Lektüren Januar

Immer wieder bekomme ich Feedback, daß Leser des Blogs die besprochenen Bücher tatsächlich kaufen und lesen. Das tut mir leid, das habe ich nicht gewollt … Da es nun einmal so ist, werde ich von nun an am Ende des Monats Beispiele aus meiner Leseliste nebst sehr kurzen Annotationen bekannt geben. Ausgenommen werden Privatissima und indizierte Literatur. Falls die Hauptkommentatoren es möchten, dann veröffentliche ich auch gerne deren Lektüren – das könnte, wie verschiedentlich schon unter Beweis gestellt,  manche Anregung beinhalten und zudem zum Lesen verführen.

Januar 2018

Wolfgang Engler: Authentizität. Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern

Wurde mir als „dicht“ empfohlen, „dense“, wie es auf Englisch heißt. Damit sind ein Lob und eine Kritik ausgesprochen. Dieses Buch, das die Paradoxien des Authentizitätsbegriffes durchleuchtet, steckt voller zündender Ideen und aufmerksamer Beobachtungen, aber diese werden durch eine sehr abstrakte und metapherngesättigte Sprache und einen impressionistischen Stil nur mit großer Leseanstrengung kenntlich. Engler ist Rektor der Schauspielschule gewesen und bezieht sich daher immer wieder auf das Theater als Weltbühne. Überragend seine Äußerungen zur Seele des Ostens (DDR) – habe mir umgehend zwei frühere Arbeiten zu diesem Thema bestellt. Mehr zu diesem lesenswerten Buch an anderer Stelle – man muß nur die richtige Zeitschrift abonniert haben.

Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand.

Aus der Ramschkiste gezogen. Bejubelte Autorin, bissige Spiegel-Kolumnistin. Erscheinung. Muß man mal gelesen haben. Wenn das die Creme unserer Literaten ist: heiliger Bimbam! Sprachlich ganz arm, kurze, abgehackte Sätze. Komposition einfach. Thema: Szenen einer Ehe oder: Ficken! Keine Seite ohne dieses Wort. Höheres Thema: sinnleeres modernes Leben – was sonst? Irgendwo zwischen Houllebecq und Charlotte Roche, ohne wirkliche philosophische Tiefe. Andererseits: ideenreich, leider alles nur hingerotzt, nicht ausgearbeitet. Guter Witz, großartige Beobachterin. Typisch, daher wertvoll.

Thierry Baudet: Oikophobie. Der Haß auf das Eigene und seine zerstörerischen Folgen.

Auf dieses Buch war ich gespannt! Titel und Untertitel versprachen viel, nämlich die Analyse eines der Zentralfragen unserer Zeit, die jedoch schwer zu fassen sein dürfte. Wie so oft: Hoffnung ist dazu da, enttäuscht zu werden. Das Buch ist ein Sammelsurium z.T. veralteter Essays zur holländischen Innenpolitik, zur EU, einigen Rechts- und Staatstheoriefragen, jedoch alles auf „populistischem“ Niveau – wenn man unter Populismus Vereinfachung versteht. Der Begriff „Oikos“ – das Eigene – wird nur als künstliches Bindemittel gebraucht, um dem Unzusammenhängenden eine Scheinstruktur zu geben. Was nicht heißt, daß es nicht ein paar interessante Einzelideen enthält. Auch dazu mehr an anderem Ort.

Tristan Garcia: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession.

