Aufklärung und Sklaverei

Hampstead Heath im Frühjahr ist eine naturbunte belebende Oase im Großstadttrubel Londons. Der riesige Park im Norden der Stadt ist mehr als eine grüne Lunge, er beherbergt auch unerwartete Schätze. Plötzlich steht man vor einem opulenten Bau im klassizistischen Stil, der wie ein verzaubertes Schloß die Gegend überragt: Kenwood House.

Der Eintritt ist frei, schnell verschluckt den Besucher eine andere Zeit, in die man unmerklich versinken könnte, wenn man das Erlebnis nicht mit hunderten aufgeregten Ausflüglern teilen müßte. Die Architektur ist überwältigend, die grandiose Bibliothek ein Schmuckstück, die Gemäldesammlung exquisit: Rembrandt, Vermeer, Frans Hals, Turner und viele unbekannte Meister. Doch ein Bild sticht hervor. Nicht nur, weil es die einzige Kopie ist, sondern weil es eine bislang ungesehene Szene zeigt. Es wirkt paradiesisch und rebellisch zugleich.

© Wikipedia public domain, zugeschrieben Johann Zoffany

© Wikipedia public domain, zugeschrieben Johann Zoffany

Zwei junge Damen in edlem Satin im Park vor prächtiger Kulisse. Tatsächlich kann man vom Hügel noch heute die St. Paul‘s Cathedral sehen – von Betonbauten umgeben. Man weiß sofort: die Szene spielte sich just an diesem Platze ab. Freundlich lächeln die Mädchen den Betrachter an, die eine weiß wie ein Laken, ganz dem Schönheitsideal der Zeit angepaßt, die andere mit dunkler Hautfarbe.

Nun gibt es eine ganze Reihe von Bildern dieser Art, doch von diesen unterscheiden sie sich wesentlich: Die farbige Person ist als Diener, als Untergebener zu erkennen, sie schaut „Herrn“ oder „Herrin“ demütig an, ist in der Regel niedriger plaziert, trägt einfachere Kleidung, wird oft als minder hübsch gezeigt, kurz: machte einen Wesensunterschied deutlich.

Nichts von alledem auf diesem Bildnisse. Zwar deutet das aufgeschlagene Buch des hellen Fräuleins auf ihre gehobene Bildung und damit ihren Status hin, doch sind beide in edle Kleider gehüllt, tragen beide teures Geschmeide, schauen beide den Betrachter direkt an und das dunkelhäutige Mädchen, das durch eine kecke Geste und freche Grübchen auf ihren Sonderstatus noch einmal hinzuweisen scheint, steht sogar über ihrer Partnerin. Der Turban signalisiert das Außergewöhnliche, die weißen und dunklen Trauben auf dem Tablett sind metaphorisch eindeutig.

Was hat dieses außergewöhnliche Arrangement ausgerechnet im Hause von William Murray, dem berühmten Lord Mansfield (1705–1793), dem bedeutendsten Juristen seiner Zeit zu suchen? Die Geschichte ist gerade heute wert, erzählt zu werden.

Noch in den 70er Jahren glaubte man auf dem Bild trotz der eigenartigen Komposition „Lady Elizabeth Finch-Hatton with a Negress Attendent“ zu sehen. Erst neuere Forschungen belehren uns eines anderen. Zum Zeitpunkt der Entstehung war Lady Finch-Hatton noch unverheiratet. Sie lebte als Elizabeth Murray im Hause des mächtigen Lord Chief Justice (Oberster Richter) und wurde als Nichte Adoptivkind, nachdem sie zur Waise geworden war.

Lord Mansfield stammte selbst aus verarmtem schottischem Adel und arbeitete sich mit eisernem Willen und überragender Intelligenz zum höchsten juristischen Amt durch. Seine Eloquenz und Weisheit wurden sprichwörtlich, Alexander Pope, sein Freund, nannte ihn die „Silberzunge“. Mansfields Gerichtsreden müssen rhetorische Meisterwerke gewesen sein, der Großteil fiel wohl sozialen Unruhen und der Vernichtung seiner Londoner Bibliothek zum Opfer. Danach zog er sich auf Kenwood House zurück und machte es zu jenem opulenten Palast der Pracht, wie man ihn heute, nach der Renovierung, wieder bewundern kann.

Mansfield stand in der Tradition der Philosophie des großen Aufklärers John Locke, dessen „First Treatise of Government“ mit den kraftvollen Worten begann: „Slavery is so vile and miserable an estate of man, and so directly opposite to the generous temper and courage of our nation; that it is hardly to be conceived, that an Englishman, much less a gentleman, should plead for it.”

Vielleicht hatte diese Überzeugung eine Rolle gespielt, als Mansfield und seine Frau – ihre ansonsten glückliche Ehe war kinderlos geblieben – etwa zeitgleich zur Adoption der jungen Elizabeth ein weiteres Mädchen aufnahmen. Sie war die Tochter des Marinekapitäns John Lindsay, ein Neffe Murrays, gezeugt auf einem vielleicht eroberten Schiff mit einer schwarzen Sklavin. Ihr legaler Status war dadurch kompromittiert: als natural daughter eines weißen Offiziers standen dem Kind gewisse Rechte zu, als Kind einer Schwarzen war sie deutlich benachteiligt, zumal der geschlechtliche Verkehr zwischen Weißen und Sklaven unter Strafe stand.

Es muß eine enorme Sensation gewesen sein, als Mansfield entschied, das kleine dunkelhäutige, illegitime Mädchen in die Familie aufzunehmen und gleichberechtigt und geschwisterlich mit Elizabeth zu erziehen. Sie erhielt den Sklavennamen Dido nebst Elizabeth als Geburtsname und den Nachnahmen Belle für „schön“. Und schön war sie offensichtlich, was ihr sicher so manche Anfeindung, besonders unter den Damen der Gesellschaft eingebracht haben dürfte.

