Tödliche Torheit

Es gibt negative und positive Lektüreweisen – die eine sucht nach Widersprüchen, Fehlern, Ungereimtheiten und reibt sich habituell an der eigenen festen Position, die zweite blendet diese Faktoren aus und will lernen, fahndet nach dem Neuen, Anderen der vorgestellten Denkart. Die letztere sollte immer primär sein, die negative hingegen als Korrektiv dienen.

Nachdem ich Manfred Kleine-Hartlages schmales Buch über den „Krieg in der Ukraine und das Desaster der deutschen Politik“ zur Hälfte gelesen hatte, legte ich es beiseite, nahm Stift und Zettel zur Hand und begann es von vorn, denn es war klar, daß man hier eine wesentliche Schrift in der Hand hat. Es geht ums Eingemachte.

Dabei führt der Autor nur fort – ergänzt und wiederholt –, was er in seinem Buch „Systemfrage“ (2021) breit ausgeführt hatte; dort legte er das Systemversagen des bundesdeutschen „Kartells“ – das ist z.B. so ein Begriff, den die negative Lesart in Frage stellen könnte – aus Wirtschaft, Medien, Politik nebst ideologischem Überbau dar, zeigt die katastrophalen Folgen und denkt über den Tag danach nach. Diesem Szenario sind wir durch den Krieg in der Ukraine einen großen Schritt näher gekommen. Es ist die neueste, aber wohl nicht letzte selbstverschuldete Großkrise in einer absurd wirkenden Kumulation der systemischen Unfähigkeit, um es bejahend auszudrücken. Weshalb das Buch mir phasenweise den Atem verschlug, liegt wohl an der Klarheit des Blicks und der Direktheit der Sprache.

Krisen haben immerhin den Vorteil, „Charakter und Zustand eines politischen Systems“ und seines Volkes offenzulegen. Nachdem wir in kurzer Folge die Eurokrise, die Fukushimakrise, die Flüchtlingskrise, die Klimakrise, die Verfassungskrise, die Coronakrise und nun die Ukrainekrise nebst ihren Folgekrisen erleben durften, liegt das Studienmaterial offen da. Kleine-Hartlage hält diese Abfolge nicht für zufällig, sie beruht auf einem kumulativen Mißmanagement, in dem eine Krise durch das Schaffen einer noch größeren unsichtbar und so „bekämpft“ wird, das letztlich die Selbstheilungskräfte einer funktionierenden Demokratie erlahmen. Dort nämlich müßten sich die Instanzen – Politik, Medien, Justiz, Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft – die Waage halten, sich gegenseitig kontrollieren und korrigieren, im heutigen Deutschland blasen sie alle gemeinsam ins gleiche Horn. Das führe auch zur Spaltung des Volkes in drei Teile: in der Mitte die Mitläufer, rechts und links jene, die das Vertrauen verloren haben, sich abkapseln oder aktiv als „ideologische Eiferer“ agieren. Mit jeder Krise werden die Konturen deutlicher, der Krieg in der Ukraine und der Umgang mit ihm wirkt wie ein Brennglas.

Ihm wendet der Autor sich nachfolgend zu, analysiert in groben Zügen die Ursachen und seine Geschichte. Wie im gesamten Buch gelingen ihm immer wieder augenöffnende Beobachtungen, etwa diese, „daß Rußland mindestens drei Mal in seiner Geschichte lediglich durch die strategische Tiefe seines Territoriums vor dem Untergang bewahrt wurde, die durch eine NATO-Mitgliedschaft empfindlich verringert wurde“.

Den Begriff des „Aggressors“ will er differenziert sehen, man müsse den „politischen“ vom „militärisch-technischen“ unterscheiden – es kommen verschiedene Akteure in den Fokus. Der Krieg in und um die Ukraine hätte verhindert werden können, wenn man Kiew vom Kurs der Westbindung abgebracht hätte, tatsächlich ein Verdienst der Regierung Merkel. Damit wäre dem Land und seinen Menschen wirklich gedient gewesen. Gerade in diesem militärstrategischen Teil wagt sich Kleine-Hartlage mitunter weit an die umstrittene Meinungsfront.

Allgemein zustimmungsfähiger sind die „Fortschreibungen des Merkel-Syndroms“, das er im vorherigen Buch aufgefächert hatte. Es ist eine Summa der systemischen Inkompetenz des bundesdeutschen politischen Systems, das nicht weniger als einen radikalen Politikbruch des Westens markiert und im Übrigen vielfach selbstwidersprüchlich ist. Und immer wieder diese großartigen Merksätze: „Wer unter Freiheit weder die des Andersdenkenden noch die der eigenen Bürger versteht, versteht sie überhaupt nicht und mißbraucht das Wort als substanzlosen Fetisch.“ Oder: „Wer jegliches Machtungleichgewicht aus dem Leben verbannen und deshalb dezentrale Machtstrukturen zerschlagen will, bringt die Macht damit nicht zum Verschwinden, sondern konzentriert sie an der Spitze der globalen Gesellschaftspyramide.“

