Das Bild der Epoche

Seit langem hat mich kein Bild mehr so fasziniert wie dieses!

Man kann seine Bedeutung nicht überschätzen – es wiegt die temporären Ergebnisse der Wahl zum Europäischen Parlament locker auf. Mir fällt – sofern es kein Fake ist – kein treffenderes Symbolbild für den geistig-kulturellen und zivilisatorischen Zustand unserer agonierenden Kultur ein.

© Project Possible/AFP/Spiegel

Wir sind durch den Tod zweier Bergsteiger in den Genuß dieses Bildes gekommen. Sie waren in kurzer Folge am höchsten Berg der Welt gestorben, mutmaßlich weil sie zu lange der Höhe ausgesetzt waren und das wiederum waren sie, weil sie sich anstellen mußten, um auf den Gipfel zu gelangen.

Das Bild zeigt, wie sich ein Lindwurm aus zwei- oder dreihundert Bergsteigern – die Quellen differieren hier, vermutlich in Abhängigkeit davon, ob man die Sherpas mitzählt oder nicht  – den Berg hinaufwälzt. Sie stehen Schlange. Ihr Ziel: der Gipfel, 8848 Meter über dem Meeresspiegel. Da aber jeder dort oben sein persönliches Selfie machen und sich der Mystik des Moments hingeben will, muß man an manchen Tagen offensichtlich stundenlang warten, um an die Reihe zu kommen. Derweil erfrieren Zehen oder kollabieren Lungen.

Man wundert sich, weshalb noch niemand auf die Idee kam, ein Après-Ski oder eine Würstchenbude dort oben aufzumachen. Das wäre nicht nur ein sicheres Geschäft, es würde vor allem kongenial den Werteverlust des Ereignisses darstellen.

Es ist erst wenige Jahrzehnte her, da war die Besteigung des Qomolangma eine Sensation und eine Willensleistung weniger außergewöhnlicher Menschen. Seit Edmund Hillary den Berg 1953 zum ersten Mal bezwang, hat sich einiges getan. Auch der Name seines Sherpas Tenzing Norgay ist den Aficionados ein heiliger Begriff. Noch im Jahre 2000 gewann der Geschichtsprofessor Eckhart Freise mit dieser Frage, nach Hillarys Sherpa, die erste Million bei Günther Jauchs Fernsehquiz. Da hätte man freilich schon wissen müssen, daß das Zeitalter der Blasphemie eingeläutet worden war.

Heutzutage könnte eine solche Frage lauten: Wieviele Male bestieg der Sherpa Kami Rita den höchsten Berg der Welt? A: 10 B: 16 C: 20 D: 24. Korrekt ist D, zumindest war es das noch am 22. Mai 2019, es kann morgen schon anders sein.

Was steckt nicht alles in diesem Bild: die Entgrenzung, der Größenwahn, die Gier, das Leistungsdenken, der erfolglose Kampf um die Individualität – mittlerweile waren circa 5000 Leute da oben, Sherpas vermutlich nicht mitgezählt –, der „Rassismus“, der Zwang zum Besonderssein, die Leere des modernen Menschen, seine Rastlosigkeit, die Geschäftigkeit, das Abhandengekommensein eines Lebenssinnes, den man sich dann suchen muß, die Kommerzialisierung, die Überbevölkerung, der Dreck … und die Absurdität von all dem.

Die Familie eines der Toten hatte auch gleich den passenden Twitter-Kommentar – so originell wie die Besteigung des Mount Everest: Er sei bei jener Tätigkeit gestorben, für die er sein Leben lang brannte.

Beim Schlange stehen!

6 Gedanken zu “Das Bild der Epoche

  1. lynx schreibt:

    Ausnahmsweise bin ich dabei beim Kopschütteln, wenn mir auch „agonierend“ mal wieder deutlich zu hochtrabend, ja hysterisch ist. Dennoch macht das Bild fassungslos. Für mich das ikonographische Abbild unseres Konsumismus. Hoffen wir auf die Jugend, die ja bei der Wahl revolutionäre Zeichen gesetzt hat. Mag sie es besser machen.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Ich glaube nicht, dass das Wort Konsumismus den Sachverhalt genau genug trifft. Konsum gibt es in vielerlei Gestalt, und das typische Bild von ihm ist wohl eher der Sofafläzer, der anstrengungslos, aber sensationalisiert in fabrikneuenn zerissenen Hosen vor seiner Glotze hockt und dabei die vom Lieferservice gebrachte Pizza isst. Die – wohl meist – Herren im Bild oben erlegen sich dagegen doch immerhin ein ziemlich anstrengendes Programm auf.