Eine Empfehlung, die zu einem Arbeitsauftrag wurde. Garcia ist der Shooting-Star der französischen Philosophie und nur weil er schon mit jungen Jahren ein Bäuchlein pflegt, taugt er nicht mehr zum französischen Precht. Hier legt er eine rasante und intensive Auseinandersetzung mit einem Begriff vor, der bislang wenig theoretische Bearbeitung erfahren hat, aber am Grunde des Diskurses seit mindestens 250 Jahren liege. Damit verweist er übrigens nicht auf die Aufklärung, sondern die Entdeckung der Elektrizität. Er beginnt historisch und wechselt dann die Erzählebenen von der Physik über die Metaphysik zur Anthropologie und schließlich zur Ethik. Den letzten Teil kann man getrost in den Skat stecken, denn es ist eine übliche Genügsamkeitsethik. Zuvor aber brennt er ein wirkliches Feuerwerk ab und zeigt in immer neuen Anläufen die Aporien des Intensitäts- und Geschwindigkeitskultes, aus dem wir scheinbar nicht mehr aussteigen können. Man müßte es der Jugend zur Pflichtlektüre machen – vorausgesetzt, sie verstünde noch komplexe Texte. Es ist ein wichtiges Buch – um einen Begriff aus der Botanik zu entlehnen: ein Zeiger-Buch. Das ist also keine Empfehlung, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit der Kenntnisnahme. Wird ebenfalls andernorts angezeigt.

Schriftenreihe BN-Anstoß: Aufstand des Geistes. Konservative Revolutionäre im Profil. 

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe an Porträtbänden konservativen Denkens[1]. Wenn es darum ginge, müßte man nicht zu diesem schmalbrüstigen Bändchen greifen. Es interessierte mich, weil es vom Think Tank „Die blaue Narzisse“ stammt, einer von Felix Menzel gegründeten Jugendzeitschrift, die sich zum Verlag und zur Webseite mauserte und immer wieder bedenkenswerte Beiträge hervorbringt, die nicht zuletzt wegen des jungen Alters der Autoren qualitativ überraschen. Ich hatte mir ein Sonderangebot zukommen lassen: 3 Bände zu 20 Euro, um mal reinzuschnuppern.

Bei vorliegendem Buch handelt es sich um eine von drei verschiedenen Jungautoren verfaßte  zehnköpfige Porträtsammlung a 10 Seiten, von Giambattista Vico bis Václav Havel. Hans Blüher, Friedrich Gundolf, Friedrich Hielscher und Ernst Niekisch hatten mich besonders interessiert. Aber schon der Vico macht deutlich, daß die Autoren oft am Rande ihres Vermögens agieren – das Ganze wirkt etwas oberprimanerhaft. Gewöhnlich streiche ich mir zündende Gedanken an: dieses Buch ist fast unversehrt, sieht man von einer Zitation Heinrich Leos ab. Ausgenommen ist Felix Menzels Beitrag zu Havel. Es ist der einzig durchgehend reflexive und nicht nur narrative Beitrag. Sätze wie diese, kann ich goutieren: „Aber an jede vernünftige Weltanschauung muß eben der Anspruch gestellt werden, daß sie die Unvollkommenheit des Menschen ständig reflektiert.“ Oder: „Die westliche Welt steht vor einer fundamentalen Frage: entweder entscheidet sie sich dafür, mittels Bürokratismus, sanftem Totalitarismus, unreflektiertem Fortschrittsglauben und einer ökonomischen Beschleunigung den erreichten Wohlstand zu halten und weltpolitisch so langsam wie möglich abzusteigen. Oder sie wagt eine Generalrevision der modernen Zivilisation, indem sie auf organische Kräfte, den gesunden Menschenverstand und Eigenverantwortung setzt. Der erste Weg ist der des Konsums bis in den Tod. Der zweite setzt auf eine Revitalisierung der Lebenswelt, die jedoch nur gemeinsam mit einem großen materiellen Verzicht zu haben ist.“

Schriftenreihe BN-Anstoß: Rechts!? Eine Strategiedebatte

Sechs junge Autoren aus dem Kreis der „Blauen Narzisse“ diskutieren über die Begriffe rechts/links, über die Entscheidung zwischen Real- und Fundamentalpolitik (in Eigenbezug und auf die AfD hin) und ob der strategische Weg über eine Elite, eine Volksbewegung, den Parlamentarismus, eine Partei oder den Einzelnen, „der sein Leben selbst in die Hand nimmt“ zu gehen sei. Da die Beiträge schriftlich eingereicht wurden und jeweils zwei, drei Seiten beanspruchen, kommt ein eigentliches Gespräch, ein Aufeinandereingehen, nicht zustande. Die Individualitäten bleiben vage und schwer erkennbar, von libertären oder kulturpessimistischen Statements abgesehen. Die Namen Menzel, Poensgen (Sezession) und Verástegui (BN) waren mir immerhin schon ein Begriff. Beachtenswert ist der mutige Zugriff, der auch die große Geste nicht scheut. Es sind ein paar Satz-Perlen dabei: „Die Wahrheit ist immer eine Befreiung. Sie steht in diesem Sinne rechts, wenn sie dem Grundsatz folgt, daß wahr ist, was der Fall ist. Es ist befreiend, diese Wirklichkeit einfach anzunehmen, anstatt sie mit aller Gewalt verändern zu wollen.“ (Breuer)

