Goethe und Corona

Manfred Osten durchforstet nun schon seit Jahren das Werk Goethes nach Anknüpfungspunkten für die Jetztzeit. Am Beginn stand das Goethesche Zauberwort „alles veloziferisch“, mit dessen Hilfe er des Klassikers wenig bekannte Kritik der allgemeinen Akzeleration und seine „Entdeckung der Langsamkeit“ reaktualisiert hatte, dann wandte er Goethe an, um „Das geraubte Gedächtnis“ durch die digitale „Zerstörung der Erinnerungskultur“ offenzulegen, zuletzt diente der Meister dazu, moderne Glückstherapien zu begründen, und nun legte er einen Band über Goethes Aktualität in Pandemiezeiten vor, kundig, sachlich und pedantisch wie immer.

@ Wallstein-Verlag

Das Veloziferische, das zu Schnelle, das des Teufels ist, ist noch immer der Ausgangspunkt. Es wird mit der prophetischen Diagnose konfrontiert – aus einem Brief an Frau von Stein –, „daß die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter sein wird“. Die Seuche entpuppt sich damit als Parallelaktion, wenn nicht als Ergebnis des Veloziferischen. Die Menschen – das alles steht bei Goethe – sind durch „Erleichterungen“ geschwächt und anfällig, sie bedürfen des Immunitätstrainings, sind andererseits aber auch aus „einfacheren Tieren“ zusammengesetzt, leben also quasi-symbiotisch mit Viren. Sie müßten den „Weg zur immunitären Sicherung des Lebens wählen“, vor allem durch Übung, Versagen und intelligente Mäßigung, durch „Selbstverbesserung“, „Selbstdisziplinierung“ und das Besiegen der Angst, die ein wesentlicher Treiber der fatalen habituellen Immunschwäche und des Verlustes der Harmonie des modernen Menschen ist. Alles hochaktuell!

Aber Goethe ist nicht nur Therapeut, er hat als Diagnostiker auch die wesentlichen Symptome unserer Krankheit schon gesehen. Bei Osten ist er ebenso „der erste Ökologe“, wie der Warner vor dem Verlust der Muttersprache oder der Prophet des Medienzeitalters, der neuen Grenzenlosigkeit, des Klimawandels, ja sogar neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, der Inflationslogik und der „Schuldenakrobatik“. Und Osten hat Recht! Lest Goethe! – auch wenn seine Konklusionen mitunter etwas konstruiert wirken. Er führt im Grunde das Projekt Hans Christoph Binswangers („Geld und Magie“) fort und weitet es thematisch aus, wenn auch kursorischer, riskiert aber nicht den Wesensblick, wie ihn etwa Hans Leisegang („Goethes Denken“), die beiden Anthroposophen Lehrs („Mensch und Materie“) und Schad („Goethes Weltkultur“) oder Henri Bortoft  in seiner bahnbrechenden Studie „The Wholeness of Nature“ gewagt hatten (alle wärmstens empfohlen!); er führt die Beobachtungen an, nicht das Beobachten, das Gesehene, aber nicht Goethes einzigartiges Sehen. Daher scheint Sloterdijks Würdigung – er schrieb das Nachwort – Osten sei „der kundigste Bibliothekar des Goetheschen savoir vivre“ äußerst treffend.

Der Großdenker geht dann den weiteren, den abstrakteren Weg. Er spannt in seiner unnachahmlichen Art auf zehn dichten Seiten den weiten Bogen vom „therapeutischen Utopismus“ als hartnäckigste und letzte kritikresistente Utopieform über die Entdeckung des Begriffes der „Entfremdung“ bei Fichte und dessen katastrophalen Folgen zur Rückbesinnung auf stoische Motive einer „allgemeinen Asketologie“ – nicht erst seit Foucault, sondern eben bereits seit Goethe, der sogenannten „Goethe-Zeit“, in der ein vielfältiger „anthropologischer Pragmatismus“ herrscht –, bis hin zu den tragenden historischen Weltmetaphern (Welt als Buch, Schlachtfeld, Arena, Schule), denen Goethe die jetzt besonders evidente, aber bislang kaum bemerkte des „Hospitals“ zugefügt hatte. Es lohne sich daher, die „wenig besuchte Bibliothek“ der damaligen „Lebenskunstliteratur“ neu zu erschließen und Manfred Osten ist ihr „kundigster Bibliothekar“.

