wenn er liest: „Gott der Allmächtige fügt dem Menschen von sich aus kein Unglück zu, sondern Er legt einfach dem Menschen seine eigenen schlechten Taten vor.“ (186)

Ahmad läßt nicht die Spur eines Zweifels: „Zusammenfassend können wir feststellen, dem Heiligen Qur’an gemäß sind beide, Himmel und Hölle, das Abbild und die Manifestation des menschlichen Lebens auf Erden. Sie stellen nichts Materielles dar, was von außen her käme. Sie werden zwar sichtbar erscheinen, sind aber in der Tat die Verkörperungen und Zurückstrahlung unserer geistigen Zustände in dieser Welt. Wir glauben an kein materielles Paradies, wo Bäume wie hier auf Erden gepflanzt werden, noch an eine Hölle, die wirklich Schwefel usw. ausströmt. Nach der islamischen Glaubenslehre sind Himmel und Hölle vielmehr Abbilder unserer Taten.“ (190f.) Die Frage der Legitimität solcher Interpretationen ist freilich aufschlußreich: die Privatoffenbarung – „Ich habe persönliche Bekanntschaft mit diesen Dingen …“ (180)

Zweitens: Was ist der Sinn menschlichen Lebens? Wir wissen es bereits: „Der wahre Sinn des menschlichen Lebens liegt … allein in der Verehrung Gottes und in Seiner wahren Erkenntnis und in der vollkommenen Ergebenheit in Seinen Willen. Eines ist klar: Der Mensch hat keine Befugnis, den Zweck seines Lebens selbst zu bestimmen.“ (195) Erkenntnis Gottes, „Wissen um die vollkommene Schönheit des göttlichen Wesens“, „Belehrung über die Güte Gottes“, Gebet, Aufopferung seines Lebens für die Sache Gottes, Standhaftigkeit, die Suche nach „der Gesellschaft der Rechtschaffenen und die Nachahmung ihres guten Beispiels“ und das aufmerksame Beobachten der „Traumgesichter, Visionen und Offenbarungen“ (197-205) sind die acht Mittel, fast hätte man sagen können: die acht Pfade, das Ziel zu erreichen.

Drittens: Die Wirkung des Göttlichen auf das menschliche Leben im Hier und Dann. Es ist exakt dieser Aufstieg vom primitiven Zustand zum wahren „Menschsein“, von der Physis über die Moral zur Gotteserkenntnis. „Die Forderungen des vollkommenen, göttlichen Gesetzes wirken auf das praktische Leben des Menschen solchermaßen, daß er durch die Befolgung des Gesetzes allmählich die Rechte der Mitmenschen erkennt und mit ihnen mit Gerechtigkeit, Güte und Erbarmen umgeht, wann und wo dies angebracht ist.“ (209) Gäbe es die letzte Ergänzung nicht, die allerdings, wie wir gleich sehen werden, fundamental ist, könnte man das wohl für ein christliches Programm halten.

Viertens: Was sind die Quellen der Gotteserkenntnis? Für einen Muslim ist das natürlich der Koran. Aber schon Mohammed war bewußt, daß diese Zirkularität ins Paradoxe führen muß. Deshalb ermahnt er immer wieder, die Lehren zu prüfen. Ahmad unterscheidet „drei Grade des Wissens“: „die Gewißheit durch Folgerung, Gewißheit durch Sehen und Gewißheit durch Erleben“ (223) Das erste meint den Kausalnexus – wo Rauch ist, müsse auch Feuer sein –, das zweite die direkte Ansicht der Flammen und das dritte das Erleben der Wärme.

Dem Autor muß bewußt gewesen sein, daß seine Abhandlung noch mindestens zwei Probleme enthält: Die Frage der Legitimation und der Abgleich mit der Realität des Heiligen Textes. Da seine Argumentation auf extrinsische Relativierungen verzichtet und die Wahrheit eines Textes aus dem Text selber ableiten will, ohne ihn in den narrativen Kontext einzuordnen, schwebt seine Darlegung im freien Raum, fehlt ihr das Maß und bedarf einer Verankerung. Diese ist der Autor selbst!

