Blick in die Zukunft

Vor zwei Wochen erhielt der Syrer Salim seine Anerkennung als Flüchtling. Salim ist 35, sehr freundlich, hilfsbereit und immer lächelnd. Von Beruf Schreiner oder etwas Ähnliches. In Syrien hatte er in einem Unternehmen gearbeitet, das Schränke, Türen, Fenster etc. herstellte. Seit Anfang September ist er in Deutschland und spricht weder Deutsch noch Englisch. Im Gegensatz zu Hussain, Muhannad und Khaled, aber vergleichbar mit Schlasch, Mohammed und Walid macht er auch keine Anstrengungen, die Sprache zu lernen – nicht etwa, weil er zu faul wäre, sondern weil er als einfacher Arbeiter das Lernen nie gelernt hat. Arbeiten will er – immer wieder fragt er, ob es in der Stadt nicht Tischler gäbe.

Wie könnte seine Zukunft aussehen? Die Zahlen sind Annäherungen, da es schwierig ist, aus den sich widersprechenden Angaben, genaue Schlüsse zu ziehen.

Von nun ab erhält er die volle Unterstützung von ca. 400 Euro. Seine Familie hat sich sofort nach Erhalt des Bescheides auf den Weg gemacht. Man wartete in der Türkei und befindet sich gerade in Griechenland, hat die Meerespassage also unbeschadet überstanden. In ca. 10 Tagen dürften seine Frau und die beiden Kinder bei ihm sein. Er freut sich sehr, zeigt seine Freude aber nicht.

Mit der Aufenthaltserlaubnis ist ihm auch die Bewegungsfreiheit garantiert. Irgendwann wird er vermutlich die kleine sächsische Stadt verlassen und zu Verwandten ziehen. Alle Syrer, die ich kenne, haben bereits Familienmitglieder irgendwo in Deutschland, meist im Westen: Hamburg, Frankfurt, Landshut, Münster, Essen, Hagen … Dort wird man zusammen wohnen und leben – der Kontakt zur deutschen Umwelt wird vermutlich noch geringer werden, als er jetzt schon ist. Da Salim keine Schule besucht, bin ich wohl der einzige Deutsche – von Zufallsbegegnungen, Amts- oder Arztbegegnungen abgesehen – mit dem er einmal die Woche zu tun hat.

Seine Frau wird vermutlich anfangs um die 300 Euro erhalten, später, wenn auch sie den Asylstatus besitzen wird, knapp 400. Wohnung, Heizung, Betriebskosten übernimmt der Staat. Ob sie einen Sprachkurs besuchen wird, bleibt abzuwarten.

Für die Kinder wird es Kindergeld in Höhe von 130 – 150 Euro geben. Insgesamt wird die Familie so monatlich über mehr als 1100 Euro verfügen. Damit läßt sich in einer syrischen Kommune sehr gut leben. Der Anreiz für Salim, die Sprache zu erlernen, um einen Beruf ausüben zu können, wird mit der Zeit sinken. Stattdessen werden die Kinder in Kindergarten und Schule sehr schnell die deutsche Sprache erlernen und in Zukunft vermutlich den administrativen Teil des Lebens der Familie erledigen. Salim wird darauf achten, sie zu guten Muslimen zu erziehen.

Sollte der Aufenthaltsstatus nach drei Jahren nicht erneuert werden oder sollten die Eltern irgendwann entscheiden, nach Syrien zurück zu gehen, dann dürften die Kinder das größte Hindernis werden. Sie werden in Syrien entwurzelt sein, man wird sie vermutlich als fremd empfinden – daher werden sie sich sträuben, das Land wieder zu verlassen. Ob sie sich je als Deutsche empfinden werden, bleibt abzuwarten. Wie viele solche Kinder werden sie keine nationale Identität, keine Heimat mehr haben.

Später frage ich Hussain nach Salims Chancen – er kommt zu einem ähnlichen Resultat. Es sei denn, er findet einen arabischen Arbeitgeber – wie wahrscheinlich ist das?

Es liegt nun wohl an Salim selbst, ob er diesen absehbaren Verlauf ändern will und kann – erster und einziger Schritt: die Sprache.

