Roger Scrutons Buch erschien vor 20 Jahren und ist als unmittelbare Reaktion auf den 11. September 2001 zu lesen. Wenn Viktor Orbán es in seine Allzeit-Leseliste aufnimmt, dann wird es wohl bleibenderen Wert für ihn beanspruchen. Warum, das wird schnell klar: Scruton will uns nicht den Islamismus erklären, sondern dessen Geburt aus dem Islam und den fundamentalen Unterschied zu dem, was wir die „westliche Demokratie“ nennen. Dabei versucht sich der konservative und sehr traditionell wirkende englische Philosoph in Objektivität, er vermeidet also die Parteinahme, will uns beide Konzepte in objektivem Ton vorstellen, ohne freilich das „Wir“ und „Die“, in das wir hineingeboren werden, zu negieren.
Zuerst will er klären, was westliche Zivilisation, die eine Tendenz zum inneren Ausgleich entwickelt zu haben scheint, überhaupt ist. Immerhin ist sie der Magnet und 70 % aller Migranten, die sie anzieht, sind Muslime, die deren Freiheit, persönliche Sicherheit und materiellen Wohlstand genießen wollen, mitunter aber auf eine Art und Weise, die die Grundlagen dieser Gesellschaft angreift. Das sind keine persönlichen Vorwürfe, das liegt in der diversen Sozialisierung begründet.
Religion schafft – wenn von einer Mehrheit geteilt – inneren Zusammenhalt. Aber auch Politik kann Zusammenhalt schaffen. Religion ist eine „statische Bedingung, Politik ein dynamischer Prozeß“. Die westliche Kultur – so stellt Scruton in seinem ersten Abschnitt, einem historischen, fest – wurzelt in der griechischen Weltanschauung und wurde durch zwei große Institutionen beeinflußt: das Römische Recht und das Christentum. Es kommt zur Idee der Gewaltenteilung – unmittelbar greifbar in der jesuanischen Forderung: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ –, zur Aufspaltung in religiöse und säkulare Autorität. „Freedom of conscience“ ist ohne säkulare Macht nicht denkbar. Diese wiederum wird legitimiert durch den Konsens jener, die ihr gehorchen müssen, also durch einen Gesellschaftsvertrag, welcher abermals durch Politik lebendig gehalten werden muß: „The difference between the West and the rest is that Western societies are governed by politics; the rest is ruled by power.“
Jede funktionierende Gesellschaft beruht auf „membership“, diese definiert Rechte, Pflichten und auch Opfer, sie stellt den Verbindungsfaden zu den Vor- und Nachfahren dar – die Frage ist, wie wird sie hergestellt? Wir sind sowohl rationale, soziale als auch religiöse Wesen; Sprache, Verwandtschaft, Religion, Lebensstil, Loyalität und Territorium sind sämtlich Voraussetzungen von Zusammengehörigkeit, aber die westliche Zivilisation überspannt all diese mit einem politischen Prozeß, der von den Rechten und Pflichten und deren allgemeiner Anerkennung getragen wird. Dieses allgemeine Politisch-Sein erlaubt es uns, individuell unpolitisch zu bleiben und die politische Arbeit zu delegieren. Diktaturen jeglicher Art funktionieren exakt umgekehrt: dort ist alles politisch, weil nichts politisch ist: „Where there is no political process everything that happens is of interest to those in power, since it poses a potential threat to them.“ – deshalb greift der Totalitarismus in alle Lebensbereiche ein, will sie kontrollieren.
Zwar war auch das Christentum eine „creed community“, doch mit einem wesentlichen Unterschied: es nahm das „imperial Government“ des Römischen Reiches in sich auf, womit Menschen zu Richtern wurden, letztlich eine „territorial jurisdiction“ entstand, das Recht wird territorial definiert, es ist das „law of the land“, nicht mehr über Sprach- oder Religionszugehörigkeit bedingt, es entstehen territoriale Loyalitäten.
Ein weiteres wichtiges Erbe ist die Vergebung als moralische Tugend, im Kreuzeszeichen symbolisiert. Scruton kondensiert daraus zwar ein Recht auf Verteidigung, Terrorismus aber widerspricht dem christlichen Gedanken, ganz unabhängig von realgeschichtlichen und historischen Ereignissen. Prinzipiell wurde damit der „violent core“ der menschlichen Gesellschaft entfernt, sogar ein sozialbiologischer Fakt domestiziert. Potentiell können in der westlichen Gesellschaft selbst die grundlegendsten Differenzen geregelt werden.
