Die Macht der Tendenz

Viele irrige Entscheidungen beruhen auf der Verkennung der momentanen Lage. Aufgrund ihres psychischen Apparates tendieren Menschen dazu, sich ein falsches Bild vom Augenblicksmoment zu machen. Moment meint hier eher die Bewegung – nicht den, sondern das. Es gibt mittlerweile zahlreiche technische, statistische Hilfsmittel, doch die Psyche ist oft stärker und das Gedächtnis schwächer. Gedächtnis bräuchte man z.B., um sich der Hilfsmittel noch rechtzeitig zu erinnern, um sie zu Rate zu ziehen.

Wir tendieren zum einen dazu, die Gesamtgröße zu verallgemeinern, und leiden zudem unter Nachbildern, die einen einstigen Zustand – vor allem, wenn er sich lange Jahre manifestiert hatte – uns auch dann noch für aktuell halten lassen, wenn er es schon nicht mehr ist.

Um ein einsichtiges veranschaulichendes Beispiel anzuführen, sehen wir uns im Fußball um. Dort kann man in jeder Saison zahlreiche Beweise für die Macht der Tendenz finden.

Nehmen wir die vergangene Saison von Dynamo Dresden. Die Stadt ist fußballverrückt, ein schönes Stadion vorhanden, das selbst in der dritten Liga gute Auslastung verzeichnen kann, der Klub hat Tradition und eine ruhmreiche Geschichte, auch Struktur und Geld scheinen kein größeres Problem zu sein, für den Verein zu spielen oder zu trainieren ist eine Auszeichnung …

Und dennoch hat es Dynamo auch in diesem Jahr nicht geschafft, in die zweite Liga aufzusteigen. Das ist umso erstaunlicher, als man etwa zur Hälfte der Saison die Tabelle mit großem Abstand anführte. Dann kam die Winterpause und mit ihr der eklatante Bruch.

Viel ist über die Stürmer gesprochen worden, die plötzlich nicht mehr das Tor trafen, dafür aber Meister waren im Latten- und Pfostenschießen. Ja, manchmal können die Differenzen – vor allem in den Einzelereignissen, aus denen sich eine Tendenz zusammensetzt – minimal sein, so gering, daß oft der Zufall bemüht wird. Man sollte ihn nicht gänzlich ausschließen; man sollte aber auch damit rechnen, daß selbst der „Zufall“ ein Ergebnis der Tendenz sein kann.

Wurde der Trainer noch zur Ligahalbzeit allerorten gelobt, stand in der zweiten Hälfte irgendwann die Frage nach einem neuen Trainer, denn das Momentum schien komplett verlorengegangen zu sein.

Der Entscheidung standen verschiedene Hindernisse im Weg: Sie war schmerzhaft, umso mehr als der Trainer ja sein Können schon bewiesen hatte und seine Verdienste um den Verein offensichtlich waren.

Am meisten aber dürfte der Blick auf die Tabelle getrogen haben, denn Dynamo stand trotz Krise immer noch oben, mischte im Aufstiegskampf mit, hatte theoretisch immer noch alles in eigener Hand, viele Spiele wurden unglücklich, durch „Pech“ und „Zufall“ verloren. Und schließlich: Dynamo ist ein Riese! So sahen es die Verantwortlichen und wechselten den Trainer erst, als auch die letzte realistische Chance zum Aufstieg verspielt war.

Gleichzeitig passierte nämlich ein anderer seltsamer Effekt. Während man anfangs sich nur mit Jahn Regensburg um die Spitze stritt, zogen zum Ende der Saison zwei Vereine ihre unnachahmliche Spur, die lange Zeit weit zurücklagen, zum Teil im unteren Mittelfeld, und an allen unnachahmlich vorbeizogen – und schließlich direkt aufstiegen: SSV Ulm und Prueßen Münster – interessanterweise beides frische Aufsteiger aus der Regionalliga. Auch sie ein Beweis für die Macht der Tendenz.

Dynamo hingegen näherte sich in der Rückrundentabelle dem letzten Platz an und erreichte ihn auch kurz vor Ende am 36. Spieltag mit mageren 16 Punkten. Zur Hälfte hatte man noch 40 eingefahren – spiegelbildlich dazu Ulm und vor allem Münster. Erst nachdem der Aufstieg auch rechnerisch verspielt war, gab es noch ein paar schwer zusammengestolperte Punkte, ein Hinweis darauf, daß bei den Spielern eine Menge Druck abgefallen war, wenn auch durch ein Scheitern.

FireShot Capture 042 - Hin- und Rückrundentabelle - 36. Spieltag - 3. Liga 2023_24 - kicker_ - www.kicker.de

Rückrundentabelle nach dem 36. Spieltag @ Kicker

Hätte man sich im Vorstand die Mühe gemacht, auf die Rückrundentabelle zu sehen – und zwar nach jedem Spieltag –, statt sich vom aktuellen Tabellenstand blenden und „hoffen“ zu lassen[1], die wichtige Entscheidung eines Trainerwechsels hätte zwangsläufig getroffen werden müssen, denn es bedurfte eine wirklichen Impulswechsels, um das Ruder – eventuell – noch herumzureißen. Der Trainer wäre zu Beginn der Saison schon nach fünf, sechs Spieltagen gefeuert worden, hätte man so angefangen wie man endetet, so aber verbarg sich die katastrophale Abwärtstendenz im Gesamtbild.  Also wartete man viel zu lang und setzte dann den bisherigen Assistenztrainer – der ein lieber Mann ist, dessen Fußballvorstellungen aber als noch im DDR-Fußball verankert sind: verschossen? 20 Liegestütze! – ein.

