Trampen in die Wahrheit

Kurz vor Nickelsdorf – jenem Ort, der im Herbst 2015 Weltgeschichte schrieb – müssen wir halten: Österreich verlangt eine Maut und clever ist es auch, in Ungarn noch einmal zu tanken.

Ein junges Mädchen kommt mit riesigem Rucksack auf uns zu und fragt, ob wir sie bis München mitnehmen könnten. Bis Linz ja, dann geht’s nach Norden. Sie stutzt einen Moment, aber dann sagt sie zu. Schnell im Auto ein wenig umsortiert und ab.

Ich beginne mit einem selbstironischen Klassiker, der natürlich unerkannt bleibt: „Und Sie, sind Studentin? In Budapest?“ Nein, sie komme gerade aus dem serbischen Grenzgebiet, wo sie in einem Flüchtlingslager geholfen habe … Ein Mal tief durchatmen …

Das Mädel ist 18, Abitur gerade in der Tasche und will im Frühjahr „was mit Recht“ studieren. Inzwischen aber war sie in der Flüchtlingshilfe aktiv. In Tutzing – nicht die leiseste Spur bayerischen Akzents in ihrer Sprache. Im Paradiesort am Starnberger See hatte sie in Schulen Vorträge über die Flüchtlingssituation gehalten und wollte nun, ein paar Tage vor Weihnachten, die Gelegenheit nutzen Fronterfahrung zu machen. Griechenland war zu weit, aber eine kleine Hilfsorganisation namens „Fresh Response“, die in Subotica agiert und legale und illegale Camps betreut, konnte vermitteln.

Sie berichtet von serbischen Polizeischikanen: man habe ihr 150 Euro Strafe abgenommen, weil sie sich nicht ordnungsgemäß angemeldet und die Polizei zudem hinters Licht geführt hatte. Die rief nämlich im vorgeblichen Hotel an, welches unsere Studentin als accomodation angegeben hatte. Mit so viel Cleverness hatte sie nicht gerechnet. Also mußte sie zahlen, wegen illegalen Aufenthalts. Das alles erzählt sie lachend; 150 Euro sind kein Geld, das merkt man.

Ihr Vater ist Informatiker und wählt „Grün“, beteiligt sich an einem Tauschring, die Mutter Lehrerin am Gymnasium. Kernfamilie, zwei Kinder, alles gut und sicher.

Aus dem Lager in Subotica berichtete sie folgendes: die meisten Menschen kämen aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesch. Trotzdem spricht man auf der Webseite viel von Syrien. Es sind fast nur Männer. Nahezu niemand dürfte Aussicht auf Asylanspruch haben. Vor allem die Afghanen kämen mit vollkommen falschen Vorstellungen. Von den Schleppern wurde ihnen gesagt, daß sie nach nur 10 Tagen in Deutschland mindestens das Doppelte verdienen würden, was man im Heimatland bekommen könne. Sie alle waren überrascht, daß es überhaupt Probleme bei der Einreise gibt.

Im Moment schlafen sie in Zelten, was bei Temperaturen um den Gefrierpunkt nicht einfach sei. Zwar seien sie ausreichend mit Nahrung versorgt, doch gebe es wenig Frisches. Langfristig müßte diese Ernährung zu Problemen führen. Die Bilder der Organisation scheinen das zu bestätigen: Pasta, Öl, Brot, Kartoffeln … deutlicher Kohlenhydratüberhang.

Ungarn läßt nur wenige Menschen am Tag durch. Es entstehen lange Warteschlangen. Manche versuchten es illegal. Aber die ungarische Polizei hetze Hunde auf die Menschen, die mit Bißwunden zurückkämen. Ob sie welche gesehen hätte? Nein. Einer sei von seiner Familie getrennt worden. Man saß schon im Zug, aber er trat zum Rauchen noch einmal auf den Bahnsteig. Dort wurde er von der Polizei festgehalten, die anderen fuhren ohne ihn weiter und er landete erneut in Subotica.

Die Menschen seien nett und gastfreundlich. Selbst von dem wenigen, das sie zu essen haben, geben sie gern ab. Am Lagerfeuer stünden die jungen Männer für die Helferinnen auf. Übergriffe kenne sie keine.

Ich frage die Schülerin über die Perspektiven dieser Menschen – was meint sie dazu? Ohne die Stimme zu wechseln, gesteht sie: die meisten werden keine Chance haben, schon allein, weil ihre Vorstellungen von Deutschland falsch sind. Es sind Wirtschaftsmigranten und es käme darauf an, ihnen im Heimatland klar zu machen, daß ihre Zukunft dort liege und nicht in Europa.