So hat sich Gott sukzessive aus dem Persönlichen herausgehalten, er verlangt nur noch grundsätzlichen Gehorsam in grundlegenden moralischen Geboten. Damit läßt er aber ein tiefsitzendes Identifikationsbedürfnis offen, dieses wird mit „nationaler Identität“ gefüllt. Dort, wo dieses Bedürfnis nach Mitgliedschaft nicht erfüllt wird, wächst die Gefahr von gewaltsamen Revolutionen – so geschehen etwa in der Französischen Revolution.
„The point I wish to emphasize is that the emergence of the modern Western state, in which jurisdiction is defined over territory, supported by secular conceptions of legitimacy, and associated with the rights and duties of citizenship, has also coincided with the emergence of a special kind of pre-political loyalty, which is that of the nation, conceived as a community of neighbours sharing language, customs, territory, and a common interest in defence.“ Aber nicht „of religion“ – so viel Toleranz muß sein und ist systemisch garantiert. Ihre Grundlage ist die nationale Identität, ihre wichtigste Bedingung die gemeinsame Sprache.
Der moderne westliche Staat ist eine Gesellschaft von Fremden, weniger durch gemeinsame Feinde als einen „sense of journeying side-by-side on the sea of fate“ zusammengehalten. Individuelle Interessen treffen ununterbrochen aufeinander, aber wir haben das akzeptiert, weil der Gesamtnutzen für alle größer ist. Anders die islamische Gesellschaft, die voller „stiff obligation“ ist und über allem liegt der „supreme mantle of a divine law, which must be obeyed not because of human choice but in spite of it“. Die moderne Demokratie ist eine Gesellschaft von sich fremden Menschen und erfolgreich ist sie ausdrücklich dann, wenn es ihr gelingt, diese in ein akzeptiertes Netz von Verpflichtungen einzuspinnen. Ihre entscheidenden Tugenden sind Gesetzestreue, Opfer in Kriegszeiten und Gemeinsinn in Friedenzeiten. Diese Gemeinsamkeiten sind historisch ererbt und müssen den kommenden Generationen vererbt werden. Es gibt eine historische Kontinuität. Dieses „Wir“-Gefühl ist an den Nationalstaat gebunden und würde durch supranationale Gebilde zwangsläufig geschwächt werden.
Auch die muslimische Gesellschaft hat ihre entsprechenden tragenden Tugenden – Scharia-Gehorsamkeit, Opferbereitschaft im Dschihad, Unterstützung der Bedürftigen in der Zakat –, doch sind diese Pflichten Gott geschuldet und nicht dem fremden, dem anderen Menschen, auch wenn sie diesem zugutekommen mögen.
Ziel und Streben des westlichen politischen Systems ist die Staatsbürgerschaft, diese hängt von der Loyalität ab. Nationalität ist das Beste, was der Westen anbieten kann. Aber Nationen entwickeln sich auch, müssen erneuert werden, insbesondere durch den Nachwuchs. Wenn dieser Nachwuchs aber zunehmend aus Minoritäten sich rekrutiert, schwinden Loyalität und Bereitschaft, Pflichten und Opfer zu erbringen. Die Bereitschaft, Rechte einzufordern, nimmt hingegen nicht ab, umso weniger, da Kritik an diesen Entwicklungen sanktioniert wird. Mehr noch, wenn man den anderen verdächtigt, seine Pflichten nicht zu erfüllen, nimmt die eigene Motivation, dies zu tun, ebenfalls ab, da man seine eigene Anstrengung als Geschenk an jene versteht, die sich nicht anstrengen. Es entsteht ein größeres Anspruchsdenken, immer mehr Menschen wollen mehr von der Gemeinschaft als sie zu geben bereit sind.