„Rechts ist mehr als eine politische Kategorie, zu der es heute herabgewürdigt wird. Es ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält, was ewige Gültigkeit hat.“ (Breuer)

„Unter einem opulenzkapitalistischen sozialen Druck, der keinen höheren Wert außer Arbeit und Vergnügen bzw. Leistung, Erholung und Unterhaltung zuläßt, ist den Deutschen das Deutschtum abgekommen.“ (Verástegui)

„Eine Elite kann nicht das Volk sein, aber sie hat die geschichtliche Gestalt des Volkes zu repräsentieren.“ (Poensgen)

Die Konzerne „müssen global denken, um das Wachstum ihrer Unternehmen aufrechtzuerhalten. Wer heute hingegen regional, national oder europäisch denkt, ist ein Aussteiger im positiven Sinne. Er macht sich Gedanken über seine Identität, obwohl das ökonomisch für obsolet erklärt wurde.“ (Menzel)

Grundtenor dürfte die Forderung nach Ausweitung der Kampfzone sein, weg von Fixierung auf Migration, Ausländerkriminalität und Gender, hin zu ökonomischen, ökologischen, familienpolitischen, Bildungsfragen etc., hin zur Ganzheitlichkeit. Es ist vor allem Felix Menzel, der diese Disziplin einfordert und mit einem schönen Strategiepaper aus seiner Feder endet das Gespräch. Er ist der Bedächtigste und am weitesten Ausgreifende und eine Vertiefung in seine Gedankenwelt könnte lohnend sein.

Goethe: Die Leiden des jungen Werther

Das mußte nach der Theatervorführung einfach sein! Am Stück! Und was habe ich daraus gelernt? 1. Man sollte die Klappe halten – und Goethe lesen. 2. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren ist es mir wieder gelungen, etwas ohne Hintergedanken, etwas „Unnützes“ und bei relativer innerer Ruhe zu lesen – allmählich scheint der Schock des Herbstes 2015 an sein/mein physiologisches Ende zu kommen. Die Konsequenzen wären offensichtlich, oder?

Jürgen Kuczynski: Probleme der Selbstkritik. Sowie von flacher Landschaft und vom Zickzack der Geschichte.

Auf dieses Buch wurde ich von Joachim Radkau in einem Artikel aufmerksam gemacht, der eigentlich zu den Fundstücken gehören sollte, aus unerfindlichen Gründen aber verschwunden ist. Radkau ist ähnlich Sieferle ein wenig bekannter origineller Kopf, der das Ökologie- und Ressourcenproblem schon lange vor der Politisierung bedachte. Er erwähnt Kuczynski und Kuczynski war mal ein ganz Großer – in der kleinen DDR. Eine Reise in die Vergangenheit, die endlich die richtige Perspektive herstellte: die große Autorität der ostdeutschen Gesellschaftswissenschaften, die auch mal gegen den Strich reden durfte, entpuppt sich als repetitiver Selbstbejubler weniger kritischer Gedanken und als Pareiclown mit Narrenfreiheit ohne Konsequenz. Aber auch gut für den einen oder anderen griffigen Gedanken: So faßte er die Wende unter dem Begriff der „konservativen Revolution“ und die Herstellung der Einheit Deutschlands etwa war für ihn: „Die Spaltung einer Nation auf ganz neue Art durch staatliche Vereinigung“. Muß man selbst erlebt haben, um es ironisch genießen zu können.

Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen.

