Die Unabsehbarkeit der Folgen unserer Handlungen

Ein durchgehendes Thema nahezu aller Romane Albert Wass‘ ist die Frage nach der Konsequenz menschlicher Entscheidungen, Ursache und Wirkung und die nach der Unverfügbarkeit der Geschichte. Wir wissen nicht, welche Folgen unsere Handlungen haben werden und aus den besten Vorsätzen können die schrecklichsten Ereignisse entstehen oder eben auch nicht. Im Großen wie im Kleinen.

In einem Buch hat er diesen Fragenkomplex konkret thematisiert – in den anderen spielt er eine subkutane Rolle – und das Problem auch formuliert. Der Roman „Elvész a nyom“ hat für den deutschen Leser den Vorteil, übersetzt worden zu sein und zudem auch noch gut.

Darin finden wir etwa folgende Sätze: „Es hing von einem einzigen Augenblick ab, von einer einzigen Entscheidung. Weil es aber so gekommen ist, glaubt keiner mehr, daß es auch anders hätte kommen können. Wie seltsam doch das Leben ist.“ Oder: „Sehen Sie, das ist auch das Gesetz von Ursache und Wirkung. Jedes Geschehen löst eine Wirkung aus: nicht nur in mir, sondern auch in anderen, die ich vielleicht überhaupt nicht kenne. Das sind sehr komplizierte Zusammenhänge.“

Ein solches Beispiel möchte ich nun geben – es gehört natürlich zu den ganz kleinen Verwicklungen im Leben. Eine seltsame Aneinanderreihung von angestoßenen Zufällen. Wo fange ich an? Vielleicht hier:

Eine ungarische Freundin schickt mir einen Videolink. Er führt zu einem Wissenswettbewerb bei einem ungarischen TV-Sender. Schüler lösen Aufgaben zur ungarischen Literaturgeschichte. Es gewinnt – deshalb sandte sie mir den Link – ein junger Abiturient aus jener Stadt, zu der wir ein enges Verhältnis haben, der junge Mann war einst ein Schüler von ihr. Sein Sieg erregt im Ort ein gewisses Aufsehen, man ist stolz auf ihn und das zu recht, denn die Fragen und Anforderungen waren enorm.

Die jungen Leute müssen sich vor einem Expertengremium bewähren. Den einen erkenne ich sofort wieder. Es ist ein Literaturwissenschaftler, der in einer Fernsehbiographie Albert Wass‘ den Experten gab, zwanzig Jahre jünger vielleicht, aber gut erkennbar.

Wenig später fahre ich wieder in diese Stadt, um dort einige Wochen zu verbringen und zu arbeiten. Der Zufall will es so: Gleich am ersten Tag gibt es im Nachbarort ein Dorffest, die Gruppe „P. Mobil“ hat sich angesagt. Die haben einen neuen Sänger – ich verfolge sie seit Jahren, sie sind in Ungarn Ikonen –, der hat eine interessante Stimme und überhaupt: sie sind Legende. Also überrede ich einen Freund, mit mir dahin zu radeln.

In der Menge auf dem Dorfplatz steht vor mir ein junger Mann. Ich erkenne in ihm jenen Jüngling, der vor wenigen Wochen den Wettbewerb gewonnen hatte. Kurz entschlossen spreche ich ihn an, gratuliere ihm zum Erfolg und frage, ob er nicht Interesse hätte, mit mir Deutsch zu sprechen, im Austausch, und natürlich über deutsche und ungarische Literatur.

Tatsächlich kommt es zum Kontakt, wir treffen uns zwei Mal und sprechen während eines Spazierganges am Flußufer je eine halbe Stunde in der Sprache des anderen.

Während der Wochen im Ungarn schaue ich mich nach Sekundärliteratur über Albert Wass um. Es gibt nicht viel, aber drei der wenigen Bücher, die ich mit nach Hause nehme, sind von jenem Literaturwissenschaftler. Es wird bald deutlich, daß er der wohl führende Wass-Experte ist, nicht nur seine schriftlichen Arbeiten, sondern auch die bei Youtube zu sehenden Vorträge zeugen davon. Schon in Siebenbürgen kam mir die Idee, ihn zu fragen, ob er nicht bei einem Wass-Projekt, an dem ich gerade arbeite, helfen wolle? Dort, im alten historischen Jagdhaus, in Galonya, wo die beiden bedeutendsten Werke Wass‘ spielen, befrage ich den Wirt, Schloßverwalter und Kemény-Enkel Géza nach dem Mann und auch er ermutigt mich, ihn zu kontaktieren.