      Warum? Vermutlich, weil nicht jeder sich solche Touren leisten kann. Man will also mit der eigenen renommieren können, es liegt also, enger fassbar, demonstrativer Konsum vor. (Veblen) Dann man könnte sich ja genauso ein ebenso kostspieliges, aber weniger öffentlichkeitswirksames Hobby zulegen, etwa still und heimlich im Keller mit selbstgegossenen Goldstäbchen den Eiffelturm maßstäblich nachbauen; oder etwas banaler, sich in personam als fleißiger bundesweiter Bordelltester betätigen und eine Datenbank über die Qualität der jeweiligen Dienstleistung pflegen, die man dann wohl eher nicht mit Impressum ins Netz stellte.

      Die Aussichten, dass die hierfür anfälligen Menschen ohne gewaltigen sozialen Druck auf irgendeine Möglichkeit zur Befriedigung ihrer Eitelkeit verzichten werden, sind gering. Dieser Druck wäre auch das größere Übel; denn wenn die Everest-Mode mal vorüber sein wird, muss man nur tausend Jahre warten, bis der ganze Dreck von dort oben im Gangesschlamm und im Meer zu verrotten beginnt. Die Natur resorbiert irgendwann alles und lacht nur über uns. Eitle sind übrigens, ähnlich wie Choleriker des nicht nachtragenden Typs, angenehm schlichte Charaktere, auf die man sich sehr gut einstellen kann, mithin eher harmlos.

      Sie rühmen die angeblich revolutionäre Jugend. Aber wie viele der ach so Engagierten tun das, bewusst oder unbewusst, um durch prominente Teilnahme an der jeweils angesagten Weltrettung für sich Ehre einzulegen? Mit den Schafen blökt man meist aus Konformismus oder allenfalls, um so vielleicht einmal Oberhammel zu werden. Zum männlichen Guru geworden, das ist notorisch, hat man guten Zugriff auf gewisse weibliche Ressourcen, siehe Crowley und so viele andere bis hinunter zu den Popstars und Vorabendserienbuben für vier Wochen. Bei den geschuckten Trutscherln in der Art der Roth-Sirene bleibt mir allerdings das Freudsche Rätsel, da gehe ich als alter weißer Mann wirklich am Stock, weshalb ich mit bittenden Gezweigen des Schwellfußes harre, der mir erklären kann, wieso gerade in den Schädeln der Schwestern das Hypermoralgebräuch so sehr kocht und wabert.

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      • lynx schreibt:

        @ P.: Konsum ist doch dann Konsumismus, wenn er nicht zur Befriedigung eines, sagen wir einmal, lebensnotwendigen Bedürfnisses dient, sondern wenn um seiner selbst Willen oder zur Befriedigung nachrangiger Bedürfnisse, sozusagen Sekundär-Bedürfnissen, konsumiert. Also etwa Status, Renommée u.ä. Insofern kann die Pizza Konsum sein – oder Konsumismus, je nach BMI. Die Tour zum Mount Everest ist kein Spaziergang. Sie erscheint mir nur legitim zu sein, wenn es sich um eine Pioniertat handelt, ansonsten ist die Bilanz Selbstwertgefühl : ökologischem Schaden einfach verheerend. Ein klarer Fall von Konsumismus, weil es nur um Renommée bei maximal großem Ressourcenverbrauch geht. Das wird erst aus der Mode kommen, wenn die Kommerzialisierung der Weltraumflüge so richtig einsetzt. Noch mehr Renommée bei noch mehr Ressourcenverbrauch. Und da beschreiten wir dann, ökologisch betrachtet, auch die nächst höhere Ebene, wo mögliche Schäden noch viel schwerer zu ermitteln, zu kontrollieren, zu beheben sind. Maßlos ist halt nur die Gier.

