Der ewige Timmermans

Gerade macht Frans Timmermans‘, seines Zeichens „SPE-Spitzenkandidat bei der Europawahl 2019″ – „S“ steht für „Sozialdemokratisch“ und „Europa“ meint die EU – und Träger der Ehrenpalme Bulgariens, gerade macht sein kleiner faux pas genüßlich die Runde, worin er dem Islam eine 2000-jährige Zugehörigkeit zu Europa bescheinigt hatte.

Die Klatschekasper klatschen oder kaspern wie bei jeder seiner Aussagen – auch ihnen ist die Petitesse von 600 fehlenden Existenz-Jahren, über den Daumen gepeilt, nicht aufgefallen, von der Zugehörigkeit zu Europa ganz zu schweigen. Vor 600 Jahren – nur der historischen Perspektive wegen – begannen in Europa die Hussitenkriege, vor knapp 600 Jahren eroberten die Osmanen Konstantinopel.

Die Freude über Timmermans historische Unkenntnis ist freilich nicht ganz aufrichtig und mir wäre es lieb, wenn vor allem die großen alternativen Kanäle sauber arbeiten würden. Ein paar Augenblicke später berichtigte er sich nämlich auf 1500 Jahre. (00:59 min) Das kommt der historischen Wahrheit immerhin schon etwas näher.

Es kann passieren, man sollte nicht allzu streng sein; in solch einer Situation kann man sich durchaus mal verplappern.

Der eigentliche Skandal sind nämlich gar nicht die 2000, sondern die nachkorrigierten 1500 Jahre. Sie werden umso skandalöser, als Timmermans seine Zahlen mit einem jesuanischen Lächeln und Hauchen hervorbrachte und gänzlich ohne Relativierung.

Darin versuchte sich Manfred Weber – sorry, ich muß, wenn ich ihn sehe, immer an Ulrich Mühe (er vergebe es mir im Himmel) in seiner Rolle als Stasi-Offizier denken, die Szene mit der Staatsnutte –, der nicht müde wird, seine Jugendlichkeit (46) und den frischen Wind zu betonen, der ihm ständig zu folgen scheint, immerhin die Mindestanforderung zu erfüllen, die diesen fatalen Satz über die Grenze zum Unsinn – wenn auch mühsam – hebt: „Islam gehört zu Europa, aber er ist nicht konstitutiv für die Grundwerte …“ Gemeint ist: einige Träger des Islams gehören zu Europa, haben im Übrigen jedoch wenig dazu beigetragen …

Aber zurück zu Timmermans. Was könnte er denn gemeint haben, wenn er bekennt, der Islam gehöre 1500 Jahre lang zu Europa? Er müßte, wollte man streng sein, behaupten, Arabien liege in Europa. Kann man sagen, wenn man von der Konstruiertheit aller historischen Begriffe ausgeht.

Er könnte auch meinen, der Islam sei von der europäischen Kultur geprägt, sozusagen ein Auswuchs europäischen Denkens. Auch dafür gibt es Argumente, wenn man etwa das Judentum und Christentum als „europäisch“ subsumiert und dann die historischen Parallelen herstellt. Es gibt Lehrmeinungen – Luxenberg, Ohlig u.a. –, die von Mohammeds christlicher, vor allem arianischer Inspiration ausgehen, die den Koran für ein arabo-christliches Dokument halten, das nicht selten auf Unverständnis und Übersetzungsfehlern basiert, die den Islam letztlich als christliche Häresie betrachten. Wer so argumentiert, wird sich aber kaum um 600 Jahre verquatschen.

Schließlich könnte Timmermans einer alten Legende aufgesessen sein, die das Wort „Islam“ mit „Frieden“ übersetzt. Lauschen wir, wie das klingt: Der Frieden gehört seit 1500 Jahren zu Europa. Banal. Der Krieg schließlich auch. Oder aber man versteht den Frieden als Ideal, als Sehnsucht. Egal, die ganze Sache hinkt an der Wahrheit: „Islam“ heißt „Unterwerfung“ und nichts anderes.

Historisch wäre diese Lesart auch ziemlich albern, denn die Geschichte der Verbreitung des Islam, die noch andauert, die noch nicht zu Ende ist, ist die vielleicht grausamste Geschichte der Menschheit – sogar als Deutscher darf man das sagen.

