Arztbesuch in Ungarn. Beim Spezialisten. Freie Sprechstunde von 17 bis 18 Uhr – wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich finde mich dreiviertel sechs ein und drehe sofort um. Der Warteraum übervoll, die Schlange bis auf die Straße. Eine einfache Rechnung: jeder Patient mindestens fünf Minuten, mal 30 … Komme kurz nach acht wieder und kurz vor neun endlich dran. Die anderen saßen dort, oft noch in Arbeitsklamotten, direkt nach der Arbeit, manche mit Kleinkindern. Ein fünfjähriger Junge ist nur noch mit Ballerspielen auf dem Handy seines Vaters ruhigzustellen. Vollkommen emotionslos knallt er einen Soldaten nach dem anderen ab. Die Behandlung kostet 8000 Forint, auf die Hand. Eine Quittung – so sagt mir der Arzt und wird etwas rot dabei – könne er nicht ausstellen, da es keine Verträge zwischen den Kassen gebe. Er selbst dürfte den ganzen Tag bereits im Krankenhaus gearbeitet haben. Die Sonderschicht, die er zwei Mal pro Woche einlegt, dürfte sich aber lohnen. Wenn nur 25 Patienten jeweils 8000 (oder bei Nachbesuchen 5000) Forint bezahlen, dann verdient er in den vier Stunden mehr als 40% der normalen Menschen, die nach einer Monatsarbeit mit Mindestlohn nach Hause gehen: 149000 Forint (ca. 460 Euro).
Immer wieder sehe ich Menschen in Lonsdale-Kleidung herumlaufen. Ganz frei und unbeschwert, sich der politischen Aufladung nicht bewußt, die den Träger dieser Marke in Deutschland sofort stigmatisieren würde. Vom rosaroten Glitzer-Girlie-Shirt bis zum schwarzen Tracksuite, vom Polo-Hemd bis zum Herrenschlüpfer alles dabei. Ich stelle mir vor, wie die Leute nichtsahnend damit durch die Dresdner Neustadt oder durch Kreuzberg schlendern.
Auf einem Geländer sehe ich diesen Aufkleber.
Was könnte er bedeuten? Zwei Tage später ist er abgekratzt. Auch in Ungarn gibt es Kampf den der Meme. Orbán auf einem kleinen Zug – das ist vermutlich eine ironische Anspielung auf jenen Privatzug, den sich Orbán nach Felcsut – seiner Geburtsstadt – hat bauen lassen. Er fährt bis vor das Pancho-Stadion, wo der Erstligaklub „Puskas Akademia“ in nagelneuer Hightech-Arena vor leeren Rängen meist grottenschlechten Fußball spielt. Puskas Akademia ist Orbáns Lieblings- und ein Retortenklub. Der Aufkleber – wie eine kleine Gugelei ans Licht bringt – wird von der „Partei des zweischwänzigen Hundes“ vertrieben, einer Spaßpartei, die bei der letzten Wahl 1,75% der Wählerstimmen erkämpfte. Hier im Fidesz-Land – das ist alles, außer Budapest – haben solche Botschaften eine kurze Halbwertzeit.
Ein paar Tage in Sopron. Eine wahrlich pittoreske Stadt, Städtchen vielmehr, in malerischer Gegend. Das Lexikon sagt 60000 Menschen, die Innenstadt aber wirkt wie ein mittelalterlicher Flecken, eine Insel. Drei Gassen, zwei Plätze, vier Kirchen, ein Kloster, aber jedes Häuslein ein Schmuckstück, keines ohne die Tafel „müemlék“ – Denkmal. Zwei Synagogen gibt es auch, heute außer Betrieb: eine alte und eine uralte, 16. und 13. Jahrhundert. Vielleicht am beeindruckendsten die beiden Buchantiquariate. Touristen kommen hier vornehmlich als turista, als Ungarn. Wenn ein Magyare eine Reise tut, dann vorzugsweise im Inland. In vier Tagen sehe ich einen Dunkelhäutigen, einen Sikh und eine Muslima durch die Straßen schlendern und freue mich über ihr Interesse.
Auf dem Konzert der ungarischen Softrockband „Ismerös Arcok“. Altersdurchschnitt des Publikums 40 plus. Ein paar Typen erscheinen in Schafspelz gekleidet, Magyarenbärte und langen, zu dünnem Mongolenzopf geflochtenen Haaren. Am Verkaufsstand neben Banddevotionalien viel rot-weiß-Grünes. Rockkonzerte im Sitzen sollten verboten werden! Wir sitzen brav in Kinosesseln; die Band weiß schon Bescheid und nimmt auch Platz. Nach jedem Lied gibt es brav den typisch ungarischen Beifall, der sich vom deutschen und europäischen unterscheidet. Kulturelle Prägungen verschonen scheinbar nichts. Die Ungarn klatschen in anschwellenden Kaskaden: zuerst ist der Beifall wild aber schon nach wenigen Sekunden finden sie einen gemeinsamen Rhythmus der immer schneller wird, so schnell, daß er am Ende wieder ins Chaos fällt und sich nach wenigen Sekunden erneut rhythmisiert – in langen Schleifen.
Zum letzten Lied – das bekannteste der Band – stehen plötzlich alle auf und singen mit. Warum? Ich erfahre, daß sich dieser Song als eine Art vierter Hymne etabliert habe. Neben der offiziellen Hymne, gelten auch der „Székely himnusz“ – das Lied der Szekler-Ungarn – und Vörösmartys „Szózat“ („Aufruf“)[1] als geweihte Lieder. In „Nélküled“ – „Ohne Dich“ – wird die Trennung von den siebenbürgener Ungarn betrauert.