Wir sind ob dieser Einsicht überrascht. Aber das weitere Gespräch zeigt, daß die junge Frau sich noch keine Gedanken über die gesamtgesellschaftlichen Implikationen gemacht hat. Stattdessen kennt sie alle Schlagworte und Klischees aus dem Effeff: Die AfD will keine Homosexuellen, die Rechten seien frauenfeindlich, es sei doch nichts dabei, mal zu probieren, ob man schwul sei und darüber etwas in der Schule zu lernen, die Menschenrechte müßten verteidigt werden, man könne die Menschen doch nicht leiden lassen …

Sie sagt das alles ganz unemotional, entweder aus einer tiefen Gewißheit heraus oder aus Ignoranz. Ich erzähle ihr von meinen Erfahrungen, von Hussain,  Khaled und Muhannad, von der syrischen Diaspora, von den Eritreern und den Somaliern, von meinen Erwartungen und Hoffnungen. Da lauscht sie aufmerksam. Ja, auch in Tutzing sind die meisten wieder weg – es gibt dort keine bezahlbaren Wohnungen. Aber sie glaube nicht, daß die nun in fertige Sozialverbände, in Parallelgesellschaften verschwunden seien, sondern weiter fleißig lernen. Vielleicht.

Dann lege ich ihr Marx aus – den Namen hat sie schon mal gehört. Er sei an der Wurzel alles linken Denkens, sage ich, aber leider kennen die Linken ihn nicht mehr. Sie müßten sonst verstehen, daß sich die absolute Setzung eines Rechtes, und sei es „das Menschenrecht“ dialektisch auffressen muß. Umschlagen von Quantität in Qualität, Negation der Negation. Wer das Menschenrecht verabsolutiert und es universell lokal gelten  lassen will, schafft es ab, weil er die es voraussetzende Struktur damit zerstört. … Sie versucht zu folgen, wolle sich darüber informieren.

Aber bald fummelt sie auf dem Handy herum und das Gespräch verebbt, zehn Minuten vor dem letzten Rastplatz. Immerhin sagt sie, daß sie noch nie – weder in der Schule noch zu Hause – so intensiv und kontrovers über das Thema diskutiert hätte. Es wird ihre Meinung wohl nicht ändern, aber vielleicht, vielleicht, ist ein kleines Samenkörnchen Zweifel gesät worden. Vielleicht hat sie es aber im nächsten Auto auch schon wieder vergessen.

4 Gedanken zu “Trampen in die Wahrheit

  1. Sehr interessanter Bericht. 😉 Ähnliche Schlüsse ziehe ich auch: Zweifel säen, mehr kann man nicht erreichen. Nach meiner Erfahrung verpuffen solche und ähnliche Gespräche wegen der fehlenden breiten oder fundierten Wissens- und Lektürebasis und der daraus folgenden Diskussionsunfähigkeit (in Verbindung mit einem manichäischen linksgrünen Weltbild) weitgehend wirkungslos. Man findet ja einfach keinen Ansatzpunkt für eine Debatte, wenn nichts gelesen wurde, außer vielleicht Augstein und Lobo. Korrigierende und lückenfüllende Lebenserfahrungen kommen auch erst viel später ins Spiel. Argumente, Klassiker, egal – perlt alles ab wie Wassertropfen vom Lotusblatt, kennt man nicht, also macht man dicht – und das Bauchgefühl obsiegt. (War ja in meiner Jugend auch so.) Die Rollen für die Guten und Bösen sind eh längst verteilt. An einem festgefügten Weltbild, das meistens im kompletten Umfeld (Schule, Elternhaus, Freunde) vertreten wird, rüttelt man nicht so einfach. Das Mädchen war halt Ihnen gegenüber nur höflich, daher das Zugeständnis. Zu Hause wird sie vielleicht schon vergessen haben, dass sie da so einen „schrägen“ Typen getroffen hat.

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  2. Pérégrinateur schreibt:

    In meiner Gymnasialzeit gab es einen Gemeinschaftskundelehrer, der sich offenbar verpflichtet fühlte, bei allzu großem Konsens in der Klasse auch mit der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung aus Prinzip den advocatus diaboli zu geben; üblich war das eher nicht. Es waren politisiertere Zeiten, im Guten wie im Schlechten. Die politische Ausrichtung der Jugend war auch damals mehrheitlich ein Stimmungs-Konformismus zu einer Mode, aber immerhin nur zu einer generationellen Sondermode, das sorgte schon einmal für Kontroversen.

    Damals waren an meiner Schule noch schätzungsweise vier Fünftel der Lehrkräfte Männer, während heute dort wie wohl überall die Frauen das Regiment übernommen haben – der öffentliche Dienst mit der sonst wohl unerreichbaren Vereinbarkeit von Beruf und Familie lockt eben das mehrheitlich auch konformistischere Geschlecht an. Dies zu der Einheitsfront von Regierungen, etablierten politischen Parteien und der Großmedien hinzu genommen, wäre es ein Wunder, wenn die Jugend heute, statt nur in ihren wohlgesehenen Träumen gewiegt, von der Institution manchmal etwas rüder geschüttelt würde. Oder dass die Lehrer bei dem Thema wagen würden, auch nur einmal den advocatus diaboli zu spielen, einmal „Jehova“ sagen ist wohl schon zuviel.

