Orbáns Leseliste – Nationale Interessen

In seinem sehr lesenswerten großen Interview mit der “Budapester Zeitung” hatte Viktor Orbán auch einige Lesetipps verteilt, Bücher benannt, die ihn beeindruckt und beeinflußt haben. Der Zufall will es, daß ich die meisten davon im Hause habe. Es kann keine schlechte Idee sein, Orbáns Hinweis zu folgen, die Bücher zu lesen und vielleicht gelingt es uns dadurch sogar, seinem Denken, seiner politischen Grundüberzeugung näher zu kommen.
Heute: Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen

Dieses Buch wäre mir ohne Orbáns Hinweis komplett durch die Lappen gegangen. Politiker-Bücher lese ich seit Jahren nicht mehr freiwillig und von SPD-Politikern schon gar nicht. Dohnanyi ist ein sozialdemokratisches Urgestein, viele Jahrzehnte tief in bundesrepublikanische Politik auf höchster Ebene verstrickt, nun weit in seinen 90er Jahren … was kann da anderes kommen als eine Rechtfertigung? So das Vorurteil. Nach der Lektüre möchte ich dieses Buch adeln, anpreisen, loben, verschenken; es hat mich wie selten ein Politschmöcker gefesselt, es ist ein Exerzitium an Neu- und Andersdenken, eine Widerlegung fast aller geläufigen Narrative in Presse und Establishment, mit einer Klarheit und Weitsicht, die es neben BrzezińskisGrand Chessboard“ – das Orbán übrigens auch empfohlen hat, das ich aber nicht besprechen werde – bestehen läßt. Dohnanyi leidet nun unter Altersweisheit, sein spätes Buch könnte ein Beben verursachen – wenn man es denn ließe und läse.

Nationale Interessen | Klaus von Dohnanyi | Weltbild.de

Die Zeichen stehen schlecht. Das Gros der Kritiken in den großen Gazetten reicht von Ablehnung über Entsetzen bis hin zu wohlwollendem „Interesse“, es leidet zudem unter einem historischen Fehlgriff: die gesamte Argumentation um die „russische Frage“ basiert auf der Annahme, daß Rußland weder historisch noch aktuell ein Interesse an einem Krieg haben kann und daher ein Angriff auf die Ukraine sehr unwahrscheinlich sei – diese Worte wenige Wochen vor dem 24. Februar 2022 ausgesprochen geben der Kritik „Argumente“ an die Hand, es zu diskreditieren; wir werden sehen, daß Dohnanyi selbst in dieser Frage im höheren Sinn recht hat.

Schon die Ausgangsprämisse ist ein Hammer: „Deutschland und Europa sind heute in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik nicht souverän. Es sind die USA, die hier in Europa die Richtung vorgeben.“ Und daß man sich seine erste Überschrift anstreichen muß, sagt schon viel über unsere Zeit: „Der Nationalstaat bleibt das Fundament“. Nationen versteht Dohnanyi als Entitäten, die „auf ihrem langen historischen Weg unterschiedliche Mentalitäten“ und einen „ausgeprägten Charakter“ entwickelt haben, diese wiederum „beruhen immer auf Geographie und Geschichte“. Daraus ergibt sich auch der häufige historische Zugriff für seine Analysen und man kann hier schon verstehen, wie beunruhigend das Buch im Mainstream wirken muß. „Nur Nationalstaaten verfügen über die notwendige demokratische Legitimation zum nationalen und internationalen Handeln“, ihre legitimen Interessen lassen sich nicht über „den schwammigen Begriff der Wertegemeinschaft“ definieren.

Der Begriff der „Wertegemeinschaft“ ist nun aber einer, der von den USA vorgegeben, in NATO und EU aufgenommen wurde, mit dessen Hilfe jedoch die nationalen Interessen der Amerikaner durchgesetzt werden, die von den deutschen und europäischen durchaus verschieden sind. „Europa muß sich endlich eingestehen: Wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren nie wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitsprache.“

Nirgendwo wird das deutlicher als in der Beziehung zu Rußland. Deutschland und Europa haben genuines, d.h. historisches und geographisches Interesse an einer Kooperation mit Rußland. Die Amerikaner hingegen verfolgen bereits seit nahezu anderthalb Jahrhunderten eine Konfrontationspolitik mit Rußland, ihre Definition des „Evil Empires“ reicht derart lang zurück. Ähnlich liegen die Verhältnisse hinsichtlich Chinas.