PS: … Und man kann sich gut vorstellen, daß er gerade die 143 Bände Goethe (Sophien-Ausgabe) durchblättert, um uns demnächst den Krieg in der Ukraine zu erklären.
Manfred Osten: Die Welt „ein großes Hospital“. Goethe und die Erziehung des Menschen zum „humanen Krankenwärter“. Wallstein Verlag. Göttingen 2021. 160 Seiten. 18 Euro
zuerst erschienen in „Sezession“ Heft 105

10 Gedanken zu “Goethe und Corona

  1. Michael B. schreibt:

    Goethes Ernaehrung, wirklich? Zu fettreich? Vielleicht hat er ja ‚low carb‘ oder ‚Keto‘ gemacht, voll auf der Hoehe der Zeit :-D. Neurowissenschaften vorweggenommen? Bitte…

    Ich denke, man sollte die Kirche einmal im Dorf lassen. Ich habe den Eindruck, hier soll ein omniszienter ‚alles schon da gewesen unter der Sonne‘ Superman aufgebaut werden. Ein Fehler vieler Richtungen von Konservatismus, auch bei Rechten oft zu beobachten (Juenger z.B. dann als Goetheaequivalent, aber natuerlich gibts mehr).
    Die Welt hat sich seit Goethe natuerlich wie immer weitergedreht und gerade tut sie das beschleunigt. Der Blick nach hinten genuegt ueberhaupt nicht. Der zur Seite auch nicht. Der nach innen ist allerdings hilfreich, sofern da noch eigene Persoenlichkeit und nicht nur noch Surrogate anderen Denkens existieren.

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      • Michael B. schreibt:

        Finden Sie den Widerspruch. Suchen Sie bei sich, nicht bei mir. Das ist gerade der Punkt.

        Ich bin schon ein Weilchen auf dem Weg nach draussen. Insofern Dank noch einmal, @seidwalk. Das war mein letztes posting hier und auch an anderen Stellen.

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          • Michael B. schreibt:

            Wohin?

            OK, das war etwas unscharf 🙂 Also noch:

            Aus bestimmten inhaltlichen Grossbereichen des Netzes, die letztlich unfruchtbar sind. Man dreht sich endlos im Kreis und realisiert irgendwann, dass a) die Zeit einfach weg ist und b) die eigenen Faehigkeiten durch diese Umgebung Verschlechterung erfahren.

            Seidwalk: Scharf ist das noch immer nicht.

            Überdruß kann ich gut nachvollziehen.

            Aber nun noch die Frage, die ja über fast allen Ihren Anmerkungen der letzten Wochen steht: Wo ist die Alternative? Nennen Sie uns die Seiten, an die man sich halten kann, wo es wirklich voran geht. Und sagen Sie uns ganz konkret, was zu tun und was zu lassen ist. Wie kann man seine Fähigkeiten verbessern, wo wird fruchtbar gearbeitet …?
            Weshalb auch ich zunehmend gereizt reagiert habe, ist der Eindruck, daß von Ihnen viel Kritik, viel Negatives kam, alles, was nicht geht, aber wenig Alternative. что делать?

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  2. Zorn Dieter schreibt:

    Hm, gerade wollte ich noch etwas zum Weinkonsum von Schiller schreiben, dann stockte mir die Feder. Mann, es ist Krieg! Und wir schreiben hier über die Ess- und Trinkgewohnheiten von Goethe und Schiller! Dekadent, oder? –

    Damit lassen sich dann vier Fronten der medialen „Kriegsberichterstattung“ ausmachen: Erstens die westliche Propagandafront. Sie steht nahezu geschlossen als Querfront über alle Weltanschauungen und Parteien. Zweitens, die russische Propagandafront. Sie steht … dito. Beiden ist gemein, dass sie alle faktischen und potentiellen Ereignisse in ihrem Sinn interpretiert.-

    Wenn ich heute im Hamburger Abendblatt eine Gegenüberstellung der „freiheitlichen Systeme“ des Westens gegen die „autokratischen“ von Russland und China lese, kommt mir das vor wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht. Gegeneinander gestellt werden Idealtypen von Gesellschafts – und Wirtschaftssystemen, die nichts, aber auch garnichts mit der Realität zu tun haben. Der Sieger steht natürlich fest. Deshalb die Bezeichnung „Systemmedien“.-

    Die Flucht vor der Realität scheint mir in unserer westlichen Gesellschaft inzwischen endemisch zu sein. Idealisierungen unserer Moral, unserer Wirtschaftsweise, unserer politischen Systeme, unseres Umgangs mit Krisen, …, sind vorherrschend. Wer jedoch die Augen vor der Wirklichkeit verschließt, kann die Zukunft nicht meistern.