        Gerühmt habe ich die Jugend nicht und die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine spektakuläre Wende zum Besseren in der Menschheitsgeschichte vollziehen könnte, ist so gering wie eh und je. Und ich kann derzeit auch noch nicht erkennen, wo diese Jugend auf ihre geliebten Formen von Konsumismus bereit wäre zu verzichten. Aber offenbar wollen sie in die Verantwortung, und das ist ja auch schon mal was. Den Rest müssen dann mit sich selber und ihren Symbolen und Werten ausmachen.

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  2. interimsloesung schreibt:

    Nicht nur der Andrang mit den damit verbundenen Warteschlangen verderben einem diesen aufwendigen Spaziergang in der freien Natur.

    Auch ein anrüchiges Problem belastet den Alpinisten mehr und mehr. Es gibt keine sanitären Anlagen in den höheren Basislagern und auf dem Weg zur Spitze.Die Menschen erleichtern sich einfach dort, wo sie gehen und stehen und bedecken die Hinterlassenschaft dürftig mit ein wenig Schnee, auf das der nachfolgende Alpinist, ordentlich eingereiht in die Warteschlange, einen Volltreffer landet.

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  3. Pérégrinateur schreibt:

    Keine zwei Kilometer von mir entfernt, also in fußläufiger Entfernung, schlängelt sich ein kleines Bächlein durch den Wald. Ich gehe gerne dort hin, wenn ich mir den menschlichen und gesellschaftlichen Ärger und Unsinn aus dem Kopf blasen lassen will, mit dem man es andauernd zu tun bekommt. Am Waldrand muss man neben dem herausfließenden Bach an geeigneter Stelle durch eine Schlehenhecke brechen, dahinter liegt wegloserHochwald mit eingestreuten Gesträuch- und Krautinseln. Das zu Normalzeiten sicher weniger als 1 l/s führende Kleingewässer zieht sich mit unten sandigem, weiter oben lehmigen Bett knapp einen Kilometer den Wald hoch und zeigt Gleit- und bis zu zwei Meter hohe Prallhänge. Am Mittellauf ist es zu einem bis etwa fünf Meter breiten und 20 Meter langen Kleinteich angestaut, dessen Uferlinie durch in ihn vorspringende, von den Wurzelbereichen dort stehenden Ufergesträuchs gehaltene Halbinseln zergliedert ist, auf einer Seite steht auch eine kleine Röhrichtzone. Weiter aufwärts gibt es in der dort allenfalls etwas über einen halben Metr breiten und bis einen Meter tiefen Bachrinne mit Lehmwänden kaum je Durchfluss. Am oberen Waldrand endet die dort meist dick mit Laub bestreute Rinne vor einer Geländemulde in einem Feld, in dem man nach starken Regenfällen in der vegetationsfreien Zeit Abschwemmungen erkennt.

    Beim Gang über das im unteren Bereich an einer Stelle von Knöterichstangen bewachsene „Hochgestade“ sah ich einst einen bleichen Tierschädel liegen, dessen daraufhin später einmal aufgenommene Fotografie ich einem kundigeren älteren Freund schickte; doch auch er konnte nur vermuten, dass er von einem Reh stammte. Einige Jahre später verstarb er, das Nesthäkchen der Familie, und seine sehr wenig computerkundige älteste Schwester bat mich, in den riesigen Medienbeständen auf seinen Platten seine Familienfotos ausgraben zu helfen. Die waren dann vergleichsweise leicht zu finden, denn er hielt pedantisch Ordnung. Wie wir dann wegen ihres wachsenden allgemeinen Interesses mit einem Bildviewer auch den Ordner mit meinen Zusendungen durchschauten, trafen wir auch auf das genannte Bild, das ich angesichts der familiären Umstände schnell übergehen wollte, aber sie hielt mich zurück und ich musste erklären, worum es sich handelte. Mit ihrem Dentisten-Fachblick klärte sie mich gleich auf, das Tier könne angesichts seines Wiederkäuergebisses mit vielen Mahlzähnen und seiner Schädelgröße nur ein Reh gewesen sein.