Haltgebende Institutionen sind – wie etwa die Familie oder die Religion – erodiert. Scheinbar springen Ideologien ein, wie etwa der Feminismus, dieser aber ist im Kern eine Bewegung gegen die politische Teilhabe und stattet uns stattdessen mit quasi-religiösen Ideologemen aus, indem er beansprucht, jede moralische und soziale Frage „feministisch“ zu beantworten, von der „feministischen Außenpolitik“ bis hin zu feministischer Ontologie und Theologie. Diese Ideologien sind gegen den Westen gerichtet, ihre Botschaft lautet: „down with us.“ So werden alte Loyalitäten zerstört und mit ihnen das Gefühl für Gemeinschaft. In Form poststrukturalistischer Philosophie werden diese Argumentationen gegen Kritik systematisch immunisiert.
Das Wesentliche zusammenfassend: die westliche Idee der Staatsbürgerschaft hängt von der territorialen Gerichtsbarkeit ab, die wiederum eine vor-politische Loyalität territorialer und nationaler Art voraussetzt. Im dritten Abschnitt seines Buches kontrastiert Scruton diese Basis mit dem Islam und untersucht, welche Folgen die globale Verbreitung dieser Ideen auf den Islam hat.
Schon historisch gesehen war der Islam selbst in seinen kulturellen Hochzeiten, wenig bereit, westliches, also antikes Denken zu inkorporieren, und dort, wo er es tat – in seinen besten Denkern – wird er heute kaum noch rezipiert … außer im Westen. Es stehen sich immer die letztgültige Berufung auf das göttliche Wort und der Gedanke der Verhandlung, des Kompromisses und der Kompetenzdelegation gegenüber. Das wurzelt bereits in der unterschiedlichen Herangehensweise der Religionsgründer.
Mohammed war kein religiöser Visionär, der unter einem imperialen Recht agierte, sondern ein politischer Führer. Der Koran macht keinen Unterschied zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Seine soziale Vision basiert auf der tribalen Ordnung, das in ihm entworfene Leben ist das eines Individuums in unmittelbarer Konfrontation mit seinem Gott. Daher scheint die Idee, daß man ein Amt zum Nutzen der Gemeinschaft ganz unabhängig von den Sünden und Tugenden dessen, der es ausfüllt, ausüben könne, also der spinozistische Gedanke, daß der Staat so eingerichtet sein müsse, daß er nicht von guten Männern, sondern von guten Institutionen getragen sein sollte – ganz unabhängig, wie tugendhaft die Angestellten sind –, als unsinnig: „the government of laws, not of men, even though it is men who make the laws.“
Der Gesellschaftsvision des Koran sind die Ideen der territorialen Rechtsbarkeit und der nationalen Loyalität fremd. Örtlichkeiten und Plätze sind im Islam zwar von enormer Bedeutung, aber nicht weil sie Quellen, sondern Objekte des Rechts sind.
Auch die Scharia bringt entscheidende Konsequenzen mit sich. Zum einen regiert sie nur Muslime, zum anderen ist das Leben, das sie beschreibt und regelt „profoundly domestic without any public or ceremonial character except in the matter of communal worship“. Dies überträgt sich bis in die Stadtarchitektur und Scruton sieht im Angriff auf das WTC eine Folgerichtigkeit.
Islam bietet eine starke Form der Mitgliedschaft an, Zeit und Raum transzendierend, kann der Gläubige Teil der Umma werden, die nur Gott untersteht. Er fungiert damit gerade in Zeiten der großen Verwirrung als starkes Ordnungssystem, das alle Bereiche des unmittelbaren Lebens organisiert, große Klarheit schafft. Es ist also kein Wunder, daß ein großer Teil der im Westen angekommenen Muslime ob der verstörenden Vielfalt und Versuchungen, der offenbaren Oberflächlichkeit und Sünden, Schutz im alten Glauben sucht. Ja, die Medresen leisten das, was die säkularisierte Schule nicht mehr leisten will oder kann: sie lehren Loyalität und einen „rite of passage“, der den anderen fehlt, sie leiten an zu Frömmigkeit, Rücksichtnahme, Respekt vor dem Alter, helfen beim Übergang ins Erwachsenenalter, geben dort Halt, wo westliche Erziehung den Zweifel und die Infragestellung lehrt. Dort wird eine gemeinsame Kultur und keine Hochkultur gelehrt.
Unter dem Brennglas der Globalisierung bündeln sich diese Probleme. Ihr widmet sich Scruton im letzten Abschnitt.
„Globalization does not mean merely the expansion of communications, contacts, and trade around the globe. It means the transfer of social, economic, political, and juridical power to global organizations, by which I mean organizations that are located in no particular sovereign jurisdiction, and governed by no particular territorial law.”