Er gibt sich „als Empfänger göttlicher Offenbarungen“ zu erkennen, den „die Gnade Gottes zu dieser Höhe emporgehoben hat“ (236). Aus der Attitüde des Religionsgründers heraus kann er dann sagen: „Ich versichere meinen Zuhörern, daß der Gott, Dessen Begegnung das Heil und die ewige Glückseligkeit für den Menschen bedeutet, niemals zu erreichen ist ohne den Heiligen Qur’an zu befolgen.“ Und: „Ich versichere allen Suchenden, daß nur der Islam es ist, der die frohe Botschaft (sic!) von diesem Weg verkündet. Bei allen anderen Bekenntnissen ist der Weg der göttlichen Offenbarungen seit langem versperrt.“ (237) Ahmads Berufung auf die Vernunft gilt also nur innerhalb des engen Zirkels des Glaubens, eines ganz konkreten Glaubens.

Wer den Koran kennt, weiß um seine Dualität: er spricht ausgiebig von Barmherzigkeit und das nicht selten unmittelbar nachdem die unbarmherzigsten Urteile besonders „Ungläubigen“ gegenüber abgegeben wurden. Bislang bezog sich Ahmad ausschließlich auf erhebende Passagen. Auch das Leben des Propheten ist bekanntlich in zwei scheinbar gegensätzliche Phasen geteilt: die mekkanische und die medinische Periode. Die erste ist durch eine gewisse Poesie und Friedfertigkeit, die zweite jedoch durch unübersehbare Gewalttätigkeit geprägt. In islamkritischen Kreisen führt man das oft auf eine Charakterschwäche zurück: Solange Mohammed schwach und erfolglos war, versuchte er sich diplomatisch und friedfertig zu geben, im Moment seiner Macht offenbarte er dagegen seine tyrannische Veranlagung.

Ahmad kann in dieser Frage nicht die traditionelle islamische Interpretation überwinden und verweist auf die Gewaltbereitschaft von Mohammeds Gegnern. Die Differenz zur Jesus-Gestalt wird hier deutlich wie nirgendwo: „Hätte der Islam sich nicht bei den gegebenen Verhältnissen gegen die Gewalttätigkeit der Bedränger verteidigt, so hätte dies zum Gemetzel von Tausenden von Unschuldigen – Kindern und Frauen – geführt, und der Islam wäre im Keime erstickt worden.“ (248) Gemetzel von Kindern und Frauen wurde deswegen nicht verhindert, nur waren es dann keine „unschuldigen“ mehr – auch Ahmad kommt aus der Dichotomie von Gläubigen/Ungläubigen = Unschuldige/Schuldige, wie sie im Koran vorgegeben ist, nicht heraus. „Unsere Gegner unterliegen einem schweren Irrtum, wenn sie meinen, daß ein von Gott offenbartes Gesetz uns auf keinen Fall erlauben soll, dem Bösen zu widerstehen, und daß göttliche Liebe und Barmherzigkeit nur durch Sanftmut und Milde ausgedrückt werden können.“ (248)

Was soll man aus kritischer Sicht davon halten?

Die Ahmadiyya Muslim Jamaat legen bis heute großen Wert darauf, als wahrhaft friedlicher Islam aufzutreten. Extremismen sind ihnen fremd, sie vertreten einen Weg der Mitte. Der Friedensgedanke solle nicht nur ausgesprochen, er müsse auch in den Schriften niedergelegt werden. Der Koran und die Hadithe – wie das Alte Testament – bieten ein Sammelsurium von sehr gegensätzlichen Aussagen und offerieren damit ein Arsenal an Argumenten in beide Richtungen. Ahmads philosophische Herleitung macht eine aggressive Auslegung deutlich schwieriger. An der Überlegenheit des Islam läßt auch er keinen Zweifel und die Gewißheit, die einzig wahre Religion zu vertreten, die in absehbarer Zeit alternativlos die Welt umspannen soll, wird auf ewig ein potentielles Pulverfaß bleiben.

Objektiv betrachtet, verstoßen manche seiner Argumentationen gegen die Gesetze der Logik – auch das dürfte eine inhärente Schwäche bleiben.

Auch ist in der spirituellen Konsequenz nicht leicht zu sehen, was die Ahmadiyya-Auslegung leisten soll, was Buddhismus, christliche Mystik oder auch die glaubensunabhängige Stoa nicht schon geleistet hätten.

