Sintflut in der Ukraine

In meiner Jugendzeit pflegte ich einen kurzen Briefwechsel mit einer russischen Brieffreundin. Daß sie eigentlich Ukrainerin war, spielte damals keine Rolle. Es gab auch noch eine Brieffreundin auf Tasmanien, aber die ist im heutigen Zusammenhang bedeutungslos.

Beide Briefwechsel vereinte, daß ich aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse eigentlich hätte gar nicht schreiben können, aber irgendwie bastelte man etwas zusammen und die andere Seite war so nett, so zu tun, als ergäbe das irgendeinen Sinn. Ich schrieb auf Russisch, was mir heute wie ein Wunder vorkommt, denn ich konnte nie Russisch, weder in der fünften noch in der zwölften Klasse, das gesamte System war ein einziger Selbstbetrug, man mogelte sich immer irgendwie durch, eine Drei oder Vier war das Minimalziel das man mit geringstmöglichen Ressourcen zu verwirklichen versuchte. Die Sprache war an sich verhaßt. Kaum jemand mochte sie und nur ein oder zwei brave Mädchen brachten es pro Klasse zu einem tauglichen Niveau und auch das erwies sich als untauglich, sobald sie in der Sowjetunion waren.

Solche Brieffreundschaften – vor allem, wenn sie in die SU gingen – wurden an den Schulen gern gesehen und gefördert und ich kann nicht ausschließen, daß ich den Zirkus deshalb mitmachte, um mir meine Drei zu sichern. Den Namen des Mädchens habe ich vergessen, den Ort, aus dem sie schrieb jedoch nie. Er hieß Gornostajewska (Горностаевка) – eines der wenigen russischen Wörter, die mir aufgrund des Wohlklanges im Gedächtnis geblieben sind. Heute heißt das kleine Städtchen Hornostajiwka, 50 km nördlich des Staudammes,  und ich kann mir nicht helfen, aber das klingt nur halb so schön. Es liegt am Ufer des Kachowkaer Stausees – oder besser, seit heute: es lag.

Unbenannt

Die Staumauer dieses Sees wurde heute gesprengt, das Leben der mittlerweile auch schon älteren Frau – sollte sie noch dort leben – dürfte eine weitere entscheidende Wende genommen haben. Denn natürlich lebte der Ort – wie so viele andere – vom und mit dem Wasser. Wenn es abgeflossen sein wird, dann wird sich vermutlich der natürliche Lauf des Dnepr wieder einstellen und der mag Kilometer entfernt liegen.

Die Dimension dieses Sees kann man sich kaum vorstellen. Er ist 230 km lang, fast vier Mal so lang wie der riesige Balaton, Europas größter Binnensee. 230 km, das ist die Entfernung von Berlin bis Stralsund, aber alles in Wasser. Sofern zu sehen ist, gibt es keine höheren Staustufen, ein seit 70 Jahren mehr oder weniger eingespieltes natürliches und menschliches System wurde mit einem Schlag zerstört.

Sowohl Rußland als auch die Ukraine hingen am Tropf dieses Riesengewässers, das die Einheimischen „море“ nannten. Sollten es die Russen gewesen sein, dann kann das eigentlich nur als ein Zeichen für die perspektivische Aufgabe der Krim gewertet werden.  In der Ukraine war die gesamte Landwirtschaft des Südteiles abhängig davon, die Halbinsel Krim wiederum überlebte mit diesem Wasser. Die Bedeutung dieser Sprengung ist nicht zu unterschätzen – wir sind in einen neuen Zustand, eine neue Phase des Krieges eingetreten. Es ist eine Atombombe mit anderen Mitteln.

Nach allen Regeln der Vernunft konnte keine der beiden Kriegsparteien ein Interesse an der Sprengung haben. Es ist eine jener Unkalkulierbarkeiten, ja Unwahrscheinlichkeiten mit denen man in einem Krieg rechnen muß, mit denen aber kaum jemand vorab rechnet. Spieltheoretisch ergibt das auf den ersten Blick keinen Sinn. Eine schier unfaßbare Ausweitung der Kampfzone.

Die Ukraine kämpft nun mit den unmittelbaren Folgen der Flutwelle und wird später vor existentiellen Versorgungs-Problemen stehen, muß jetzt vor allem auch das Kraftwerk Saporoschje herunterfahren, Rußland wird schnell Lösungen finden müssen, seine Bevölkerung auf der Krim mit Wasser zu versorgen.