Im Internet suche ich Kontaktdaten, schreibe an die angegebenen Mail-Adressen, doch meine Briefe kommen zurück, die Angaben sind nicht mehr aktuell. Wie also an den Mann herankommen? Mir fällt der Abiturient ein. Immerhin hatte er von dem Gelehrten den Preis überreicht bekommen. Also kontaktiere ich den jungen Mann, den Wettbewerbsgewinner, der sich anfangs etwas ziert, dann aber doch zu helfen versucht. Er schreibt den Fernsehsender an, bekommt eine Telefonnummer und ruft den Experten an.

All dies wäre nicht passiert, wenn er nicht diesen landesweiten Wettbewerb gewonnen hätte, nicht aus dieser kleinen Stadt stammen würde, man mir nicht den Link gesendet hätte, ich zu einem anderen Zeitpunkt nach Ungarn gereist wäre, das Konzert nicht stattgefunden hätte, ich nicht dorthin gegangen wäre, der junge Mann nicht zufälligerweise in der Menge vor mir gestanden und ich ihn nicht erkannt oder ihn angesprochen hätte, wenn er dann meinen „Überfall“ abgelehnt hätte und wir nicht in den Sprachaustausch gekommen wären oder er den Kontakt nicht hätte herstellen wollen, der auch nur angeregt wurde, weil der Wissenschaftler in jener TV-Übertragung sprach, die ich schon vor Jahren gesehen hatte, als ich mich zum ersten Mal über Albert Wass informieren wollte.

Das alles – und noch vieles mehr – mußte zustande kommen, um dieses Telefonat zu ermöglichen. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende und nimmt nun eine überraschende Wendung, denn wenn bisher alles auf einen glücklichen Ausgang – der Experte hilft mir bei meinem Projekt – hinauslief, so nimmt die Sache nun eine unerwartete Richtung. Man sollte das menschliche Element nie unterschätzen.

Die Aufgabe des Jünglings wäre es gewesen – um nichts anderes hatte ich ihn gebeten – mir eine gültige Mail-Adresse des Experten zu verschaffen. Nun schien aber der öffentliche Erfolg, das Erkanntwerden auf öffentlichem Platz, die Erwählung und die Aufgabe, plötzlich zwischen zwei Fachleuten vermitteln zu können, dem jungen Mann zu Kopfe gestiegen zu sein, denn anstatt den Kontakt herzustellen, begann er offenbar eine Fachdiskussion mit dem Experten über einen Autor, den er bekennendermaßen gar nicht kannte, nur dem Namen nach. Er schien meine Sache dabei schlecht vertreten zu haben, denn das Ergebnis war offenbar eine Ablehnung des Projektes durch den ungarischen Fachmann, und das, obwohl das Ziel die Wiederbekanntmachung Wass‘ in Deutschland war, wir eigentlich am gleichen Strang ziehen sollten. Es blieb nun sogar zu befürchten, daß er seine Macht, die er im wissenschaftlichen und politischen Betrieb in Ungarn, seine Verbindungen und Positionen aktiv gegen mein Projekt verwenden und dieses zum Scheitern bringen könnte. Die Arbeit eines ganzen Jahres wäre vernichtet gewesen.

Tatsächlich habe ich den letzten Teil etwas dramatisiert. Zum Kontakt mit dem Fachmann kam es nicht, er hat wohl auch seine (schwer nachvollziehbaren – wer kennt schon die Menschen?) Bedenken artikuliert, mein Vorhaben mußte also ohne ihn weitergehen, ich schrieb das Nachwort selbst.

Der Faden könnte noch viel weiter gesponnen werden. Es sollte aber lediglich ein beweisendes Beispiel der These Albert Wass‘ erbracht werden, daß auch kleine Ursachen große Wirkungen haben und daß wir die Folgen unseres Handelns – so edel die Gesinnung auch sein mag – nie abschätzen können, ja, sie können sich sogar ins Gegenteil der Intention verwandeln und tun das nach geheimen dialektischen Gesetzen in der Regel und in der Zeit auch.

