Die Maßlosigkeit im Leben der Gegenwart

Denkanstöße – Bollnow (1962)

Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, den Geist dieser Maßlosigkeit in unserer Gegenwart im einzelnen sichtbar zu machen. Die Maßlosigkeit schon unserer äußeren Lebensansprüche ist oft genug, wenn auch vergeblich angeprangert worden. Ob es nun der Fernsehapparat ist, das eigene Auto oder die Ferienreise nach Mallorca: in allem strebt der Mensch über seine vernünftigen Grenzen hinaus. Dabei wendet sich die Kritik nicht gegen die Bedürfnisse als solche, deren Erfüllung gewiß das menschliche Leben in einer schönen Weise zu bereichern vermag, sondern dagegen, daß diese Bedürfnisse den Menschen versklaven und daß er in der Ruhelosigkeit der immer erneuten Anstrengung gar nicht dazu kommt, das Gewonnene auch zu genießen. Kaum ist das eine Ziel erreicht, so treibt das neue Bedürfnis den Menschen zu neuer Anstrengung weiter. Darum ist es auch hier die Frage des rechten Maßes; denn das übersteigerte Verlangen nach Lebensgenuß untergräbt notwendig die Voraussetzungen des Lebensgenusses selbst und hebt sich also selber auf. Maßlosigkeit heißt hier Ruhelosigkeit und ewige Hast. Weiterlesen

Maß und Takt in der Erziehung

Denkanstöße – Herman Nohl

Schiller ist der erste gewesen, der diese polare Erfahrung formulierte: Leben und Form, Neigung und Gesetz, Hingabe an die freie Mannigfaltigkeit und Gestaltwillen – sie sind untrennbar voneinander und jede einseitige Entscheidung bedeutet eine Abstraktion. …

Das souveräne Wissen um die Polarität aller unserer Aufgaben, insbesondere aller pädagogischen Aufgaben und die Freiheit, die daraus entsteht, das ist das erste Geheimnis aller Bildung des Erziehers. Eine solche Grundantinomie unseres pädagogischen Lebens ist, daß wir uns selbst leben, jede Seele für sich, und zugleich den objektiven Werten und Gemeinschaften verbunden sind, daß wir unsere Gegenwart genießen wollen und doch zugleich für die Zukunft arbeiten, daß wir Gehorsam verlangen, zugleich aber zur Freiheit erziehen, daß wir die Vergangenheit tradieren und zugleich an einer neuen Welt bauen, daß wir in dieser Welt und ihren säkularen Aufgaben leben und doch immer um eine Transzendenz wissen, aus der uns die Ehrfurcht für unser ganzes Dasein kommt. …

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Denkanstöße – Sloterdijk VII

Wenn wir im folgenden von „Gesellschaft“ sprechen, bezeichnet der Ausdruck weder (wie im virulenten Nationalismus) einen monosphärischen Behälter, der eine abzählbare Population von Individuen und Familien unter einem politischen Wesensnamen oder einem konstitutiven Phantasma einschließt, noch (wie für manche Systemtheoretiker) einen unräumlichen Kommunikationsprozeß, der sich in Subsysteme „ausdifferenziert“.

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Denkanstöße – Sloterdijk VI

Einige willkürliche und ganz subjektiv ausgewählte Beispiele von Sloterdijks aphoristischer, oft ironischer Prägnanz aus seinem neuesten Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“. Selbstverständlich aus dem Kontext gerissen.

Götter sind Vagheiten, die durch Kult präzisiert werden.

Zu seinen (Jesu) Dichtern wurden die Evangelisten, die seine Geschichte vom Ende her erzählten. Sie zögerten nicht, ihren Lehrer, dessen Worte vor den fatalen Ereignissen nach seinem Einzug in Jerusalem bei ihnen nachhallten, sagen zu lassen, was er gesagt haben müßte, sollte seine irdische Erscheinung den Sinn haben, ohne den sie nur der Stoff zum Bericht eines Scheiterns wäre.

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Denkanstöße – Imre Kertész

11. Januar 2004 Morgendämmerung. Vorgestern abend ist M. nach Budapest geflogen; ich habe sie ungern gehen lassen, sie fehlt mir. Die Abendmaschine war voller ärmlicher Araber, die in Budapest in irgendeine Nahost-Maschine umsteigen. Eine sonderbare Art armer Familien, mit Frauen, großköpfigen, aggressiv brüllenden Kindern; anstatt mit ihnen Mitleid zu haben, assoziiere ich Bomben und Terror. Europa wird bald zugrunde gehen an seinem einseitigen Liberalismus, der sich als naiv und selbstmörderisch erwiesen hat. Europa hat Hitler hervorgebracht, und nach Hitler waren keine Argumente mehr geblieben: Dem Islam taten sich alle Tore auf, man wagte nicht mehr, über Rassen und Religion zu sprechen, während der Islam fremden Rassen und Religionen gegenüber keine andere Sprache kennt als die Sprache des Hasses. –

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Denkanstöße – Enzensberger

Die eklatanten inneren Widersprüche, die unserer Zivilisation auf den ersten Blick anzumerken sind, werden gemeinhin, und nicht immer zu Unrecht, als bedrohlich empfunden. Gleichzeitig garantieren sie aber die Freiheiten, die uns verblieben sind. Solange sie an den Tag treten können, ist es möglich, den Zustand der Gesellschaft zu verändern, ohne sie zu zerbrechen. Erst wenn sie gewaltsam zum Schweigen gebracht werden, wenn das Gemeinwesen seine Antagonismen verleugnet und sich als Monolith ausgibt, verschwindet die Möglichkeit der Revision. Die einzig in sich stimmige Welt ist die totalitäre.