Schließlich fiele mir noch eine weitere Auslegung ein. Timmermans spricht vom Islam als einem höheren Prinzip, von einer Art „ewigem Islam“, so wie die Christen vom ewigen Gott sprechen, der mal als Gott höchstselbst, mal als Heiliger Geist, mal als Jesus und gern auch als Dreieinigkeit gedacht wird. Damit sollte u.a. das Paradox der Seelenrettung jener Menschen gelöst werden, die historisch vor Jesus lebten, also nie vor der Entscheidung eines Glaubensbekenntnisses gestanden haben konnten und ergo nicht selbstverschuldet die Fahrkarte für die Direktverbindung in die Hölle gebucht hatten. Oder Timmermans dachte an Ahasverus, den „ewigen Juden“, jener einstigen Sagengestalt, die auf ewig keine Ruhe finden sollte, weil sie Jesus nicht beherbergt hatte. Daraus wurde bald das „ewig Jüdische“, eine Art „jüdisches Wesen“ oder er wurde mit dem jüdischen Volk gleichgesetzt, das zudem ein Diaspora-Leben führte. Wir wissen, wohin das führte.

Oder aber, man nimmt Timmermans Wort wörtlich. Dann bleibt freilich nicht viel mehr als eine Dummheit, denn das gleiche Argument ließe sich kinderleicht auf alle möglichen historischen Situationen anwenden. Man erzähle das mal unseren europäischen Freunden, den Ungarn, die in mehreren grausamen Feldzügen von muslimischen Besatzern nahezu ausgerottet wurden.

Dann müßten indische und chinesische Buddhisten sich eingestehen, daß der Islam zu ihnen gehöre, allein schon weil er sie im siebten und achten Jahrhundert nahezu vollkommen vernichtete. Dann müßten sich die Aborigines oder die amerikanischen „Indianer“ auch eingestehen, daß die Europäer seit mindestens 2500 Jahren zu Australien oder Amerika gehören oder das Christentum seit eh und je zu Japan und China.

Und damit mir keiner mit „Rassismus“ kommt, noch ein paar positive Beispiele: nach dieser Denke gehört das Porzellan nicht erst seit 1706 zu Europa, sondern schon seit 1700 Jahren, seit es in China erfunden wurde, dann gehört die parlamentarische Demokratie seit 2500 Jahren zu Europa usw. Schließlich wird man auch den Nationalsozialismus als kulturelles Erbe betrachten müssen und selbst die Klimaerwärmung gehört schon länger zu Europa, als es dieses – nach Alfred Wegner – eigentlich gibt.

Ach was, wozu zerbreche ich mir den Kopf. Die Wahrheit ist einfacher und ernüchternder zugleich. Sie hängt mit der kompletten Verdrehung der Begriffe im Zuge der Moralisierung des Seins zusammen.

Timmermans ist Sozialdemokrat. Sozialdemokratie bezieht sich letztlich immer auf Marx oder einen seiner Schüler. Nur lesen Sozialdemokraten Marx gar nicht mehr oder verstehen ihn zumindest nicht. Marx wiederum war Hegelianer. Den Hegel, den Marx einst vom Kopf auf die Füße gestellt hatte, stellen die Linken im Allgemeinen und die Sozis im Besonderen gerade wieder auf den Kopf. Linke sind – ohne es freilich zu wissen – rechts. Sie sind Rechtshegelianer  und hängen jener Schule an, die Marx zutiefst verachtete und mit ätzendem Spott, blendendem Geist und mit einem gewissen Vernichtungswillen bloßstellte. Sie sind in den Althegelianismus regrediert. Man nennt das auch Orthodoxie: richtige (ὀρθός ) Meinung (δόξα ).

Es gab in Marx‘ Augen einen doppelten Hegel, den der Methode, der Dialektik, und den konservativen preußischen Staatsphilosophen im Professorensessel. Von ersterem übernahm Marx die bewegliche Denktechnik und wandelte sie in ein kraftvolles politisches Instrument um, von letzterem – in krassem Widerstreit zu seinem, Hegels Denken – stammt der Gedanke: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“

Diesen urkonservativen Gedanken – der bei Hegel tatsächlich dialektisch gedacht werden muß – hat sich die heutige Linke ganz und gar und unvorstellbar vulgarisiert zu eigen gemacht und Timmermans hat dieses offene Geheimnis vor den Kameras ausgeplaudert.

Der Islam gehört seit 1500 Jahren zu Europa, das bedeutet, die Anbetung des status quo. Seine Träger sind hier, also ist es vernünftig, also muß es so sein und war auch schon immer so. Entwicklungen werden ebenso ausgeblendet wie Perspektiven. Im linken Denken unserer Tage spricht sich vollkommen versteinerter und lebloser Konservatismus – der Word Thesaurus bietet hier „Starrsinn“ an … und das trifft es auch besser: vollkommen versteinerter und lebloser Starrsinn spricht sich darin aus.