Was aber sind unsere Interessen? Die Konfrontationspolitik der USA kann es nicht sein, denn sie gefährdet deutsche Interessen. Käme es zu einem Krieg zwischen den Supermächten, dann wäre Europa der wahrscheinliche Austragungsort, „dafür würden schon die USA sorgen“, fügt Dohnanyi süffisant an. „Wir wissen, daß wir in einem Krieg mit Rußland sogar als Sieger nur der Verlierer sein können!“

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer liegt im amerikanischen Politsystem versteckt. Zum einen verleitet der „exceptionalism“ zur falschen Selbstwahrnehmung und zum Wertetransfer mit allen Mitteln, zum anderen läßt das Wahlsystem mit seinen dauernden Pendelschwüngen kaum eine kontinuierliche Politik zu. Davon müssen wir uns befreien und lernen, unsere eigenen Interessen zu vertreten, uns nicht mehr von den moralischen Zwängen einer „Wertegemeinschaft“ oder „Freundschaft“ beeindrucken zu lassen – die Amis sind in dieser Hinsicht komplett emotionslos. Ihre Mittel sind bei Gegenwehr Krieg oder Sanktionen, beide schaden auch unseren Interessen und sind erschreckend ineffizient.

In den Vereinigten Staaten sieht Dohnanyi den „Hegemon Europas“, dem wir zwar die Vermeidung innereuropäischer Kriege zu verdanken hätten, dafür aber den hohen Preis der Unselbständigkeit und des Verlustes der Souveränität zu zahlen hatten. Das setzt sich in der NATO fort, die de facto auf der Verteidigungsstrategie der USA beruhe. „Wir werden nicht gefragt!“ Strategische amerikanische Atomwaffen auf europäischem Boden etwa sind zum Schutz Europas überflüssig, da ein Krieg hier nur mit konventionellen Waffen sinnvoll wäre, aus amerikanischer Sicht jedoch gilt das nicht, denn für deren Schutz leisten sie einiges.

Auch die von den USA vorangetriebene NATO-Osterweiterung stellt eine Gefahr und Interessenverletzung für die Europäer dar. Dohnanyi gab sich viel Mühe, die Gefahr eines russischen Angriffes kleinzureden, die historischen Tatsachen schienen ihn wenige Wochen nach Veröffentlichung des Buches widerlegt zu haben. Die Validität seiner Analyse kommt freilich durch die Hintertür wieder herein: „Nur solange Rußland selbst an einer Aggression nicht interessiert ist, ist Europa wirklich sicher. Eine entsprechende Haltung russischer Politik zu festigen oder herzustellen, bleibt vorrangige Aufgabe deutscher und europäischer Diplomatie. Entspannung ist der bleibende Auftrag!“ Die politische Geschichte der letzten Jahrzehnte bestätigt ihn. Der einst von George Baker an Gorbatschow mündlich versprochene Verzicht auf eine Osterweiterung wurde sukzessive aufgegeben und gipfelte im NATO-Versprechen an die Ukraine. Diese bezahlt als erste den Preis für die Osterweiterung, die Gefahr für Europa bleibt und wächst. Umso mehr gilt jetzt, was vor dem Krieg schon galt: „Europäische Diplomatie muß den Knoten lösen“. Finnland galt ihm als gutes Vergleichsbeispiel für die Ukraine, das ist nun obsolet, die Forderung bleibt.

In einem dritten Anlauf widmet sich der SPD-Grande der Europäischen Union. Ihm schwebt die Vision de Gaulles vor, das Konzept des „Vaterlandes der Vaterländer“, ein supranationales Gebilde lehnt er hingegen ab. In einem historischen Exkurs geht Dohnanyi den Anfängen der Politik des Zentralismus nach, an deren Ende heute von der Leyen und Vestager stehen. Hier, wie an anderen Stellen auch, gestattet er als Teilnehmer der politischen Verhandlungen tiefe Einblicke hinter die Kulissen – schon das allein macht das Buch Gold wert, auch wenn man sich weniger Diskretion gewünscht hätte.