Für gläubige Sunni- und Schia-Muslime wird diese Schule wohl dauerhaft Tabu bleiben. Zum einen ist die Selbstdeklarierung zum Mahdi ein extremes Sakrileg, zum anderen dürfte die metaphorische, gleichnishafte Auslegung zahlreicher Passagen den meisten Muslimen suspekt sein, so sehr, daß man es nahezu verstehen kann, wenn die Ahmadiyya meistens gar nicht als Muslime akzeptiert werden und theologisch als Häretiker gelten.

Letztlich stellt dieses Buch eine koranisch motivierte Moralphilosophie dar. Wenn man sie mit den bedeutenden zeitgenössischen Ethiken eines Eduard von Hartmann, Husserl, den Neukantianern, John Stuart Mill etc. gegenüberstellt, die selbst oft schon Verfallserscheinungen waren, dann wird der simplizistische Charakter überdeutlich und daran ändert auch nichts, wenn Ahmad von den Ahmadiyya als Jahrhundertdenker und Philosoph gefeiert wird. Das liegt an der geschlossenen Lektüre des Heiligen Buches und an der Absenz einer kontinuierlichen philosophisch-theologischen Tradition. Wenn das stimmt, dann taugt Ahmads Philosophie immerhin dazu, eine solche Tradition anzuregen.

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Repräsentieren die Ahmadiyya die Muslime?

Deutschlandweit für Aufregung sorgten die Aussagen der Rundfunkrätin Khola Maryam Hübsch in der Sendung „Hart aber Fair“ vom 29.4.24. Sie trat dort als Vertreterin der muslimischen Gemeinden auf und sprach zu den Forderungen nach einem „Kalifat als Lösung“ für Deutschland. Diese Forderung wurde auf einer Hamburger Demonstration von ca. 1000 Muslimen erhoben und schreckte die deutsche Öffentlichkeit für einen Moment auf. Weiterlesen

Die Dummheit der Demokratie

Imre Kertész – Denkanstoß

11. Januar 2004 Morgendämmerung. Vorgestern abend ist M. nach Budapest geflogen; ich habe sie ungern gehen lassen, sie fehlt mir. Die Abendmaschine war voller ärmlicher Araber, die in Budapest in irgendeine Nahost-Maschine umsteigen. Eine sonderbare Art armer Familien, mit Frauen, großköpfigen, aggressiv brüllenden Kindern; anstatt mit ihnen Mitleid zu haben, assoziiere ich Bomben und Terror. Europa wird bald zugrunde gehen an seinem einseitigen Liberalismus, der sich als naiv und selbstmörderisch erwiesen hat. Europa hat Hitler hervorgebracht, und nach Hitler waren keine Argumente mehr geblieben: Dem Islam taten sich alle Tore auf, man wagte nicht mehr, über Rassen und Religion zu sprechen, während der Islam fremden Rassen und Religionen gegenüber keine andere Sprache kennt als die Sprache des Hasses. – Weiterlesen

Versuch, Links und Rechts zu erklären

Der wahre Linke ist der permanent von sich Abwesende, der aus sich selbst Ausgesiedelte, der von sich Absehende, dem die Sorgen der Unversorgten der Welt mehr bedeuten als die alten Leute im eigenen Viertel … Sich über die Zustände en gros und in der Ferne empören, um Mißstände in Reichweite und en detail ruhiger zu verkennen. Damit ist gesichert, nie etwas Konkretes tun zu müssen, nie etwas zu verantworten, nie an etwas Bestimmten schuld zu sein. Daß man summarisch gegen die Mißstände von überall ist, das genügt, um sich im richtigen Lager zu positionieren. (Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III)

Die (linke) Forschung sagt zum Thema Geschlecht: „Der grobe Draufblick ergibt eine Trennung in männlich und weiblich, aber je näher man an die verschiedenen Definitionen von Geschlecht heranzoomt, desto komplexer wird die Angelegenheit. Bei Säugetieren, auch beim Menschen, gibt es zwischen männlich und weiblich viele Übergangsformen.“ (Focus 2.2.2024)

Das beschreibt ziemlich genau meine – zugegeben grobe – These, daß man „links“ und „rechts“ bei aller Relativität und Fragwürdigkeit der Begriffe am Wirklichkeitszugang unterscheiden kann und das seit Anbeginn der Zeiten:

Also: noch einmal der Versuch, Links und Rechts zu erklären. Weiterlesen

Der neue Lenin?

