Bohrer Jetzt!

Man muß sich auf seine Gewährsmänner verlassen können – dann klappt es auch mit der richtigen Lektüre. Und als der hoch geschätzte Norbert Bolz das neue Buch Karl Heinz Bohrers anpries, mußte nicht lange überlegt werden.

Eine Schatzkiste, um es vorweg zu nehmen, ein wirkliches Ereignis, ein beunruhigendes, wichtiges Buch.

Bohrer, bekannter Literaturwissenschaftler und ob seiner ungewöhnlichen Perspektiven so beliebt wie gefürchtet, ist auch in seiner Autobiographie ein Wanderer zwischen den Welten, der quer zu allem steht und daher ideal geeignet ist, die eigenen Meinungen und Überzeugungen zu hinterfragen. Wer aus dieser Lektüre nicht bereichert und verunsichert hervorgeht, ist entweder perfekt oder Idiot.

Allerdings: die intellektuelle Einstiegshürde ist hoch! Es schwirren einem – obwohl Bohrer viele Zeitgenossen anonymisiert – hunderte Namen vor dem Auge, die man bereits mit Inhalt füllen können sollte, um Bohrers originelle Gedankengänge nachvollziehen zu können. Er ist ein Intellektueller, der mitten im Leben und mitten im Stoff steht aber auch im aktuellen akademischen geisteswissenschaftlichen Betrieb. Und er bemüht sich noch nicht mal um Ordnung, sondern läßt seinen überbordenden Geist frei wandern. So kommt es, daß er von einem Gedanken zum anderen wandelt, hier tief nachbohrt, dort vielleicht nur oberflächlich streift und andeutet und kaum hat man sich versehen, ist er schon wieder in ganz anderen Zeiten oder Welten, Privates, ja Intimes, wechselt mit Weltpolitik, Geistesgeschichte oder gelebtem Geistesleben in Deutschland und das auf ständig wechselnden Abstraktionsebenen.

Das Spektrum ist enorm. Es reicht – um nur eine Idee zu vermitteln – von Carl Schmitt bis zu Ulrike Meinhof (mit der er befreundet war), von Musil bis Bernhard, vom Surrealismus bis zum Marxismus, vom Stierkampf bis zum Fußball der Premier League … wir lesen Psychogramme Kohls, Thatchers und Mitterands, bedenken die Logik der Guillotine und immer wieder werden Paris und London, England, Frankreich, Deutschland, Amerika thematisiert.

Hier ist Bohrer vielleicht am originellsten. Viele Jahrzehnte verlebte er im Ausland und das bestimmt sein distanziertes Verhältnis zur deutschen Nation. Daraus gewinnt er eine Art „Verteidigung des Fremden“ als Eigenes. Für Leser, die vor allem in den letzten Monaten der politischen Katastrophen auf der Seite der Vernunft standen, ist das erhebende Lektüre und ein Gewinn, einen der ungewöhnlichsten Köpfe des Landes am gleichen Ufer zu wissen. (Darauf werde ich noch einmal zurück kommen.)

Erhellendes auch – aus der Sicht des Mannes – über das Verhältnis zu den Frauen. Sie sind ihm Rätsel und ein Faszinosum, als Geist und als Körper, die er einerseits lösen möchte, denen er andererseits stets eine ehrfürchtig eingehaltene Distanz zubilligt, die lebenslang zu beziehungstechnischen Wunderwerken führten. „Mich interessierte, ob es wirklich – abgesehen vom Körperlichen – eine absolute geistige Differenz zwischen Frauen und Männern gebe und worin sie bestehe.“ Man müsse, um dieses Verhältnis am Leben halten zu können, immer eine Leerstelle lassen, man dürfe den anderen nie bis zum letzten ausforschen und ihm das eigentliche Geheimnis nicht zu entreißen versuchen, man müsse das Fremde im Bekannten erhalten.

Immer wieder kreist sein Denken um das Flüchtige, das Vergängliche, um das „Plötzliche“, den „Augenblick“, das Risiko, den Schrecken … und das „Jetzt!“

So kann es nur eine Schlußfolgerung geben: Karl Heinz Bohrer: Jetzt!

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. Suhrkamp, März 2017, 542 Seiten.

siehe auch: Die Verteidigung des Fremden

Konservatismus und Differenz

2 Gedanken zu “Bohrer Jetzt!

  1. „Viele Jahrzehnte verlebte er im Ausland und das bestimmt sein distanziertes Verhältnis zur deutschen Nation. Daraus gewinnt er eine Art „Verteidigung des Fremden“ als Eigenes.“

    Kleiner Dialog mit H, der Bohrer gerade gelesen hat. „Siehst du, der ist vernünftig, die Verteidigung des Eigenen ist die Verteidigung des Fremden.“ Ich:“Nein, er meint nur: wer jahrelang im Ausland lebt, schärft seine Sinne für das Eigene, um es zu verteidigen.“ H:“Aber Bohrer verteidigt das Fremde, nicht das Eigene.“ Ich:“Ja, aber auf das Um-Zu kommt es an, nicht auf das Anstatt.“ H:“Lies mal selber den Bohrer.“ Werd ich tun.

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    • Ich hat recht! Aber H dem Wortsinn nach auch, denn wer das Eigene als solches verteidigt, der muß es auch als fremdes Eigenes verteidigen – sofern es seine Pflicht ist, das zu tun. So verstehe ich das Konzept des Ethnopluralismus. Als Deutscher in der Fremde, etwa Frankreich, verteidige ich das Französische als solches, weil es die gleiche Daseinsberechtigung in F hat wie das Deutsche in D, gleichzeitig aber auch das Deutsche in mir. So jedenfalls mache ich es gerade mit dem Ungarischen …

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