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Denkanstöße – Sloterdijk V

… daß von der vielgerühmten Frankfurter Schule, die zu Adornos Lebzeiten und bis zur „Kritik der zynischen Vernunft“ auch meine Schule und mein wichtigstes Bezugssystem war, nicht viel mehr übriggeblieben ist als ein Klüngel zur Ausübung von Mentalitätsmacht und ein paar akademische Seilschaften. Es hat sich im konkreten Fall gezeigt, daß sich in diesem Verein kein konfliktfähiges Gegenüber mehr ausmachen läßt. Nach meiner Definition ist eine Theorie dann tot, wenn sie nur noch Selbstgespräche führen kann.

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Denkanstöße – Leserbrief

Letztlich sind Rassismus, Antisemitismus und Sexismus in erster Linie Wörter und damit Signifikanten (sprachliche Zeichen), die mit Signifikat (Bedeutung) und Referent (Entsprechung in der Wirklichkeit) ausgestattet sind. Während der Signifikant gemeinhin derselbe bleibt, unterliegt das Signifikat dem gesellschaftlichen Wandel, den man seit ein paar Jahrzehnten als „Diskurs“ bezeichnet. Weiterlesen

Denkanstöße – Sloterdijk IV

Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen. Sie ist mit der Geschichte des Protektionismus und der Externalisierung identisch. Die Protektion bezieht sich immer auf ein lokales Selbst, die Externalisierung auf eine anonyme Umwelt, für die niemand Verantwortung übernimmt. Diese Geschichte umspannt die Periode der Humanevolution, in der die Sorge des Eigenen nur mit der Niederlage des Fremden zu bezahlen waren. In ihr dominierten die heiligen Egoismen der Nationen und Unternehmen. Weil aber die „Weltgesellschaft“ den Limes erreicht und die Erde mitsamt ihren fragilen und atmosphärischen und biosphärischen Systemen ein für alle Mal als den begrenzten gemeinsamen Schauplatz menschlicher Operationen dargestellt hat, stößt die Praxis der Externalisierung auf eine absolute Grenze. Von da an wird ein Protektionismus des Ganzen zum Gebot der immunitären Vernunft. Die globale immunitäre Vernunft liegt um eine ganze Stufe höher als all das, was ihre Antizipationen im philosophischen Idealismus und im religiösen Monotheismus zu erreichen vermochten. Aus diesem Grund ist die Allgemeine Immunologie die legitime Nachfolgerin der Metaphysik und die reale Theorie der „Religionen“. Sie verlangt, über sämtliche bisherigen Unterscheidungen von Eigenem und Fremden hinauszugehen. Damit brechen die klassischen Unterscheidungen von Freund und Feind zusammen. Wer auf der Linie bisheriger Trennungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden weitermacht, produziert Immunverluste nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst.

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Denkanstöße – Sloterdijk III

„Das Konservative, der Rechte: Sie sind ein wenig bestätigt und haben noch nichts gewonnen. Aber sie könnten erklären, warum es immer so ist, daß im Notfall handlungsfähige Größen zu handeln beginnen – nicht also ,die Menschheit‘ oder das mit allen Menschen verschwisterte Ich.“ (Götz Kubitschek)

„Die Hoffnung auf ein Lernen am Schlimmsten in letzter Minute läßt sich nur noch schwer von der Verzweiflung an der Möglichkeit des Lernens überhaupt unterscheiden.“

Über die Risiken des katastrophendidaktischen Denkens:

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Denkanstöße – Sloterdijk II

Meine These ist: die Alternativen von heute sind die Kinder der Katastrophe. Was sie von älteren Protestierern unterscheidet und sie als erste Kandidaten für eine Kultur der Panik empfiehlt, ist die neuartige Stellung ihres Bewußtseins zur Realität von lokalen und globalen Katastrophen. Die heutigen Alternativen sind in geschichtlicher Perspektive die ersten, die ein nicht-hysterisches Verhältnis zur denkbaren Apokalypse entwickeln.

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Denkanstöße – Sloterdijk

Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Stil, mit der Welt unzufrieden zu sein, und eine selbstbewußt gewordene Unzufriedenheit mit der Welt trägt den Keim einer Kultur in sich. Ohne Zweifel zeigt die heutige Unzufriedenheit mit der Welt panische Züge. Wer nicht panisch ist, ist nicht auf dem laufenden – er lebt im Abseits von der Epoche, in irgendwelchen Höhlen der Ungleichzeitigkeit, verschont, sich schonend. Um sich von der Panik fernzuhalten, müßte man fähig sein, an einem kleinen Glück zu bauen und sich durch naheliegende Sorgen von den globalen Problemen ablenken zu lassen. Aber Immunität gegen Panik ist selten geworden: so selten wie authentische Weltfremdheit. Wer auf der Höhe der Zeit lebt, ist vom Schrecken kontaminiert.

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Denkanstöße – Bahro

Frage: Ich dachte an die Linke im engeren Sinne. Die hat doch den denunziatorischen Begriff des „vaterlandslosen Gesellen“ durchaus angenommen – bis heute, auch wenn man es vielleicht bestreiten würde. Man ist, natürlich, Europäer. „Deutschland halt´s Maul“ hieß eine Demo am 3. Oktober. Die nationale Frage war nie ein Thema für Linke.

Bahro: Da haben Sie recht. Ich habe das bei der 2. Sozialistischen Konferenz 1980/81 in Kassel erlebt, als jemand das Wort „nationale Frage“ in die Debatte einwarf. Da gab es einen Aufschrei. Ich saß im Präsidium und sagte zur Beruhigung, daß mich diese Erregung verwundere, wir seien doch wirklich alles Deutsche. Da war das Geschrei noch größer.

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