Erziehung kaputt

Hätte ich gewußt, wer an der Tür steht, ich wäre nicht öffnen gegangen. Dabei hätte man es an der Art des Klingelns bereits ahnen können.

Es ist eine Bekannte nebst Kind. Sie, bewußt alleinerziehend, aus Nord- also Westdeutschland stammend, hat das Organ eines Janitscharen. Der Junge, dreieinhalb Jahre alt, gilt allgemein als unerziehbar, ist laut, unruhig und nörgelig, sobald er nicht seinen Willen bekommt. Nun möchte er unsere Katze sehen. Die jedoch hat ein untrügliches Gespür und flieht das Balg gewöhnlich, sobald sie es sieht. Heute aber schläft sie und ich kann den Jungen dazu bewegen, still zu halten, in die Knie zu gehen – und siehe da, die Mieze kommt und läßt sich streicheln. Aber dann springt er plötzlich auf, läuft ihr nach und das Kätzchen verschwindet im Flug durch den Gartenzaun und wird sich erst eine Stunde nach Verabschiedung der beiden wieder ins Haus wagen.

Nun springt der Kleine auf dem Trampolin herum, aber auch das beginnt ihn schnell zu langweilen. Währenddessen wird meine Frau in voller Lautstärke zugetextet. Daß sie nicht antwortet, sondern nur mit „hmm“ und „mmh“ reagiert, signalisiert mir, daß sie das „Gespräch“ nicht auch noch anheizen möchte und auf ein natürliches Verebben hofft. Da dem nicht so ist, ziehe ich mich still und heimlich ins Arbeitszimmer zurück. Eigentlich wollte ich im Garten lesen, aber das ist nun Illusion, also verkrümele ich mich und lerne wenigstens ein paar Vokabeln.

So war mein Notplan, aber schon tapsen Kinderfüße die Treppe hinauf und man hört den Jungen rufen „Ist hier jemand?“ Bald hat er mich entdeckt und ich lächle ihn an – schließlich kann der Arme nichts dafür.

„Was machst du denn?“, fragt er und sieht das Tablet in meiner Hand. Und nun kommt er, für mich – der ich ihm nie viel Aufmerksamkeit geschenkt habe – völlig überraschend auf den Sessel gekrochen und setzt sich ganz vertraut auf meinen Schoß.

Da wird mir klar, was dem Jungen fehlt, unter anderem: ein Vater, ein männliches Vorbild. Plötzlich ist er ganz sanft wie meine Katze, wenn sie nicht von kleinen nervigen Jungs aufgeschreckt wird. Ohne zu verstehen, was ich da mache, schaut er mir zu, fragt und ich antworte ihm in ruhigem Ton. Es ist, als ob für einen Moment die Luft aus diesem prallen Ballon abgelassen wurde, als finde dieser überreizte Körper das, was er braucht und sucht: Ruhe und Sicherheit und jemanden zum Anlehnen.

So sitzen wir und unterhalten uns ganz normal. Ich kann ihm sogar das ungarische Wort für „Hummel“ lehren: „poszméh“ und dabei summe ich leise.

Aber die Idylle ist nur von kurzer Dauer. In seiner ärmlichen Sprache sagt er was von „Auto kaputt“. Ich verstehe erst nach einer Weile. Er will etwas sehen mit „Auto kaputt“. Also lasse ich ihn gewähren. Mit großer Kennerschaft wischt er mein Vokabellernprogramm beiseite, drückt auf das „Youtube“-Zeichen und sagt mir dann, ich solle „Auto kaputt“ eintippen. Das tue ich und nun ist er zu Hause. Ich lasse ihn tun und studiere verstohlen seine Mimik.

Es tauchen eine Reihe von Videos auf, das erste nennt sich „Jumping into Vulcano Crashes“. Computeranimierte Autos rasen auf einen Vulkankegel zu, stürzen hinein oder zerschellen am anderen Ende, crashen in andere Autos usw. Selten habe ich etwas Hirnrissigeres gesehen. Den kleinen Jungen aber, der kaum über Sprache verfügt, entzückt das. Er lacht und jauchzt und schaut immer wieder kontrollierend zu mir auf, ob ich seine Begeisterung denn nicht teilen würde. Aber ich zeige keine Reaktion – also blickt er wieder auf den Bildschirm.

Schon hat er sich ein neues Video ausgesucht. Diesmal gibt es Karambolagen in der Wüste, beim nächsten ziehen sich zwei Wagen gegenseitig in einen riesigen Shredder, dann werden die Autos von Zügen überrollt oder sie krachen in Übergröße gegen Brücken und Tunnel, andere werden von gigantischen Sägen zerteilt oder Pressen zerquetscht und so geht es immer weiter, immer neue Formen der Zerstörung reihen sich aneinander.

Die Videos, von deren Existenz ich bislang nichts wußte, werden viele Millionen Male angeklickt. Perverse Phantasien toben sich hier aus in einer komplett sinnbefreiten Welt, in der nur die Zerstörung noch zählt.

Da wird mir klar: diese Generation wird mir unendlich fremd sein, mehr noch: abstoßend.

Dabei ist der Kleine, wie er da an meiner Seite sitzt und sich anschmiegt an sich ein lieber Kerl, mit seinen dreieinhalb Jahren aber schon unglaublich verformt. Daß er nun neben mir sitzt und hin und wieder meine Hand ergreift, zeigt, daß er noch nicht gänzlich verloren ist. Man müßte ihn in den Arm nehmen und eine lange Zeit viel Energie aufwenden, um ihn von dem Weg, den er bereits eingeschlagen hat, wieder abzubringen. Er bräuchte einen Vater an seiner Seite, der weiß, was so ein Junge wirklich braucht.