4 Gedanken zu “Blick in die Zukunft

  1. Gott ist tot, die Familie ist tot, das Vaterland ist tot …

    „Wohin bewegen wir uns?
    Fort von allen Sonnen?
    Stürzen wir nicht fortwährend?
    Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?
    Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?
    Haucht uns nicht der leere Raum an?
    Ist es nicht kälter geworden?
    Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“

    Mir schrieb einmal ein junger Mann von ebendieser Verlassenheit, dem Verlust von Sinn und Mitte, über sein Ennui inmitten der materiellen Sattheit und geistigen Dumpfheit und er sprach damit ein Generationenphänomen an.

    Dabei geht es nicht um d e u t s c h e Identität, sondern um den Verlust und die Aufgabe aller Identität in der Postmoderne. Auch daß die syrischen Kinder in ein paar Jahren nicht mehr wissen werden, wer sie sind, ist bedauerlich. Wir brauchen auch Syrer auf dieser Welt.

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  2. chö schreibt:

    Wieviele Deutsche haben denn eine nationale Identität? Wer kann ob der massiven deutschen Binnenmigration noch tatsächlich von Heimat sprechen? Die Heimat, in der ich groß geworden bin, gibt es auch nicht mehr. Und dort ist (noch) kein Krieg.

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    • Der erste Satz ist eine contradictio in adjecto. Die stärkste nationale Identität bringen die Asylsuchenden mit – das haut mich immer wieder weg. Damit werden sie das schwache deutsche Fleisch hinwegfegen. Aber Heimat geht tief: Sprache, Sitten, Mimik, Gestik, Vertrauen, Tradition, Kult, Sich-Verstehen, Werte, Küche, Gebräuche, Gewohnheiten, Abläufe, Rituale, Architektur, Düfte, Ansichten, Klima, Unterbewußtsein, Eltern, Familie, Freunde, Geliebte, Kindheit, Erinnerung, Lieder, Literatur, Kunst, Musik, Mythen, Märchen, Totems, Symbole, Physiognomien, Logik, Geschwindigkeiten, Entfernungen, Himmel und Licht, Natur (Wald oder Wüste) … kein Mensch kann das jemals ablegen. Und auch wenn man als Sachse in Bayern wohnt, ist man noch immer Deutscher und wenn man in England wohnt noch mehr – Identität verstärkt sich oft mit der Entfernung, darauf weisen auch Umfragen unter Muslimen hin (Siehe „Muslime in Dänemark I“). Gerade durch die Globalisierung verzeichnen wir weltweit eine Rückbesinnung auf kulturelle Identitäten: Tschechen, Slowaken, Katalonier, Basken, Jugoslawien, Schotten, Ukraine, Flamen etc. – nur Deutschland gibt sich auf. Warum?

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      • chö schreibt:

        Ich sehe noch nicht, wo da der Widerspruch sein soll. Kulturelle Identität ist doch in allerhöchstem Maße individuell und abstrakt: https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Identit%C3%A4t
        Man kann ja sogar infragestellen, ob es jemals etwas wie eine deutsche Nation gegeben hat. „Deutschland schafft sich ab“ ist als Buchtitel für mich ohnehin vollkommen sinnentleert. Wenn „wir Deutschen“ von irgendetwas bedroht werden, suggeriert man eine gefährdete gemeinsame kulturelle Identität, die es doch gar nicht gibt, die es vielleicht nie gab. Deine Posts „Ich bin kein Deutscher“ und „Wer sind Wir?“ schlagen doch genau in diese Kerbe. Ist man als Sachse in Bayern nun Sachse oder Deutscher? Muss ich mich als Vogtländer von dumpf-doofen Dresdnern, Freitalern und Pirnaern distanzieren?
        Meine kulturelle Identität verschleift sich umso mehr, je weniger ich mich in meinem Ghetto verschanze. Ja, man muss das Integriertwerden überhaupt erst zulassen und ohne Einheimische kann es nicht funktionieren und ohne Sprachkenntnisse (bairisch ist da keine Ausnahme) erst recht nicht. Deswegen muss dieser Teil zur Integrations_pflicht_ der Asylsuchenden werden, ohne den sie auch kein Recht auf dauerhaften Aufenthalt bekommen können.

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