3 Gedanken zu “Die Unabsehbarkeit der Folgen unserer Handlungen

  1. Pérégrinateur schreibt:

    Betrauern Sie nie die Kontingenz, die unsere Projekte oft scheitern lässt; immerhin sorgt sie manchmal dafür, dass andere wiederum zuweilen überraschend gelingen. Die Rolle des Zufalls beim wissenschaftlichen Fortschritt ist zum Beispiel nicht zu überschätzen. Und verhielten sich speziell alle Menschen so gesetzmäßig wie die Schafe, die den Leithammeln hinterherlaufen, dann gäbe es keinerlei neue Ideen.

    Jedenfalls sind aber keine „geheimen dialektischen Gesetze“ am Werke, der Ausdruck bemäntelt nur die Erwartung, dass etwas gesetzmäßig ablaufe, auch wenn man keinen konkreten Hinweis hat, dass und wie das geschehe. Gesetzmäßigkeit wird gerne geglaubt, weil sie Berechenbarkeit und Steuerbarkeit erwarten lässt, man muss dann nur irgendwelche passenden Hebel finden und drücken, etwa so wie die ängstlichen Gottgläubigen ihren animistischen Hebel (ohne viel Mühe) gefunden haben und deshalb ihrem Herrn schmeicheln, worauf der sie nach ihrer Erwartung begünstigen wird. Bleiben wir realistisch!

    As flies to wanton boys are we to the gods.
    They kill us for their sport.

    Dem ist nicht sicher zu entgehen. Und wenn die Gesellschaft uns auch meist vor den Gefahren der Natur schützt, so setzt sie uns gleichzeitig ihren eigenen Gefahren aus. Wie leicht kann doch zum Beispiel eine verrückte Weltuntergangssekte an das Steuerrad des Staatsschiffes gelangen.

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  2. Fuzzer schreibt:

    Der Weg wurde so gegangen, aber das heißt ja nicht automatisch, daß es keine Alternativen gab. Sicher gibt es Schaltstellen im Leben und im starken Fall – auch auf den ersten Blick paradoxerweise kaum Bemerkbare – die den Weg entscheidend bestimmen können. Aber das ist seltener als gedacht. Der spezifische vollendete Ablauf scheint dann nur der Charakteristische oder Einzigartige zu sein.

    Es gibt – viel öfter als die eine singuläre Behandlung eines exklusiven elusiven Problems – Robustheit, die eine Aufgabe mit anderen Mitteln lösen läßt. Bei entsprechenden Fähigkeiten und Wille auch und gerade in längeren Iterationen mit durchaus im Zweifelsfall sehr verschiedenen Strategien. Kennen Sie z.B. das [Kleine-Welt-Phänomen] (https://de.wikipedia.org/wiki/Kleine-Welt-Ph%C3%A4nomen)? Wer sagt, daß Sie den jungen Mann nicht vielleicht sogar noch im Nachhinein durch Finden einer anderen Personenkette hätten überschreiben können?

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    • Nicht, daß es keine Alternativen gegeben hat, ist hier entscheidend, sondern daß es zu viele gab, und zwar im Sinne der Zufälle oder Unwahrscheinlichkeiten. Im Grunde genommen ist hier das im Kleinen passiert, was Kreationisten sehr gern gegen die Evolution oder die naturwissenschaftliche Begründung der Existenz der Welt anführen: sie summieren die Reihe der exorbitanten Unwahrscheinlichkeiten zusammen und kommen zu einer rechnerischen Hyperzufälligkeit, die alle Modelle und allen Menschenverstand gegen sich hat.

      Tatsächlich haben wir auch über andere, auch einflußreiche Kanäle versucht, an den Mann heranzukommen – mit dem gleichen Mißerfolg. Er hatte sich nun mal gegen das Projekt gestellt, und zwar aus Puritanismus. Es sollte demnach keine neue Übersetzung geben können. Vielleicht spielt auch Eitelkeit eine Rolle. Als ich das Motiv endlich verstanden hatte, wurde mir die Gefahr bewußt, denn mit seinem auch politischen Einfluß und seinen Verbindungen hätte er Möglichkeiten gehabt, uns Steine in den Weg zu legen. So wurde aus dem Gedanken, die beste Referenzgröße freundschaftlich einzubinden, plötzlich ein Risiko.

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