Wie weit das Nationalgefühl in Ungarn geht, zeigen die vielen Trianon-Formen, die man allerorten sieht: als Autokleber, Schnitzware, als Uhren, Gürtelschnallen, Kettenanhänger, Ringe, Tattoos, auf T-Shirts usw. Und sogar als Wurst! Leider habe ich es verpaßt, davon ein Photo zu machen und im Netz auch keines gefunden (Torten gibt es zahlreiche) – als Vorstellungshilfe hier ein Schnitzel:
Ab und an begegnet man einem alten Zigeunermütterchen. Klein, gebeugt, in langen, ehemals bunten Röcken. Sie ziehen ein Wägelchen hinter sich her oder tragen eine große Plastiktasche. Einmal lag eine im Schnee und bewegte sich nicht mehr. Jemand hatte einen Rettungswagen gerufen, die Sanitäter griffen sie und stopften sie in den Wagen. Eine andere bewegte sich in zwei Stunden – für mich war es Hin- und Rückweg – 200 Meter vorwärts. Ihre Lebensflamme scheint winzig klein und doch unauslöschlich zu sein.
Völlig unerklärlich ist mir, warum in Ungarn – diese Beobachtung beruht freilich nur aus der Erfahrung mit einer Stadt und nur einem Viertel dieser Stadt –, warum in Ungarn ständig irgendwelche Alarmsirenen ertönen. Autos schlagen in der Mittagshitze Alarm, Häuser des Nachts, ein nahegelegener Supermarkt desgleichen und wieder Autos zu nachtschlafender Zeit. Noch nirgendwo ist mir das so aufgefallen. Nie passiert etwas, kein Einbruch, keine Randale, keine Polizei, oft keine Menschenseele auf der Straße aber irgendein Gerät – mindestens ein Mal, meist öfter am Tag – heult mit hohem Sirenenton los. Man erwacht schon gar nicht mehr und wenn doch, dann wartet man, bis der Eigentümer – hoffentlich – in den nächsten Sekunden erscheint, und wieder für Ruhe sorgt.
Besuche fast jeden halbwegs vernünftigen Kultur-Vortrag in der Stadt. Verstehe zwar fast nichts – aber genau deswegen gehe ich hin. Mehrmals wurde ich mit dem Thema Siebenbürgen konfrontiert. Ein in Siebenbürgen geborener Historiker sprach über den Krieg, ein Kunsthistoriker über die Volkskunst, jemand stellte ein neues Buch über die regionalen Dialekte vor und einmal stand eine Frau aus dem Publikum auf und erzählte unter Tränen von ihrer Heimat und wie dankbar sie doch Orbán sei, den Faden zu den siebenbürgener Ungarn nicht abreißen zu lassen. Und das hatten alle Wortmeldungen gemeinsam: sie waren emotional, sie waren sehr persönlich, sie sprachen – oft zu wortreich – von einem tief empfundenen Schmerz. Diese Wunde ist längst noch nicht verheilt.
Wechsle ein paar Worte mit dem Nachbarn. Da tritt ein Mann an den Zaun und ruft uns etwas zu. Es folgt ein kurzer Wortwechsel, dem ich nicht folgen kann. Auf Nachfrage erfahre ich, daß ein Vertreter von Orbáns Klingelkolonie vor der Tür stand. Er sammelt mal wieder Unterschriften. Diesmal für sein „Viktor-Orbán-Programm“, das in sieben Punkten einen Plan umschreibt, die Einwanderung zu verhindern. Eine Million Stimmen will er sammeln. Mein Nachbar lächelt den Mann an und sagt, er habe keine Zeit. Sie lachen beide und wissen es zu nehmen. Zu mir gewandt, winkt er nur verächtlich ab.

im Briefkasten: Orbáns Wahlwerbung zur EU- Wahl. „Mit uns auch in Brüssel Ungarn zuerst!“
Fidesz gewinnt am 26. Mai 52% aller abgegebenen Stimmen!
Nun ist es wieder passiert. Eine Mail der Vermieterin, wir sollten doch bitte unseren Rasen mähen. Gerade jetzt, wo die wilden Blumen ihre Blüten treiben, die Ameisen ihre Hügel bauen, die Spinnen ihre Netze, wo endlich alles kreucht und fleucht, in vielen zarten Farben blüht, gerade nun, wenn ich mich voller Freude jeden Tag in den Garten setze – nur ein paar Quadratmeter – und die Wunder der Natur betrachte, soll ich den Rasen mähen. Klar, als Gast hält man sich an die Norm. Sie schreibt, sie wolle nicht wieder Ärger mit den Nachbarn. Rechts von uns wohnt ein Perfektionist, der zwar fast nie den Garten betritt oder doch nur zum Mähen, bei dem aber alles perfekt sein muß und an der Stirnseite ein alter Mann, der nur ein bißchen Rumstänkern will. Und das stört mich wirklich an den Ungarn: das dauernde Ducken voreinander. Die Angst vorm anderen. Der Garten ist nur Symptom eines größeren Problems. Auch politisch: man tuschelt hier, der Name Orbán fällt immer wieder, aber nur wenige riskieren die öffentliche Kritik. Und das hängt weniger mit Sorge vor Restriktion zusammen, als mit Mentalität. Das geht tiefer.
[1] „Deiner Heimat sei unerschütterlich treu, oh Ungar!
Dies ist deine Wiege und dereinst auch dein Grab,
die/das dich hegt und bedeckt.
Auf der großen Welt gibt es sonst keinen Platz für dich.
Mag die Hand des Schicksals dich segnen oder schlagen –
hier mußt du leben und sterben.“
siehe auch: Ungarische Vignetten