    Drittens, gibt es einige wenige unabhängige Experten und Autoren, die eine objektive Bewertung der Vorgänge wagen. Sie kommen fast ausschließlich in wenigen Alternativen Medien zu Wort.-

    Und es gibt Blogs in denen gerade jetzt über Zeitloses diskutiert wird. –

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    • @ Zorn Dieter

      Betroffenheit ist eine knappe Ressource, sofern sie authentisch ist. Ihre Lagerstätte ist gewöhnlich schnell abgebaut, es fehlt uns schlicht und einfach das psychische Equipment ununterbrochen weiterzuschürfen. Wer das dennoch tut, der habitualisiert die Geste und das meist mit der Absicht die öffentliche Aufmerksamkeit zu bewirtschaften.

      Auf diesem Blog wurde unmittelbar auf das Kriegsereignis reagiert und alles andere nach hinten geschoben. Das ist kritisiert worden, so wie jetzt kritisiert wird, nicht mehr über den Krieg zu schreiben. Es gibt aus diesem Dilemma keinen Ausweg – man kann ihn nur gehen. Wer ihn nicht mag, gehe einen anderen.

      Goethe – als Signum – gehört zu unserem inneren Bestand, gehört zum Deutschsein, zum Europäersein, ja zum Weltbürgersein dazu. Wer meint, auf „ihn“ zugunsten einer aktuellen Dringlichkeit verzichten zu können, der versteht nicht die sinn- und identitätsstiftende Bedeutung kulturellen Erbes.

      Natürlich wird niemand bei einem Altvorderen nach unmittelbaren Antworten auf konkrete Probleme suchen. Wenn man seinen Blick aber weitet, dann findet man sehr wohl valide Antworten und Osten hat das am Beispiel Goethes und bezüglich Corona sehr überzeugend nachgewiesen. Antworten übrigens, die man sonst kaum irgendwo anders findet.

      Aber selbst wenn dem nicht so wäre, kann man mit sehr starken Gründen auch abseitige Themen weiterhin vollkommen seelenruhig besprechen. Es hat auch in den dunklen deutschen Jahren großartige denkerische und kulturelle Leistungen gegeben, in denen der Krieg oder das Regime nicht vorkam. Das hat man später zum Vorwurf gemacht. Aber wer? In welcher Gesellschaft bewegt man sich also, wenn man zu moralisieren beginnt, weil andere sich der Ausschließlichkeitslogik des Tatsächlichen verwehren?

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    • Nur am Rande: wann in der Historie wurden die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschlossen?

      „Die Wahrheit“ ist dem Menschen zwar zumutbar, aber deswegen ist sie noch lange nicht willkommen…nein, eben immer eine Zumutung.

      Die Wahrheit bleibt: der Mensch ist zum Beispiel ein Kriegführer. Westliche Tugendweiber, die meinen, es wäre jetzt anders, sind naiv, folgen Irrtümern, haben ein unrealistisches Menschenbild. Sie selbervführen ja Krieg – gegen das Patriarchat etwa.

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  3. Zorn Dieter schreibt:

    Es hätte mich sehr gewundert, wenn Goethe nicht auch zum Thema Krankheit etwas Kluges gesagt hätte. Er hatte ja ein pansophisches Verhältnis zur Welt. Alles hängt mit allem zusammen. Macrokosmos und Microkosmos sind zwei Seiten der Welt, die aus denselben Bestandteilen zusammengesetzt sind. Geist und Körper beeinflussen sich gegenseitig. Nur leider hat er nicht danach gelebt. Seine Ernährung war zu fettreich und zu viel. (Da war meine Großmutter besser mit ihrem Lieblingsspruch: „Lebe mäßig, aber regelmäßig“.) Nachzulesen in einem Buch, das ich als leidenschaftlicher Hobbykoch und Goethe Liebhaber, immer wieder mal mit Genuss lese: „Zu Gast bei Goethe“. Joachim Nagel bei HEYNE. Mit vielen Rezepten und vor allem Anekdoten aus seinem Leben als Gastgeber in Weimar. Wohl nur noch antiquarisch erhältlich.

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