Daraus ergibt sich der Schluß – als waghalsige These –, daß dieses Attentat ein Resultat der Irrationalität ist. Es kämpfen da unten zu viele fragwürdige Akteure mit zu großen Möglichkeiten. Ein durchgeknallter Warlord dürfte vielleicht die „logischste“ Erklärung sein. Zu denken wäre auch an eine externe Macht, die ein Interesse an einer Verschärfung der Lage hat – vielleicht sogar mit dem Ziel, den Konflikt zur Entscheidung zu bringen. Aber all das ist Kaffeesatzleserei.

Sollte dennoch eine der beiden Kriegsparteien par ordre du Mufti gehandelt haben, dann Gnade uns Gott! Denn wenn diese Eskalationsstufe möglich ist – eine umfassende Politik der verbrannten oder überschwemmten Erde, ein nach-uns-die Sintflut -, dann ist wohl alles möglich.

5 Gedanken zu “Sintflut in der Ukraine

  1. Ulrich Sckaer schreibt:

    Welcher der Antagonisten ist – alles in allem – in der schlimmeren, existentiell bedrohten Lage? Etwa Rußland, das über weitere waffentechnische Eskalationsstufen verfügt? Die Ukraine kann an einer flächendeckenden Selbstzerstörung, die der Umsetzung eines Nerobefehls gleichkäme, kein Interesse haben. Plausibel scheint mir, dass die Zerstörung des Staudamms eine Antwort auf die zunehmenden ukrainischen Aktivitäten darstellt. Eine weitgehende Zerstörung der Ukraine könnte das neue Kriegsziel des Kreml sein. Die Fluchtbewegung in ost- und westeuropäische Länder wird stark zunehmen.

    In enger Anlehnung an an einen Sinnspruch des Wirtschaftsministers könnte man zynisch sagen: „Natürlich können die Staumauern der Gewässer in der Ukraine weiterstauen, sie sind ja gebaut.“ Verzeihen sie den traurigen Sarkasmus. Ich arbeite mich gerade durch ein halbes Dutzend vergilbter Kladden, die mein verstorbener Vater (16 Jahre jung bei Beginn des WKII) über seine Kriegserlebnisse in Ukraine und Rußland (Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Dezember ‘48) hinterlassen hat. Man begreift, wie nahe uns das alles ist, und wie wenig wir – in jeder Hinsicht – vorbereitet sind.

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  2. Otto schreibt:

    Entschuldigung, Seidwalk, mein Posting war jetzt keine Kritik, oder eine orthografische Richtigstellung. Es ist nur verdammt interessant, was die Menschen alles so machen im Leben. Ich bin fasziniert. Deine Version scheint mir Ausweis des Überschwappens der engl. Sprache in das Deutsche. Ich werde solche sprachbeobachtenden Bemerkungen aber unterlassen, wenn es Dich stört…. Entschuldige also nochmal – Aber da Deine Bemerkung auf eine ferne Überschwemmung abzielte, fiel mir zuerst die nähere und bedrohlichere in die Augen… auch hier ist ein Damm gebrochen, wenn auch wohl schon vor längerer Zeit.

    Seidwalk: Kein Grund sich zu entschuldigen, aber auch keiner, vertraulich zu werden. Natürlich können Sie jederzeit Kritik anbringen, auch sprachliche – ich bitte sogar darum. Nur schien mir Ihre im heutigen Kontext einfach fehl am Platze.

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  3. Nordlicht schreibt:

    An einer Stelle im Internet wurde die Sprengung als Auftakt der ukrainischen Offensive gedeutet, denn die russischen Front-/Verteidigungs-Anlagen am Ostufer des Dnjepr seien auf einen Schlag weggeschwemmt.

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  4. Peter schreibt:

    Es ist Entscheidung einigen, welche nicht betroffen sind, weil sie genug weit von Ukraine ihre Entscheidungen teffen. Nein, nicht in Moskau…Oder Peking…

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  5. Otto schreibt:

    Bislang kannte ich nur „par ordre du mufti“ und „par ordre di mufti“. Mit diesem Text tritt die Dritte Version der Sammlung bei „par ordre de mufti“! Die ursprünglich französische Wendung, im Deutschen durch den alten Fritz sprichwörtlich, scheint sich auch den englischen Sprachraum erobert zu haben.
    https://books.google.com/ngrams/graph?content=du+Mufti%2C+di+Mufti%2C+de+Mufti&year_start=1800&year_end=2019&corpus=de-2019&smoothing=3

    Seidwalk: Mann, ham Se keine andren Probleme?!

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