Rezension: Moritz/Leidinger: Lenin: Die Biografie. Eine Neubewertung

Es gibt keinen Mangel an Lenin-Biographien. Behauptet man für seine, „die“ Biographie geschrieben und eine „Neubewertung“ getroffen zu haben, legt man die Latte sehr hoch. Daran muß man sich auch messen lassen. Weiterlesen

Sein und Stein

Steine liegen einfach so herum, könnte man meinen. Kinder würden vielleicht so auf die Frage nach dem Stein oder die nach dem Sein des Steins antworten. Oder auch nicht, denn sie haben noch die Fähigkeit, Dinge, Gegenstände und auch Steine in ihrer Phantasie zu beleben. Weiterlesen

Sloterdijk: Zeilen und Tage

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III. Notizen 2013-2016, Berlin: Suhrkamp, 2023. 598 S. 34 €

Man sollte jeder Rezension eines solchen Buches mißtrauen, die sich weniger als zwei Monate Lesezeit genommen hat. Denn diese fast 600 Seiten Notizen sind eine schwindelerregende Achterbahn, mit Höhen und Tiefen und vor allem mit permanenten Wendungen, sie verlangen das aufmerksame und langsame Lesen. Auf anderthalb Seiten etwa wird man durchgeschüttelt durch Gedanken zum Burkaverbot, über Schimmelpilze in Dudelsäcken, zur Entmaoisierung in China, Überlegungen zur Etymologie des Wortes „cimetiére“ bis hin zu einer Komödie von Racine … und so geht es ununterbrochen weiter. Weiterlesen

Das Wort des Königs

Als die allseits beliebte und seit 52 Jahren regierende dänische Regentin Margarete II. – sie war die zweite Frau in einer 1100-jährigen Thronfolge – zum Jahreswechsel ihren Rücktritt bekanntgab und dieser bereits zwei Wochen später erfolgen sollte, da war das kleine Dänemark für einen Moment im Schock. 14 Tage später wurde die Energie in ein großartiges Volksfest umgemünzt, ganz Kopenhagen war auf den Beinen, Margaretes letzten und Prinz Frederiks ersten Stunden beizuwohnen. Das Volk umarmte den neuen König und ließ ihn aus ganzem Herzen hochleben. Weiterlesen

Philosophie der Gender-Ideologie III

von: Nigromontanus

Gesamttext: Der philosophische Hintergrund der Gender Theorie-PDF

C. Von der Frau zur nonbinären Transperson

Auch auf der Suche nach den Ursprüngen feministischer Theorie stößt man zunächst auf Marx, bzw. auf seinen Mitstreiter Friedrich Engels. So lesen wir bereits in dessen Text „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ von 1884: „Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offne oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien als ihren Molekülen sich zusammensetzt. Der Mann muss heutzutage in der großen Mehrzahl der Fälle der Erwerber, der Ernährer der Familie sein, wenigstens in den besitzenden Klassen und das gibt ihm eine Herrscherstellung, die keiner juristischen Extrabevorrechtung bedarf. Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.“ Bereits im originalen Marxismus findet also die Übertragung des Klassenkampfschemas von Bürgertum gegen Proletariat auf das Verhältnis von Mann und Frau in der Familie statt. Weiterlesen

Philosophie der Gender-Ideologie II

von: Nigromontanus

B. Herrschaft und Wirklichkeit

Es gibt drei deutsche Denker, die für die französischen Nachkriegsintellektuellen, die die Postmoderne hervorbringen, von zentraler Bedeutung sind: Karl Marx, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche.

„Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie) Bereits mit Hegel (1770 – 1831) ereignet sich ein folgenschwerer Bruch in der abendländischen Philosophie. Weiterlesen

Philosophie der Gender-Ideologie

Den folgenden Text in drei Teilen fand ich im Internet und halte ihn für so bedeutsam, daß seine Verbreitung gefördert werden sollte. Mit Dank für die freundliche Genehmigung an den Autor :
©Nigromontanus

Strukturalismus und Poststrukturalismus

Woher kommt plötzlich die Rede von möglicherweise unzähligen Geschlechtern? Wieso sollen Texte mit Gender-Sternchen versehen, Mohren-Apotheken umbenannt und Diversitäts-Quoten an den Universitäten eingeführt werden? Wieso werden Männer, die Perücken aufsetzen und sich als bezaubernde Frauen bezeichnen, gefeiert, während die restlichen Männer eine toxische Maskulinität um sich herum verbreiten? Weiterlesen

Spinner mögen die Spinnenden heißen

Denkanstoß – Sloterdijk

13.11.2013: Wie gern erfüllt das Rektorat der HfG den angestellten Letzten Menschen ihren Wunsch: Sie möchten künftig auf dem E-Mail-Verteiler nicht mehr „Mitarbeiter“, sondern „Mitarbeitende“ heißen, vorgeblich geschlechtsneutral. Unter dem Vorwand der Korrektheit schleicht etwas Bösartiges sich ein. Wo Behörden sind, ist die Wehrlosigkeit gegen Verhaltensgifte am größten, weil alles auf den Sinn fürs Mitmachen zielt. Der Sprachsinn war ja schon verlorengegangen,  als „Studenten“ die „Studierenden“ genannt werden sollten, vor Jahren nahm das Unheil seinen Lauf. Der lateinische Name für junge Menschen, die ihre Nase mit Eifer, studium, in Bücher stecken, war mit einem Mal nicht mehr participium praesens neutrum genug. Man eifert noch, aber in die falsche, die sexistisch nervöse Richtung. Sei’s drum, die Spinner mögen ab jetzt die Spinnenden heißen. Weiterlesen

Alles Virtuelle ist irreal!

Diesen Satz muß man sich immer wieder vor Augen halten. Ich sage ihn hin und wieder im persönlichen Umfeld, aber heute hatte ich ein Erlebnis, das ihn mir mit aller Macht erneut ins Gedächtnis hämmerte.

Es begann mit einem normalen Windows-Update. Schon beim Neustart konnte man stutzig werden: er dauerte ungewöhnlich lang. Dann paßte mein Paßwort nicht mehr. Nach mehreren Neustarts ging es dann doch. Was mich begrüßte, war ein komplett leerer Bildschirm. Weiterlesen

Höcke der Leibhaftige

Am 11. April 2024 wird Fernsehgeschichte geschrieben werden. Zum ersten Mal wird es ein Mensch und Politiker wagen, auf offener Bühne, vor laufender Kamera und live mit dem Leibhaftigen zu sprechen.

Noch können Wetten angenommen werden, ob es zu diesem historischen Showdown überhaupt kommen wird – mein Geld liegt beim Rückzug kurz vor Ultimo. Weiterlesen

Einladung Lesekreis Fontane/Sloterdijk

Es gibt da einen kleinen Lesekreis im Netz, auf einer Plattform, die sich Discord nennt. Dort versammeln sich einige, meist wohl junge, aber tendenziell eher konservativ oder rechts Orientierte und lesen gemeinsam Bücher, die dann zur Diskussion gestellt werden. Weiterlesen

Mein Lieblingsfrühlingslied

Vor nun fast 20 Jahren weilte ich zwei Monate in Dänemark. Ich besuchte eine sogenannte Folkehøjskole, wollte Dänisch lernen und so viel als möglich über Land, Leute, Literatur. Der morgendliche fællessang war eine jener vollkommen unerwarteten Überraschungen, die starken Eindruck auf mich machte. Man traf sich jeden Morgen nach dem Frühstück und vor den Unterrichtsstunden in einem Versammlungssaal und sang gemeinsam drei, vier Lieder. Weiterlesen

Was ist deutsche Kultur?

Eine Annäherung

Es ist sehr schwer, das in Kürze zu erklären! Es ist sogar unmöglich. Erstens, weil die Menge der Kulturbestandteile die Auffassungsgabe eines jeden Menschen übersteigt und zweitens, weil es auch einen Gefühlsaspekt, ganz und gar subjektiv – aber von Millionen im statistischen Durchschnitt und in diversen Schnittflächen geteilt – gibt, der sich der Mitteilung entzieht. Weiterlesen