Schließlich geht der Autor den Begriffen „Demokratie, Autokratie, Oligarchie“ nach, mit denen die Medien oft sehr frei umgehen. Demnach offenbart sich die westliche Demokratie viel stärker als Oligarchie als Putins Rußland, das eher autokratisch regiert wird. Das Ziel dieser Oligarchie sei die Zerstörung aller bindenden, „solidaritätsstiftenden“ Strukturen. Putins Autokratie sei insofern demokratischer als die westliche Oligarchie, weil in ihr noch eine Verantwortung rückverfolgbar sei, wohingegen die westlichen „Demokratien“ über keine „identifizierbare Befehlskette“ mehr verfügen. Die handelnden Akteure sind schwer dingfest zu machen, wir haben es mit einem riesigen Netz, vielleicht mit einer wabernden Masse zu tun. Die „Oligarchie“ erscheint als der Gegner, gegen den die eigentliche Demokratie zu verteidigen sei.

Aber gibt es dafür überhaupt noch eine Substanz oder ist die „mentale Disposition“ des Westens, insbesondere der Deutschen schon irreparabel geschädigt? Dieser Frage wird abschließend nachgegangen. Die Zeichen stehen schlecht in einem System, das kaum noch in der Lage ist, eigene Interessen zu artikulieren, und stattdessen „Politik als Verwirklichung abstrakter Prinzipien“ betrachtet und einem „bestimmten Ordnungsideal“ dient. Hier holt Kleine-Hartlage historisch aus und steigt über die Diagnose der „Hitler-Hysterie“ in die Geschichte hinab. Politische Gegner werden durch den Hitler-Bezug delegitimiert und mit ihnen die Politik friedlichen Interessenausgleichs. Wer sich dem verweigert, der hat automatisch mit dem Vorwurf des „Appeasement“ zu tun – die historische Vorlage wird zum Totschlagargument.

Man kann darüber streiten, ob das Aufwühlen historischer Interpretationen, die unter gegnerischer Leserschaft als „Geschichtsrevisionismus“ gehandelt werden dürften, tatsächlich notwendig war: immerhin gelingt es so, das Deutsche an der Selbstzerstörungspolitik sichtbar zu machen, zu erklären, warum wir es sein müssen, die im Selbsthaß, in der Destruktion des Eigenen vorangehen müssen. Mit Substanzabbau kann man aber Krisen nicht wirklich bekämpfen, was man hingegen sehr gut damit tun kann, ist die wahre Natur der Krise durch Hervorrufung einer noch größeren zu verdecken. Das Sprichwort sagt: Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht.

Kleine-Hartlages letztes Wort: „Sollte das Kartell seine Macht noch einmal und ungeachtet der von ihm zu verantwortenden Katastrophen behaupten, so wird es sie, aller Voraussicht nach, in Gestalt eines totalitären Terrorregimes ausüben müssen, dessen Vorboten schon lange erkennbar sind und immer deutlicher hervortreten.“

Das Buch ist nichts für sanfte Gemüter. Es verlangt nach dem kalten, entschlossenen Leser.

Manfred Kleine-Hartlage: Tödliche Torheit. Der Krieg in der Ukraine und das Desaster der deutschen Politik. Verlag Antaios. Schnellroda 2022. 102 Seiten. 13 Euro

Kleine-Hartlages Blog: Korrektheiten

siehe auch: West-östlicher Dschihad

2 Gedanken zu “Tödliche Torheit

  1. Till Schneider schreibt:

    Volle Zustimmung zu Ihrer Rezension und vor allem zu Ihren Charakterisierungen von Manfred Kleine-Hartlage, seinem Format als Analytiker und seiner Schreibweise . Ich sehe in ihm mittlerweile einen großen Autor. Eine solche schlackenlose Luzidität wie in seinen Texten finde ich fast nirgendwo sonst, und seine Beobachtungen sind beinahe alle von ungewöhnlich hoher Bedeutung und Relevanz.

    Übrigens, was Sie „großartige Merksätze“ nennen, habe ich auch identifiziert, nur dass ich sie „Lehrsätze“ nenne. Ich schreibe dann immer „Lehrsatz!“ neben die Stellen.

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  2. Nordlicht schreibt:

    Zu: „Es ist eine Summa der systemischen Inkompetenz des bundesdeutschen politischen Systems …“

    Sicherlich waren die 16 Jahre Merkel nicht nur in den Einzelentscheidungen, sondern auch im Politik-Niveau katastrophal. Wenn ich nach dem Handeln und dem Niveau der anderen Ländern frage, besonders F, GB, aber auch zB NL, dann nicht um die deutschen Miseren zu mindern.
    Deutschland ist qua Masse und Wirtschaftskraft nun einmal der wichtigste europäische Akteur. F, GB uns NL haben, was den Bedeutungs- und Niveauverlust angeht, wenig besser gemacht: Die Migrationswellen und die Verschuldungen, die Hörigkeit gegenüber den USA, ihre Marionettenfunktion gegenüber den US-Oligarchen, vermittelt über WEF und verstärkt durch das Sich-hinein-Fallen-lassen in hausgemachten Klima-, Corona-Krisen- und in kultureller Selbstzerfleischung.

    Es kommen Millionen Araber und Afrikaner in ein West-/Mitteleuropa. das sich aufgegeben hat und seine Parasiten auch noch anbetet.

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