Der deutsche Sonderweg in die Häme

… Es kommt etwas hinzu, was zu den Besonderheiten des deutschen Sozialcharakters gehört, eine dunkle Geschichte. Bei uns gab es eine Institution des mittelalterlichen Strafrechts, den sogenannten Pranger, an den wurden kleinere Übeltäter gestellt, Bäcker, die beim Gewicht der Semmeln geschwindelt hatten, untreue Frauen, Trunkenbolde. Der Pranger ist ungefähr das mittelalterliche Äquivalent für ein Bußgeldverfahren nach Falschparken und Alkohol am Steuer.

Die Pointe ist nun: Täterausstellung war vorzeiten schon die Täterbestrafung selbst – und man begreift, in mittelalterlichen Kleinstädten war das eine empfindliche, tief kränkende Maßnahme. Der Pranger wurde mit dem modernen Strafrecht abgeschafft, weil er gegen das Menschenrechtsempfinden verstößt, in Großstädten wäre er ohnehin nicht mehr effektiv gewesen.

Aber im deutschen Feuilleton hat er überlebt. Wie gesagt, bestand der Sinn der Pranger-Justiz darin, daß das Vorzeigen einer Person die Strafe selbst ist. Eine prägende deutsche Einrichtung, eine deutsche Grunderfahrung: gezeigt werden heißt bloßgestellt werden. Wer will die aktuelle deutsche Kultur verstehen ohne dieses Axiom? Die Deutschen haben die Prangerpraxis nie vergessen, sie kannten die peinlichste Beschämungs- und Kränkungskultur unter den Europäern, und sie halten an ihr bis heute fest.

Man sieht, es gibt einen deutschen Sonderweg in die Häme. In der deutschen Anprangerungslust überlebt eine Form von mittelalterlicher Öffentlichkeit, die tatsächlich sehr oft eine Mob-Öffentlichkeit war, eine Hetz-Öffentlichkeit, eine Verhöhnungs- und Blamierungsöffentlichkeit. Unter einem kulturhistorischen Aspekt finde ich es faszinierend, wie solche Affekt-Dispositionen durch demokratische Zeiten hindurchwandern können, ohne sich wesentlich zu verändern. Und so treten sie gerade dort zutage, wo sie heute niemand vermutet, in den Hochburgen demokratischer Sensibilität, auf den behüteten Spalten der Buch- und Kulturkritik in den liberalen Blättern.

Typische Pranger-Prosa: Scheinbar kenntnisreich, scheinbar treffend, scheinbar beweisend, immer blamierend, mit dünn gespitzten Fingern auf die angeklagten Subjekte zeigend, so daß in der bloßen Vorführung tatsächlich schon die Strafe, der öffentliche Hohn enthalten zu sein scheint, mitsamt dem Seitenblick auf das Kollektiv, das Genugtuung darüber empfindet, daß es wieder jemanden richtig erwischt hat.

Eines ja ist klar – der Anprangerungs-Kritiker würde sich nicht nach vorne wagen, wenn er sich nicht sicher fühlte und das Mandat seines Milieus im Rücken hätte. Damit kommen wir zum kritischen Punkt: Welche Milieu-Aufträge stehen hinter solchen Verhöhnungsübungen?

In welcher mentalen Verfassung befindet sich das Kollektiv, dem man zurecht unterstellen darf, es werde derartige Mixturen aus Scheinreferat und Hetze goutieren? Wie war der lange Marsch in die Gemeinheit möglich? Um diese Frage zu beantworten, müßte man eine Psychohistorie der deutschen Linken und Linksliberalen von 1968 bis in die neunziger Jahre hinein schreiben: die Verkrustungs- und Verbitterungs- und Stagnations- und Anmaßungsgeschichte einer intellektuellen Generation.

Peter Sloterdijk: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliviera. München/Wien 1996, S. 114ff.

(von mir leicht gekürzt und bearbeitet, natürlich ohne den Sinn zu entstellen. Sloterdijk antwortete hier auf die Frage nach den Hintergründen der Denunziationen insbesondere der habermasianischen Clique – namentlich Thomas Assheuer, der drei Jahre später auch Protagonist des „Sloterdijk-Skandals“ werden sollte. Assheuer hatte nach Botho Strauß‘ „Bocksgesang“ allergisch reagiert und in einem späteren Artikel ein „gnostisches Quartett“ – Wim Wenders, Strauß, Handke und eben Sloterdijk – an den Pranger gestellt. Sloterdijk erkannte damals schon: „Ich bin fast sicher, er ist ein Sympathisant, der nicht gesteht“ – siehe dazu: Das neue Denken der alten Rechten)

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