Die Mutter ist leider vollkommen überfordert, ihr gegenüber tritt er fordernd und aggressiv auf und sie kennt nur eine Methode, ihn ruhig zu stellen: nachgeben, geben, erlauben, gepaart mit ständigen aber konsequenzlosen Ermahnungen. Man sieht ihn immer mit einem Eis im Mund und auch das Tablet ist offensichtlich ihre letzte Ressource, sich ein paar Minuten Ruhe zu erkaufen. Dann ist es auch egal, was er da schaut.

Das Interessante daran ist immer wieder die „liberale“ Auffassung, die solche Leute vor sich hertragen. Unten zieht sie gerade über eine russische Kollegin her, die sich über die tätowierten Kindergärtnerinnen in Deutschland echauffiert. So etwas gebe es in Rußland nicht, dort seien die Erzieher noch normal. „Was ist das denn für eine abwertende Aussage“, meint die Mutter des Jungen darauf. „Kann doch jeder selber entscheiden, was er macht.“ Auch ihr Kind muß jeden Tag selber entscheiden, „was es will“, ständig werden dem Burschen Entscheidungen abverlangt. „Willst du lieber das oder jenes?“ Und damit ist der Junge schon kaputt gespielt, bevor er überhaupt zu Bewußtsein kommen kann. Ein Trauerspiel.

In Ungarn sehen diese Typen immer nur die „Diktatur“ – aber das sie von hochanständigen Menschen umgeben sind, daß der Junge im Kindergarten in einer Vorzeigegruppe ist, die allein er stört, das sieht sie nicht.

Ich bin nicht traurig, als sie endlich gehen, sondern erleichtert und hoffe, nie wieder etwas mit ihnen zu tun zu haben. Ahne aber, daß sie unsere Zukunft sein werden.

© Seidwalk – nicht zur Zweitverwertung freigegeben

2 Gedanken zu “Erziehung kaputt

  1. Nachfrage: Spielt sich das Ganze in Ungarn ab (vorletzter Absatz)?
    Ansonsten kann ich das aus eigener Erfahrung nur bestätigen: Das Modell „alleinerziehend“ ist wegen der zwangsläufigen permanenten Überforderung des einen Elternteils hochproblematisch; bei mir selbst mag ich mir nicht vorstellen, was da Ungutes bei rauskommen könnte. Natürlich ist das als gesellschaftliche Realität zu akzeptieren – daß es es jedoch hochgejubelt wird zu „genauso gut“, mitunter sogar gerne, wegen Abwesenheit eines bösen patriarchalen Mannes, zu „besser“, das ist fatal. Das Ergebnis ist allzuoft wie von Ihnen beschrieben.
    Der Fairness halber sei hinzugefügt, daß in ca. 80 % der Fälle, die ich so kenne, es der Mann ist, der Frau und Kind hat sitzen lassen; es sind doch nur wenige Frauen, die dieses Modell von selbst aus anstreben, sie wissen wohl zu gut, warum.

    Seidwalk: Ungarn, aber deutsche Community.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Andererseits wird die Scheidung weit überwiegend von der Frau angestrebt. In einem mir bekanntem Fall wurde (noch nach altem Recht geschieden) dem Kindsvater nach der Scheidung systematisch das Zugangsrecht sabotiert. Ich kenne den Mann recht gut, freundlich im Umgang, leistet viel an freiwilliger Sozialarbeit, vielleicht etwas zu naiv. Jedenfalls hatte selbst er nach einem Jahr, in dem das ihm zufolge völlig weiblich besetzte Jugendamt auch nicht hilfreich oder eher -willig war, den Eindruck, dass seine Tochter für ihn endgültig verloren sei und hat sich dann zur Maxime gemacht: Keine Kinder mehr, sie würden sein ja doch nur unter fremdem Vorbehalt bleiben, und auch keine Heirat mehr.

      In einem anderen Fall jüngeren Datums wurde es einer alleinerziehende Freundin ob des frühzeitigen Todes ihres Bruders bang um die Zukunft ihrer Tochter im Falle ihres Todes. Sie überlegte sich, dass alles in allem es für diese am besten wäre, dann bei deren Erzeuger unterzukommen (den sie übrigens persönlich für einen K………n hält). Ein Anruf beim Jugendamt, ob sie dazu etwas unternehmen müsse, führte bei ihr zur Beruhigung und bei der Gesprächspartnerin zu großer Verwunderung; in den allermeisten Fällen wollten mit solchen Gesprächen die Mütter (vergeblich) sicherstellen, dass der inzwischen gehasste Kerl das Kind jedenfalls nicht bekommen würde.

      Das Rad, das die Familien zerbricht, wird von vielerlei Kräften angetrieben und in der Antriebskette hängt Vieles mit Vielem zusammen. Mit dem immer mehr wuchernden Sozialstaat kickt man wohl die Büchse noch eine Weile weiter, bis dieser völlig überlastet ist und zusammenbricht. Danach vielleicht, wenn auch wohl mehr der Not als der erworbenen Neigung folgend, ein Neustart mit einem vorwiegend familialen oder tribalen Solidaritätsmodell, wie es ja während des größten Teils der Menschheitsgeschichte bestand. Naturam expellas furca, tamen usque recurret.

      Ich habe eben ein paar Minuten lang versucht, Zahlen dazu zu finden, wie sich der Kindsunterhalt durch den Staat in den letzten Jahrzehnten genau entwickelt hat, leider erfolglos. Zum Thema Unterhaltsrecht dagegen ein Fülle von Funden, davon lebt ja schließlich das kasuistische Gewerbe. Vielleicht könnte ja auch diese genauere Information über eine „Gruppe (nicht nur) junger Männer“ die Bevölkerung zu sehr verunsichern. Weiß jemand Genaueres?

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