Und was im Fußball gilt, gilt in vielen anderen Bereichen. In der Wirtschaft. An der Börse. Bei Wahlumfragen. In der Politik. Im Sport. Bei Krankheitsverläufen. Im Leben. Überall, wo etwas in der Entwicklung steht.

Wer z.B. meint, die AfD sei mit 18% oder 16% noch immer eine starke Kraft und alles sei in Ordnung, der versteht die Tendenz nicht. Wer – wie Maximilian Krah – nach vier oder fünf Schüssen vor den Bug noch immer meint, er könne auch den sechsten und siebten noch ohne Kentern überstehen, der versteht die Tendenz nicht. Wer nach dem WM-Sieg 2014 der Meinung war, es stehe großartig um den deutschen Fußball oder wer heute noch immer glaubt, Ungarn sei wie eh und je seit 40 Jahren ein Fußballzwerg, der versteht die Tendenz nicht.

Wer Deutschland noch immer für ein reiches und mächtiges Land hält, der versteht die Tendenz nicht, der sieht in die Vergangenheit und hält das Zehren von den üppigen Reserven noch immer für Reichtum und Fülle.

Zieht man aber Linien in die Vergangenheit hinein und schaut sich die Entwicklung von verschiedenen Ausgangspunkten an, dann muß klar sein, wohin die Reise geht. Für Deutschland geht sie steil nach unten – es lebt von seinen Reserven und läßt sich vom Trägheitsmoment noch eine Weile treiben, aber der Dampfer hat schon seit langem an Kraft verloren und schlingert aufgrund zahlreicher innerer Konflikte hin und her. Nur weil er noch immer größer ist als viele andere und vielleicht auch noch schneller, sollte man nicht den Titanic-Traum träumen.

[1] So war man nach dem 33. Spieltag noch immer auf einem Relegationsplatz, befand sich in der Rückrundentabelle aber mitten unter den Komplettversagern und späteren Absteigern.

2 Gedanken zu “Die Macht der Tendenz

  1. Zorn Dieter schreibt:

    Ja stimmt. Viele Menschen leben in ihren Illusionen, die sie für die Realität halten. Ist die Differenz zwischen beiden zu groß, wird es pathologisch. Benn hat das Gegenbild in seinen „Maximen“ wunderbar formuliert: „Falls Sie die Maximen meines Lebens hören wollen, so wären sie folgende: Erstens: Erkenne die Lage. Zweitens: Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen. Drittens: Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke.“ Dass Sie Herrn Krah in ihrem Text noch erwähnen mussten, ist natürlich, wie alles andere auch, Ihre persönliche Sicht der Dinge. Unbenommen.

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  2. Michael B. schreibt:

    Tendenzen sind tricky, da der Mensch ein guter Mustererkenner ist. Er sieht dann allerdings gern etwas, was entweder nicht da ist oder was seinen Praeferenzen entspricht. Zu letzterem: Ich muss gerade in Wertpapieren eine trendabhaengige Entscheidung treffen, es gibt dahingehend ein ganzes momentum-bezogenes Teilgebiet. Diese Art Momente sind i.a.R. positiver Natur. Alle(!) Ihre Beispiele sind solche negativer Momente, das faellt auf.

    Das gesagt, ist das Fussballbeispiel wahrscheinlich noch das unproblematischste (inhaltlich kann ich zum Thema Fussball aber nichts sagen). Die Ueberleitungen zur Politik sind aber diskussionswuerdig. Schon die Frage, wer gefeuert werden sollte: der Spieler Krah oder die Trainerspitze W+C?

    Grundsaetzlich aber erst einmal, ob hier ein Trend oder eher ein Trendbruch vorliegt. M.E. ist der Aufschwung der AfD das reale (positive) Momentum. Der Abgang, wenn tatsaechlich so vorliegend (ich lasse aber einmal die Statistikdiskussion offen), sollte eher in seinen inneren Ursachen untersucht werden. Das macht man beim Trainer Fussball letztlich irgendwann auch, reine post-mortem Analyse kann sich aber die Partei AfD nicht leisten.

    Sie erwaehnten gerade den Begriff des Kairos. Der ist nach meiner Meinung hier sehr wesentlich im Sinn des Verpassens. Aus Krahs Aeusserung haette man naemlich auch das Gegenteil herausholen koennen: Abgrenzung gegenueber den Etatisten der ID-Fraktion – und v.a.D. und viel wichtiger die Darstellung eigenen Rueckgrates im Land. Das wurde nicht einfach nur verpasst, sondern mittlerweile neige ich der Betrachtungsweise zu, grundsaetzlicher verunmoeglicht. Vielleicht reicht Haeutung nicht mehr und Neu“fleischung“ ist erforderlich, weil das innere auch den Mitglieden moegliche thematische Potential der AfD erschoepft hat. Ich hoffe einmal, dass dem nicht so ist. Aber wie gesagt, Zivilisationsbruch. Warum sollte etwas derart Spezifisches wie eine zeitgebundene Organisationsform wie sie eine Partei / ein Parteiensystem westlichen Zuschnitts ganz allgemein darstellt, das ueberhaupt ueberstehen muessen?

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