Wenn sie wenigstens konsequent wären und in ihrem Affirmationsfetischismus des Seienden auch die AfD oder Trump und alles Rechte aufnähmen, die genauso – als „ewige Rechte“, als „Neue Rechte“ und als rechte Rechte – seit 2000 Jahren zu Europa und der Welt gehören.

Aber die Sozis sind den Veränderungen der Gesellschaft geistig schlicht und einfach nicht gewachsen und wenn ich mit einer Phrase schließen darf: Sie sind mit ihrem dogmatischen Moralismus kreuzgefährlich und keiner, der sie wählt, soll später sagen dürfen, das habe er nicht gewußt.

Mit dieser Denke könnte man übrigens auch behaupten: Die Timmermans gehören seit 2000 Jahren zu Europa.

Ich meine, es wird Zeit!

5 Gedanken zu “Der ewige Timmermans

  1. Die gegenwärtige Linke – als elitäre Herrenschicht keine echte Linke – hat eine primitiv rechtshegelianische und nietzscheanische Herrenmoral entwickelt; eine gut- und bessermenschliche Moral, die ihren Vorzug in ihrer „Menschlichkeit“ erblickt, und die die Anderen, die bildungsfernen Schichten, die Verlierer, die Knechte, aufgrund ihrer Unmenschlichkeit verachtet.

    Die Moslems und der Islam werden da einerseits als Shibboleth und als handicap-Signal verwendet, wodurch die Guten und Starken einander erkennen, und die Bösen und Schwachen: Wer sagt, der Islam gehört zu Europa, ist zweifellos ein Guter; er ist menschlich, tolerant, offen, multikulturell. Er ist stark genug, mit dem scheinbar Fremden zurechtzukommen und es als Bereicherung seines Lebens zu verstehen.

    Andererseits aber dienen die Moslems als Werkzeug und Waffe im rechtshegelianischen Klassenkampf, womit man den Knechten nicht nur ihre moralische Minderwertigkeit beweisen, sondern sie auch handfest schlagen kann. Schließlich leiden die Unterschichten am meisten, sowohl identitär als auch materiell, an der islamischen Einwanderung.

    Die heutige Linke ist somit Teil einer zweitausendjährigen Rechten in Europa, die sich gegen die zweitausendjährige Linke wendet, das Christentum: als gefährlichste Entartung des Christentums wendet sie sich gegen dessen Sorge um die Opfer (Girard), gegen die Liebesgebote, gegen die christliche Lösung der Sündenbockwirkweise, gegen den christlichen Universalismus, die Abkehr vom Blute (die rassische und geschlechtliche Identitätspolitik!). Dem Mythus des zwanzigsten schließt sich bruchlos der des einundzwanzigsten Jahrhunderts an, die große Reaktion des heidnischen Europas (Greta als der Gaia Prophetin), des patrizischen, klassisch-antiken, imperialen Europas.

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    • Können Sie uns etwas über dieses Buch verraten: Leitner: Identität. 1600 Seiten aber nur bei Kindle erhältlich, Autor bisher nicht hervorgetreten …

      Robert X Stadler: Ja, der Artikel schien mir eine gute Gelegenheit, über eine meiner Lieblingsthesen zu reden, die ich in dem Buch auch breit ausführe. So kommen die 1600 Seiten zustande …

      Seidwalk: Wollen Sie das nicht mal etwas breiter ausführen? Gerne auch als Artikel. Hier finden Sie sich ein paar Interessenten. Gedruckt gibt es das Buch nicht?

      Robert X Stadler: Gern, ich werde bei Gelegenheit einen Artikel schreiben. – Nein, nur als Kindle-Version.

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    • Tommy schreibt:

      „die große Reaktion des heidnischen Europas“

      Ich will zwar jetzt hier nicht eine große Religionsdiskussion eröffnen, aber das erscheint mir überhaupt nicht überzeugend.
      Für mich als säkularen Rechten mit Sympathien für die griechisch-römische Antike sind eher Parallelen zwischen Christentum und der heutigen Linken augenfällig. Allein schon die Tatsache, dass „Glaube“ (nicht etwa konkrete Handlungen) an sich als tugendhaft bewertet wird, macht das augenfällig. Es hat sich nur der Charakter der Orthodoxie etwas gewandelt, aber wenn man heute auch nur seinen Dissens vom herrschenden Dogma äußert, dann erleidet man bereits den sozialen Tod, während umgekehrt der soziale Status aufgewertet wird, wenn man brav das allgemeine Toleranz-Multikulti-AfD alles Nazis-Dogma runterbetet. Für mich ist das eine Fortführung der christlichen Exkommunikation und der allgemein intoleranten Haltung gegenüber Abweichlern in Glaubensfragen.
      Girards Thesen, soweit mir bekannt, halte ich auch historisch für abwegig (konkrete Menschenopfer gab es in der klassischen Antike nicht mehr, außer vielleicht im Geheimen). Er muss ja meines Wissens auch selbst einräumen, dass christliche Gesellschaften faktisch oft selbst in Sündenbockdenken verfielen, Heiden, Juden und andere Minderheiten diskriminierten und verfolgten.
      „Abkehr vom Blute“ ist doch auch genau das, was die Linke heute fordert (man denke nur an die teils ja durchaus gefährlichen Versuche, Kontakte zwischen einheimischen Mädchen und Asylbewerbern zu ermöglichen) – allerdings nur von den einheimischen Europäern, die harten Identitäten der Einwanderer lässt man eher unangetastet. Aber abgesehen von dieser Inkonsequenz scheint mir eher ein zuviel als ein zuwenig an Universalismus (egal, ob christlicher oder sonstiger Art) das Problem zu sein. Der naive Glaube, jetzt komme eben die „Menschheitsfamilie“ zusammen und das einzige Hindernis bei der Errichtung der neuen glückseligen Welt seien bornierte „Rassisten“, ist doch eine wesentliche Grundlage des immigrationistischen Denkens und scheint mir gerade in Kirchenkreisen sehr verbreitet zu sein.
      Deshalb erscheint es mir sehr fragwürdig, das Christentum von jeglicher Verantwortung für die gegenwärtigen Zustände freisprechen zu wollen, wenngleich Rechte sicherlich auch nicht unreflektiert anti-christlichen Affekten frönen und sich in neo-heidnische Sektiererei nach Nazi-Muster verrennen sollten.

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      • Zunächst glaubt die heutige Linke genauso an eine Religion wie (notwendig) alle anderen politischen und gemeinschaftlichen Bewegungen. Hier wirken also alle Bindungs- und Bannungskräfte der Glaubensreligion.

        Das zur Form. Was den Inhalt angeht, so betrachte ich die heutige Linke, wie gesagt, auch als Entartung des Christentums und des christlichen Europas. Gegen ihre Entartung kann eine Sache meist am wenigsten Widerstand leisten; zu verwandt scheint ihr das Neue noch zu sein, als dass sie die dazu nötige Entschlossenheit aufbrächte. Deswegen wäre es verfehlt, das Christentum verantwortlich zu machen für derartige Fehlentwicklungen. Abusus non tollit usum.

        Und natürlich gibt es auch in christlichen und post-christlichen Gesellschaften Sündenbockdenken (wurde ja in Österreich zuletzt gut vorgeführt). Doch wirkt das Kreuzesopfer, wie alles in der Gesellschaft, at the margin, und waren daher christliche Gesellschaften besser als andere in der Lage, Girards innergesellschaftlichen mimetischen Furor einzudämmen.

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        • Tommy schreibt:

          „Was den Inhalt angeht, so betrachte ich die heutige Linke, wie gesagt, auch als Entartung des Christentums und des christlichen Europas.“

          Ihr Beitrag oben klang aber zumindest in Teilen eher so, dass sie die Linke in einer Art Kontinuität zum vorchristlichen Heidentum sehen würden – oder zu dem was z.B. Nietzsche mit seinem Eintreten für eine elitäre Herrenmoral dafür hielt. Und das finde ich wirklich gar nicht überzeugend. Es ist ja nicht so, dass Linke sich in irgendeiner Weise positiv auf die Antike beziehen würden, wie das z.B. die Faschisten taten. Sie nehmen vielmehr ja oft für sich in Anspruch, die wahren Vertreter christlicher Werte zu sein, und werden hierin auch von Kirchenkreisen unterstützt. Das kann man für Entartung oder Missbrauch des Glaubens halten, es ist aber eine Realität, die man m.E. nicht einfach beiseitewischen kann. Hier fehlt mir offen gesagt bei vielen „rechten“ oder konservativen Christen die Bereitschaft zu Selbstkritik bzw. zur Reflexion, welche Rolle die eigenen religiösen Traditionen und Glaubenssätze beim Zustandekommen der gegenwärtigen Zustände gespielt haben könnten.

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