    Die Menchen reisen, weil sie erlebnissüchtig sind. Die Welt verstehen kann man in ihrer kleinsten Ecke, es fehlt dafür heute nicht an Quellen. Doch es sollen eben die großartigsten Sensationen sein: Himalaya, Grand Canyon, ferne Meere, bald vielleicht noch Weltraumausflüge, die es doch gar nicht braucht. Wie man sieht, finde ich das Gesetz der Erosion und das Mortui vivos docent in meinem Wald, der für gewöhnlich ganz menschenleer ist. Einmal im Sommer allerdings hörte ich schon beim Anmarsch Gelärm daraus und fast ein halbes Dutzend in ihren hochbockigen Autos über die Feldwege davor irrende Mütter fragten mich, wo denn der erwähnte Teich sei. Sie wollten nämlich ihre Brut abholen, die dort nach einer Schulwanderung ein Grillfest abgehalten hatte, aber anscheinend war trotz ihrer elf oder zwölf Jahre noch keiner unter ihnen, der imstande gewesen wäre, sie in den Ort zurückzuführen. Am Teich selbst bin ich an diesem Tage nicht vorbeigegangen, der Anblick wäre wohl weniger erfeulich gewesen.

    Die Menschen reisen, weil sie, oft ohne es selbst zu wissen, eine Kompensation für ungeliebte Lebensumstände zu suchen, die sie sich selbst erwählt haben. Ein Freund von mir hat eine ökonomisch wenig „rentable“ Karriere in der Wissenschaft hinter sich und trifft nun immer wieder ehemalige Kommilitonen, die ins Rattenrennen bei Großunternehmen ein- und datin aufgestiegen sind; man musste doch schließlich einen Lebensweg einschlagen, der am meisten Geld einbringen würde. Nun berichten sie mit merklichem Verdruß von den dort üblichen Konkurrenz-Nickeligkeiten, lieber aber kommen sie auf ihre kostspieligen Fernreisen zu sprechen, die sich schließlich nicht jeder leisten könne.

    Ihrem Bedauern über den verlorenen Lebenssinn würde ich nicht beitreten wollen. Im Gegenteil, der wirkliche freie Mensch beginnt erst jenseits der Erkenntnis, dass es dergleichen nicht gibt, jedenfalls nicht in der Weise, dass einem jedem der seine in welcher Weise auch immer vorgegeben wäre.

    Notre vie est un voyage
    Dans l’hiver et dans la Nuit,
    Nous cherchons notre passage
    Dans le Ciel où rien ne luit.

    Das Leben ist wie eine Reise
    Im Winter und in tiefer Nacht,
    Wir hoffen dass der Himmel weise
    Den Weg, der doch kein Licht uns macht.

    [[Motto, vorgestellt der « Voyage au bout de la nuit » von Céline, angebliches Lied der Schweizer Garden]

    Mehr zu der gemeinten Reise auch hier:

    https://fr.wikisource.org/wiki/Les_Fleurs_du_mal/1861/Le_Voyage
    https://de.wikisource.org/wiki/Die_Reise_(%C3%BCbersetzt_von_George)

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    • Schädel von Rehen sind im Wald recht häufig zu finden. In meiner kleinen Schädel-Sammlung, die ich mir über die Jahre zusammengetragen habe, liegen gleich zwei davon. Die größeren Waldtiere sind eigentlich fast komplett. Es fehlt mir nur noch eine Spezies und das, obwohl ich das Glück hatte, zwei Exemplare auf archäologischen Ausgrabungen eigenhändig freilegen zu dürfen. Sie ruhen nun in irgendwelchen Schubfächern im Archäologischen Landesamt und werden wohl nie wieder sinnend betrachtet.

      Diese Spezies ist – trotz hoher Populationsdichte – nicht einfach zu beschaffen. Wie man erfährt, gibt es aber einen Ort, wo man sie recht häufig finden kann: den Mount Everest. Vielleicht werde ich aus Sammelleidenschaft auch noch Bergsteiger.

      Extrembergsteigen ist freilich eine sehr seltene Form des Reisens. Ob es darunter überhaupt „wahre wandrer“ gibt? Oder sind sie es alle? Jedenfalls hatte der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch in seinem „Ästhetischen Denken“ schon vor 30 Jahren dafür plädiert, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Reiseeindrücke auf dieses zugunsten eines schönen Bildbandes zu verzichten. Er hatte dabei die Pyramiden erwähnt, die unter dem touristischen Streß leiden, also auf das Paradox hingewiesen, daß der Tourismus dasjenige – oder zumindest dessen Magie – zerstört, was ihn antreibt. Und obiges Bild scheint nun diesen Gedanken treffend auszudrücken.

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