Die Sklaverei war seit langem schon ein zentraler Streitpunkt im öffentlichen Leben. Millionen von Menschen wurden zwischen Afrika, Europa und Amerika hin und her geschifft, ein Viertel davon überstand die Reise nicht, die anderen mußten massenweise auf den überseeischen englischen Zuckerplantagen unter unvorstellbaren Bedingungen arbeiten, um den Hunger nach dem „weißen Gold“ zu befriedigen. Der Sklavenhandel war in höchster Blüte, aber auch die Abolitionisten gewannen rasant an Zustimmung. Es kam in Mode, auf Zucker zu verzichten – eine frühe Form des Konsumentenstreiks. Lord Mansfield war in dutzende entsprechende Verfahren verwickelt, immer wieder kreuzten sich die Interessen und immer öfter tauchten moralische Fragen auf.

Mit zwei Meilenstein-Entscheidungen trug er wesentlich zur Abschaffung der Sklaverei bei. Nicht immer freiwillig, denn als oberster Richter lag ihm das Recht am Herzen und nicht die Moral und also mußte er abwägen zwischen ökonomischen und juristischen Implikationen – immerhin war der Sklavenhandel ein Millionengeschäft und mit der gesamten Wirtschaft verquickt, seine Abschaffung konnte unmittelbare Auswirkungen auf das gesellschaftliche Wohlergehen haben.

Sein Motto lautete: „Fiat justitia, ruat caelum“, es durchzusetzen war mitunter schwer. Es ist vor allem politischen Aktivisten wie Granville Sharp zu danken, die Mansfield mit ihren Argumenten immer weiter vor sich hertrieben.

So etwa im Fall Somerset, der mit dem Freispruch eines Sklaven endete. Mansfields abschließende Worte wurden legendär: „The state of slavery is of such a nature, that it is incapable of being introduced on any reasons, moral or political; but only positive law, which preserves its force long after the reasons, occasion, and time itself from whence it was created, is erased from memory: it’s so odious, that nothing can be suffered to support it, but positive law. Whatever inconveniences, therefore, may follow from a decision, I cannot say this case is allowed or approved by the law of England; and therefore the black must be discharged.” “Odious” (widerwärtig), ist ein sehr starkes und überraschendes Wort für einen Lord.

Damit war der Sklaverei de jure ein Ende gesetzt. Im berühmten Fall um das „Massaker auf der Zong“, wo über 140 Sklaven über Bord geworfen worden waren, um Versicherungsgelder zu kassieren, bestätigte er diese Entscheidung noch einmal. Von nun an waren Sklaven auf englischem Boden frei.

Das weckte Ängste! Ein Zuckerplantagenbesitzer etwa sah „ganze Sklavenhorden sich umgehend auf den Weg nach England machen, sich mit lower-class-Frauen vermehren und Bastarde zeugen (mongrelise), so daß die Engländer bald dunkelhäutig wie die Portugiesen aussähen“ (Byrne, 146). Zu diesem Zeitpunkt lebten allein in London schon 15000 „Negroes“, ein Drittel davon frei und unabhängig, die meisten noch auf lange Zeit in niederen oder abhängigen Positionen.

Schon damals meinten böse Zungen, daß Mansfields Urteil nicht objektiv gewesen sei – die Frage wird bis heute diskutiert. In seinem Hause lebte eine junge schwarze Frau, umsorgt und geliebt, mehr vielleicht als ihre „Schwester“ Elizabeth, sensibel, gebildet, hübsch. Sie übernahm sogar vertrauliche Schreibarbeiten für den Starjuristen. Könnte sein Urteil also von ihr und ihrer Existenz beeinflußt gewesen sein? Hatte der reine Rationalist und nach außen kühle Vernunftmensch nicht doch eine persönliche Schwäche für die Farbigen? War es nicht denkbar, daß er an Dido dachte und an Didos Mutter, als er die bahnbrechenden Urteile fällte?

Der 2013 abgedrehte Film „Dido Elizabeth Belle“ im Hollywood-Stil scheint das bestätigen zu wollen, ist aufgrund der künstlerischen Freiheit aber keine vertrauensvolle Quelle. Dort werden die Fälle Somerset und Zong nicht nur vermischt, dort wird nicht nur Didos späterem Ehemann John Davinier die Identität des Abolitionisten Sharp übergestülpt und das Ganze mit typischem Liebesdrama untermalt, dort wird vor allem Dido selbst eine aktive Rolle bei der Urteilsfindung eingeräumt. Das ist weit jenseits des zeitbedingt Möglichen. Auch wenn die junge Frau mit einem stattlichen Erbe versehen wurde, so war es doch deutlich weniger als für Elizabeth, der späteren Lady Finch-Hatton, und Dido selbst blieb den meisten Londonern unbekannt, im Goldenen Palast versteckt.

Mansfield war mutig, aber eben auch ein Sohn seiner Zeit. Nach seinem Tod kaufte Dido zusammen mit ihrem Mann ein kleines Haus am Stadtrand, lebte ein kleinbürgerliches Leben.

Sie starb 1803 im Alter von 43 Jahren. Sie war Mutter dreier Kinder, sogenannter „Quadroons“ – drei weiße Großeltern, ein Viertel schwarz. Ihr letzter nachweisbarer Nachfahre starb 1975 ausgerechnet in Südafrika – als Weißer.

Quellen:

Paula Byrne: Belle. The true story of Dido Belle. London 2014

Lucy Inglis: Georgian London. Into the streets. London 2014

Wikipedia

siehe auch: Die Geschichte der Sklaverei

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