Es gilt den Nationalstaat innerhalb der Union zu stärken und nicht einem Traum von „Vereinigten Staaten von Europa“ nachzuhängen. Gerade die Internationalisierung – so seine interessante Volte – verlange nach der Stärkung der Nation, denn der Weltmarkt, die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten verändern die innenpolitischen Bedingungen und bedürfen daher verstärkter nationaler Regelung, um „die wirtschaftliche und sozialpolitische Souveränität zurückzugewinnen.“ Die Weltmarktkräfte seien auch eine Gefahr für die Demokratie, denn sie gehen nicht vom Volk aus, sind nicht gewählt, bedürfen der nationalen Kontrolle. „Nur der einzelne Nationalstaat ist … in der Lage, die demokratische Feinsteuerung der oft schmerzhaften und unbeliebten sozialpolitischen Antworten auf die Folgen der Internationalisierung durchzusetzen.“ Vor allem Deutschland und Frankreich, als Säulen, seien gefordert. Dohnanyi schreibt der Ampel ins Stammbuch: „Wer Deutschlands ökonomische Entwicklung behindert, zerstört die EU“.

Der EU-Kommission hingegen hält er vor, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu behindern. Die Zahlen belegen: im internationalen Blockvergleich schneidet Europa am schlechtesten ab, wichtigster Grund dafür sei die verfehlte Politik der Europäischen Gemeinschaft. Sie denke nicht global und ersticke wirtschaftliche Initiative durch ihre „innereuropäische Wettbewerbspolitik“, stattdessen müsse man über den Binnenmarkt hinausdenken.

Innerhalb Europas spielt Deutschland eine besondere Rolle. Seine Interessen lassen sich weniger historisch herleiten, da der negative Gründungsmythos uns den Stolz verbietet, wir als einziges europäisches Land mit „inneren Zweifeln“ leben. Wir können unsere Substanz weniger aus der konkreten Vergangenheit, müssen sie mehr aus der abstrakten Historie und der realen Gegenwart holen, wobei der Verfassungspatriotismus zu kurz greift. Was uns Deutsche demnach ausmacht, das sind die „formale Rechtsstaatlichkeit“, ein „merkantilistisches Wirtschaftssystem“ und die „Tradition föderalistischer Strukturen“. Unsere deutsche Identität liegt in der Wirtschaftspolitik und im Sozialstaat, dessen Tradition auch über die Holocaust-Schranke zurückreicht.

Dohnanyi bleibt die Divergenz der Bewegungen nicht verborgen. Dem mächtigen Globalisierungsvorgang widersetzt sich eine zunehmende Rückbesinnung auf kleine, traditionale Räume auch innerhalb der Nationalstaaten. Ähnlich wie Sloterdijk präferiert er die kleinen Einheiten, die die Demokratie viel mehr stabilisieren als große europäische Institutionen. „Dezentralisierung – auch Subsidiarität genannt“ sollte das erklärte Ziel sein, wahre Vielfalt bedeute, die regionalen und nationalen Eigenheiten zu bewahren und zu nutzen, anstatt sie gleich zu machen.

Demzufolge kann Dohnanyi auch mehr Verständnis für Länder wie Ungarn und Polen aufbringen. Besser wäre es, sich mit deren Geschichte auseinanderzusetzen und selbst die Sprachen zu lernen, um ein besseres Verständnis zu erlangen. Statt zu sanktionieren und zu strafen, wäre es sinnvoller „den demokratischen Prozeß in Ungarn zu fördern und abzuwarten, bis das politische Klima sich ändert.“

prominente Buchvorstellung der ungarischen Übersetzung in Budapest: Gergely Gulyás, Kanzleramtsminister und Orbáns rechte Hand (Mitte)

Mag Viktor Orbán diese Zeilen als Kritik gelesen haben, der gesamte Gedankengang des Buches muß Balsam in seinen Ohren gewesen sein. Mir ging es bei der Lektüre wie ihm, ich schließe mich seinem Urteil an: „Es ist ein außerordentlich wertvolles Buch. Sobald es auf Ungarisch verfügbar war, habe ich es mir sofort besorgt. Ich habe es dann sogar zwei Mal gelesen. Einmal habe ich es regelrecht verschlungen, dann habe ich es mir noch einmal vorgenommen, um mir Notizen zu machen. Mich hat die Klarsicht fasziniert, mit der von Dohnanyi die internationalen Beziehungen betrachtet und analysiert.“

Ein eminent gehaltvolles und wichtiges Buch. Ich empfehle es nachdrücklich – auch meinen ungarischen Lesern!

Klaus von Dohnanyi:  Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Siedler . 238 Seiten. 22 Euro

siehe auch: Kritik der Woche (41): Nationale Interessen auf „Sezession im Netz“

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