Am Abend mancher Tage

In letzter Zeit ertappe ich mich immer öfter – spät in der Dunkelheit, wenn die Welt schläft und nur die Marder sich weit nach Mitternacht mit aufgeregten Schreien durch die Gassen jagen –, wie ich beim zweiten Glas des rubinroten „Primitivo“, der die Zunge ein wenig pelzig macht (leider scheinen die ungarischen Weine die melancholische Herbheit zu scheuen und also kommt er aus Puglia), im gelben Lichtkegel der Leselampe gedankenverloren im großartigen Grimm-Wörterbuch Magyar-Német blättere – es gibt nichts Vergleichbares auf dem deutschen Markt – und mit selbstvergessenem Lächeln wundersame ungarische Wörter kaue und leise vor mich hin spreche, um ihr Geheimnis zu erlauschen.

Wie jener Dichter Lázár, den Sándor Márai in seinen großartigen „Wandlungen einer Ehe“ unter vier Protagonisten zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt erkoren hatte.

Das Buch beschreibt aus drei verschiedenen Perspektiven zwei gescheiterte Ehen eines Budapester Bürgers; die mit seiner ersten, ihm in Stand und Bildung, Bürgerlichkeit und Kultiviertheit ebenbürtigen  Frau, von ihr selbst erzählt, dann auch jene mit der einstigen Haushaltshilfe, mit der er die Oberfläche seines Seins umsonst durchbrechen wollte, von ihm beschrieben, und schließlich die ernüchternde Reminiszenz der „anderen Frau“, die es von der transdanubischen Bauerntochter zur feinen Dame geschafft hat oder doch zu haben schien.

Diese überaus lebenssatte und weise Erzählkaskade, gespickt mit geglückten Aphorismen und Bonmots, aber auch mit tiefen Einsichten in das Wesen von Mann und Frau und dem vergeblichen Versuch diese in Übereinstimmung zu bringen, stellt freilich nur die Hülle dar, die den Verkaufserfolg zwar garantiert, denn sie befriedigt die Bedürfnisse der Gefühlsleser(innen), aber den geübten Leser nicht darüber hinwegtäuscht, daß Márai uns eine ganz andere Lehre erteilen, eine andere Geschichte erzählen will: den Untergang, das Ende!

Das Ende einer Welt. Das Ende der „alten Welt“, der „Welt von Gestern“, der bürgerlichen Welt, mehr noch, das Ende der letzten oder eigentlichen Kultur.

Vierfach – auch hier regiert die Vier – geht diese Welt unter. Der einzige Sohn des Paares, der die Stammlinie hätte fortsetzen sollen, stirbt im Kindesalter. Der große Krieg bringt das mondäne Budapest zum Einsturz und setzt die niederen Affekte der Menschen frei. Schließlich erscheint „die neue Herrschaft“ auf der Bühne: das Proletariat – es übernimmt durch sanfte (die zweite Ehe) und rohe (die Revolution) Gewalt die Macht. Vor allem aber scheut Márai nicht davor zurück, das innere Absterben zu beschreiben, die Dekadenz, die seelenlose Sucht nach Vollständigkeit, das leere Ritual.

Dabei ist das, was diese Klasse sich zu bewahren aufgetragen hatte, durch und durch bewahrenswert: Bildung, wirkliche Vielsprachigkeit, Höflichkeit, Stil, Manieren, „die schönen Bräuche, die Lebensformen“, die Heimat – die Kultur.

Alle vier Protagonisten kommen zu dem Schluß: „Das Ganze hat keinen Zweck, hat keinen Sinn.“ Noch weiter: „Es hat keinen Sinn, die Systeme zu verändern, solange die Menschen gleich bleiben.“

Und doch gewinnt es, das Alte und Beständige, die Klasse. Als alles in Schutt und Asche liegt, da geht allein der Bürger aufrecht und stolz. Alles hat er verloren, aber seine Haltung nicht. Und auch der Dichter Lázár, der das Schreiben längst als Obszönität empfindet und aufgegeben hat, der prophezeit: „Es kommt eine Welt, in der alle verdächtig sein werden, die schön sind. Und alle, die begabt sind. Und alle, die Charakter haben. Schönheit wird eine Beleidigung sein. Begabung eine Provokation. Charakter ein Attentat“, selbst der kann erhobenen Hauptes abtreten, denn er hat sich eine andere Heimstatt bewahrt: „Er glaubte nur noch an die ungarische Sprache, seine Heimat.“ „Er lief im Zimmer auf und ab und rief Wörter. Zum Beispiel: „Kard“ (Schwert) – ausgerechnet „Kard“, das sich so klassisch auf „Kart“ (Arm) reimt –, oder „Gyöngy“ (Perle), „Hattyú“ (Schwan), „Zsurló Borbolya“ (Schachtelhalm).

Ich nehme meinen Grimm und schlage nach und versinke in die Wunder der ungarischen Sprache, denn „“ ist das Pferd und „Zsurló“ der Pferdeschwanz und „Borbolya“ die Berberitze …

Ich gieße mein Glas voll und weiß: Es ist nicht zu halten …

„Und da begriff ich, daß das, was ich sah, ein Sterben war. Dieser Mensch hatte sein Leben darauf gesetzt, daß in der Welt die Intelligenz herrschte. Und dann mußte er feststellen, daß die Intelligenz machtlos ist.“

Da erlöst nur der „Primitivo“. Und die Wörter.

Es geht letztlich nur noch darum, in der Lage zu sein – wie Lázár –, wenn „all diese Bücherregale, die an allen vier Wänden bis zur Decke reichen und unter der Last durchhängen wie der Bauch einer trächtigen Eselin“, wenn all das zu einer „breiigen Büchermasse“ geworden ist, weil eine Bombe eingeschlagen hat oder die Plünderungen begannen oder man einfach genug davon hat, zu sagen, und zwar in aller Seelenruhe:

„Na endlich.“

3 Gedanken zu “Am Abend mancher Tage

  1. Alles gut und schön und vermutlich sogar richtig – aber wir sind nun mal Menschen und keine Planeten.

    Wenn schon, dann die Mikroperspektive: „Darum sorgt nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ (Matthäus 6.34)

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    • Péréginateur schreibt:

      Sie nennen eine Lebensregel, die ganz offenbar ohne Berufung auf numinose Hinterwelten auskommt, mit Schnittmuster für Ockham sozusagen. Nun, die allzu viel sehenden Hühner finden wohl auch mal ein Korn. In einem ganz bestimmten Buch des AT wird man übrigens sehr viel einfacher fündig.

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  2. Pérégrinateur schreibt:

    Der letzte Satz erinnert an die erste Äußerung des Mädchens am Ende von Bergmans Siebenten Siegel. Beherzter ist das weniger eskapistische „Ich gehorche, aber unter Protest“ des Knappen Jöns, des einzigen Realisten im Film. Man sollte immer etwas Mutwillen behalten, bis zuletzt. Jedes Leben ist am Ende eine Niederlage, jede Kultur geht irgendwann unter, irgendwann verglüht die Erde in der expandierenden Sonne. Na und.

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