    Wenn es die Jugend allein wäre, wäre es auch gar nicht so schlimm – „Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, / Es gibt zuletzt doch noch e‘ Wein.“ Eine an einer Universität tätige Freundin, mit der ich zum Thema schon heftige Diskussionen hatte – es kamen mechanisch Rassismus-, Antisemitismus- und Naziunterstellungen, der ganze Kokolores des binären Weltbildes eben; zum Glück war ich hier schon hinreichend als Widerspruchsgeist bekannt, so dass es von ihrer Seite nicht zum Beziehungsabbruch kam – meinte mir gegenüber, an ihrer Fakultät kenne sie niemanden, der Zweifel an der Richtigkeit der betriebenen Immigrationspolitik (sie sagte natürlich „Flüchtlingspolitik“) hege, „das sollte sich einer auch mal trauen!“ Ihre geisteswissenschaftliche Fakultät ist übrigens einschlägig zum Thema. Vor zwei Jahrzehnten, als ich noch näher dort ansässig war, kam ich zuweilen auch mit anderen neben ihr dort promovierenden Studenten zusammen und konnte trotz deren großen Interesses am Thema Islam eine zuweilen beiläufig-selbstverständlich geäußerte Verachtung der Religion ähnlich wie in Houellebecques „dümmster Religion“ bemerken, wegen des Litteralismus, der völligen Kritikaversion, einer bloß apologetischen „Islamwissenschaft“, der geistigen Entwicklungshemmung usw., selbst von ihr selbst. Ob solche Abschätzigkeit heute nicht mehr comme il faut ist oder nur bloß die Nutzabwendung für unser Land unter den allseits schmettenden Klängen der Menschheitsmoraltrompeten, kann ich nicht sagen.

    Wohl erst wenn der Packesel unten ausreichend bockt, kann es einen fundamentalen Politikwechsel geben, oben wird man willentlich nur Figuration treiben. Das setzt wohl viel Leiden voraus, denn allzuviele haben den moralischen Köder gefressen, und den wieder auszuwürgen fällt schwer. Wohin das dann kippt und welche Sündenböcke die der allzeit eigenen moralischen Makellosigkeit Bedürftigen dann wählen werden – wer weiß?

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  3. Kurt Droffe schreibt:

    „Immerhin sagt sie, daß sie noch nie – weder in der Schule noch zu Hause – so intensiv und kontrovers über das Thema diskutiert hätte.“
    Erste Reaktion: Meine Güte, das ist der eigentlich schlimme Satz in diesem Gespräch. Beim Nachdenken aber das Eingeständnis, daß ich persönlich auch noch nie kontrovers mit jemandem über das Thema diskutiert habe, soviel muß ich zugeben. Nun sind meine sozialen Kontakte gegenwärtig ohnehin recht eingeschränkt; zumindest im Freundes- und Familienkreis meiner Frau allerdings spreche ich meine AfD-Sympathie nicht offen an. Das sind, wie die Familie dieses Mädchens, überwiegend Menschen, für die es sozusagen aus Lifestyle- und Selbstbildgründen ausgeschlossen ist, AfD zu wählen (man ist ja weltoffen etc.), und die andererseits von den Problemen (noch) nicht im geringsten betroffen sind und vielleicht sogar nie betroffen sein werden. Sowas wie Köln wird wahrgenommen, aber, so mein Eindruck, nicht als etwas gesehen, was alle angeht – man ist da weit weg von. Wie gesagt, ich bin da noch zurückhaltend im Outing, ich spende und wähle..
    Daß man mit 18 mit einer rosa Brille durch die Welt geht, ist ja auch verständlich, und wenn dann noch etwas Abenteuer und Exotik dazukommt… Ein Bekannter erzählte mir, daß an der Schule seiner Tochter bei einer Testwahl Frau Merkel als Kanzlerin gewählt wurde, „wegen der Flüchtlinge“; diese jungen behüteten Leute haben wenig Ahnung von dem, was da auf uns, auf sie zukommt. Andere Schule, gleiche Stadt: Vor der Wahl laden die Schüler selbst alle größeren Parteien inkl. AfD (immerhin!) zur Vorstellung ihrer Programme und einer Diskussion ein; Antwort CDU und SPD: „Wenn die AfD kommt, kommen wir nicht“. Die Diskussion fiel dann halt aus. Natürlich kennen solche ein Schüler keine kontroverse Diskussion zu dem Thema…

    PS: Ich wußte gar nicht, daß Ungarn überhaupt noch Leute durch- bzw. reinläßt.

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