Mit diesem Buch hatte der Literaturwissenschaftler Lethen eine Art Klassiker der 80er Jahre geschrieben – das Buch zirkulierte in den universitären Kreisen und wurde z.T. wie eine codierte Schrift unter Eingeweihten herumgereicht. Natürlich nur im Westen. Heute liest man das im schizophrenen Gestus: einerseits fragt man sich, was die damalige Welt derart in Aufregung versetzte, andererseits sagt ein Buch, das sich so eng an politische Zeiterscheinungen knüpft – Lethen stammt aus dem 68er Milieu – heute etwas anderes als damals. Es steht unverwechselbar in einer bestimmten Tradition, deren offizieller Leuchtturm Klaus Theweleits voluminöse „Männerphantasien“ waren. Theweleit übersetzte damit das 68er-Programm der Nazi-Jagd ins Akademische: plötzlich waren alle Nazis (was wir heute wieder konservativ nennen) und Nazismus war zudem extrem sexuell aufgeladen – eigentlich alles arme ungefickte, in der Kindheit malträtierte und seelenverpanzerte Schweine: Täter-Opfer-Täter-„Dialektik“.

Lethen hebt sich dagegen positiv ab. Sein Ton ist ruhig und gelassen und versucht das offensichtlich Ideologische zu vermeiden, auch wenn seine Befunde ähnlich lauten – vielleicht ist da sogar was dran? Er konstatiert anhand der kurzen Epoche der „Sachlichkeit“ in Literatur und Kunst eben jenen Einbruch der Kälte, der zu Verpanzerungen – hier steht Wilhelm Reich Pate – führt und sich in einer „kalten persona“ in der „Kreatur“ und dem „Radar-Menschen“ realisiert. Und das zieht sich quer durch alle Schulen, von Brecht bis Jünger und von Serner bis Schmitt. Die Reaktionen sind nach der Kontingenzerfahrung des Krieges, der Nachkriegsunruhen und der Ungewißheiten Weimars verständlich. Sie führten zur Renaissance von „Verhaltenslehren“. Und davon gibt es die Menge und Lethen nimmt sie alle auseinander.

Das Buch sprengt den literaturtheoretischen Rahmen und greift weit und kenntnisreich und anstrengend in den Gedankensprüngen (es wird viel angedeutet) ins Historische, Psychologische, vor allem aber Philosophische über. Gerade letzteres hat mich beeindruckt: Lethen denkt genuin, anders als Theweleit. Gelesen – bzw. phasenweise auch nur kursiv gelesen – habe ich es als Vorbereitung für eine spätere Arbeit.

Hugo Hartung: Ich denke oft an Piroschka

Wenn Paul Feyerabend mit seinem Diktum „Kein Gedanke ist so alt oder so absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte“ recht hat, dann sollte das auch für ganze Bücher gelten. Über Hartungs „Piroschka“ habe ich bisher nur die Nase rümpfen sehen, und ich weiß jetzt auch, warum. Wenn man jedoch hinter die Kitschfassade dieser doppelt gescheiterten Liebesgeschichte schaut, dann kann man einerseits eine treffliche Beschreibung einiger Aspekte der „ungarischen Seele“, der Tradition und Geschichte wahrnehmen, die auch heute noch Gültigkeit haben, und zum anderen einen ironischen Blick auf die deutsche Gegenwart Anfang der 20er Jahre. Und vielleicht streift Hartung sogar etwas Wesentliches, wenn er dem jungen ungarischen Mädchen, die in der Milchstraße den Staub „der toten Helden seit Arpáds Zeiten“ sieht, auf gut deutsch – schon um 1925 – antwortet: „Unsere reiten nicht. Die wollen ihre Ruhe!“ Diesem Gedanken könnte man mal nachgehen, er allein hat die Lektüre schon gelohnt und schon wegen ihm hat Feyerabend mal wieder recht behalten.

[1] Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution.
Ulrich Zellenberg: Konservative Profile.
Karlheinz Weißmann: Alles, was recht(s) ist.
Rolf Peter Sieferle: Die Konservative Revolution.
Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens .
Und natürlich der Klassiker: Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932 etc.

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