Diese Organisationen stellen eine große Bedrohung für die westliche Demokratie dar. Ihre Gefährlichkeit wächst mit der Globalisierung des Terrorismus, denn trotz des tribalistischen Denkens, bedient sich der Terror heute des westlichen Know Hows. Ohne Wall Street, ohne globale Finanz-, Medien-, Waffennetzwerke, ohne Reisefreiheit und Migration etc. gäbe es ihn nicht in dieser Form. Die Terroristen und Islamisten sind Produkte des Globalisierungsprozesses, an den 9/11-Attentätern kann man das gut zeigen. Die Globalisierung schafft den militanten Islamisten wieder die Gelegenheiten, den Westen anzugreifen, erstmals seit dem Rückzug der Ottomanen aus Europa. Die Globalisierung hat eine neue Umma geschaffen.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem westlichen Nationalstaat und der Umma ist die Tatsache, daß dieser als „corporate person“, als juristische Person auftritt, während ein muslimisches Äquivalent fehlt. Die nichtwestlichen Staaten seien impersonal, „machines in their rulers hand“. Diese Differenz weist historisch weit zurück ins Römische Recht, die Fiqh habe nichts dergleichen entwickelt. Personale Staaten haben eine innere Präferenz, Verhandlung dem Zwang und Frieden dem Krieg vorzuziehen. Konflikte mit nichtpersonalen Staaten sind daher stets Konflikte mit der jeweils stärksten Kraft innerhalb dieses Staates und Makulatur, wenn die Kräfteverhältnisse sich ändern. Scruton stellt das anhand der Palästinenser dar. Es ist auch gar nicht zu erwarten, daß ein palästinensischer Staat als juristische Person entstehen könnte, denn das würde eine territoriale Loyalität und eine partizipative Staatsbürgerlichkeit voraussetzen. Auch deshalb ist im Palästinenser-Konflikt keine Lösung in Sicht, weil zwei strukturell inkompatible Entitäten miteinander ringen.
Aus alldem zieht Scruton den Schluß, daß wir als Westen den Nationalstaat stärken und den Globalisierungsprozeß bremsen müssen. Auf den Prüfstand gehören insbesondere die Migrationspolitik, die Akzeptanz des Multikulturalismus als edukatives und politisches Ziel, die Verunglimpfung nationaler und politischer Kultur, von der wir abhängen, das Bekenntnis zum freien Handel, so wie ihn die Welthandelsorganisation sich vorstellt, die Akzeptanz multinationaler Konzerne als legale Rechtspersonen, unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Erodieren des säkularen Rechts und der territorialen Rechtsprechung sowie unsere Hingabe an Wohlstand und Konsum.
So entpuppt sich dieses schmale Buch, das sich scheinbar den neuen Formen des islamischen Terrorismus widmet, als Fundamentalkritik an den politisch-ökonomisch-ideologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Da diese Prozesse an Rasanz zugenommen und eines ihrer Zentren in Deutschland gefunden haben, ist es auch nach 20 Jahren noch aktuell.
Es ist leicht zu sehen, warum Viktor Orbán es auf seine Leseliste setzte. Hier kann er Begründungen für nahezu alle seine außenpolitischen und manche innenpolitischen Idiosynkrasien finden, von der aparten Migrationspolitik und der Einsicht, daß Multikulti nicht funktionieren kann, über die Distanz zur Europäischen Union in der jetzigen Gestalt oder gegen bestimmte NGOs, bis hin zur Kritik an der ideologischen Dominanz links-grüner Ideologien. Aber auch sein versuchtes nation building, seine Familien- und Bildungspolitik, etwa die Neueinführung der Tradition in den Kanon, die Stärkung des historischen Bewußtseins, finden hier Argumente, was nicht bedeutet, daß er diese auf wirklich intelligente Weise umsetzt. Daß Scrutons Buch mitunter notwendige Differenzierungen fehlen, dürfte dabei weniger relevant sein.
Wer dieses Buch heute liest – und das sollte man tun! –, kommt freilich nicht umhin, auch an Rußland zu denken.
Roger Scruton: The West and the Rest. Globalization and the Terrorist Threat. London/New York 2002. 187 Seiten
siehe auch: Orbáns Leseliste – Nationale Interessen