Viktor Orbáns Schal

Großes Aufsehen erregte mal wieder Viktor Orbán. Nach einem Fußballänderspiel besuchte er die Spielerkabine, um einen Veteranen – dessen Abschiedsspiel es zugleich war – zu begrüßen. Dabei hing ein Schal mit den nationalen Farben um Orbáns Schultern. Bisher alles normal. Auf dieser Devotionalie war allerdings mehr zu sehen: die Umrisse Großungarns.

Der Aufschrei war groß, insbesondere natürlich in Deutschland, aber auch in den Nachbarländern Ukraine und Rumänien wurde der Schal bemerkt. Man gab sich irritiert. Die Ukraine bestellte sogar den ungarischen Botschafter ein.

Die deutschen Blätter sahen eine günstige Gelegenheit, mal wieder einen Skandal zu präsentieren, Vertreter der unabhängigen Presse wollten in Orbán einen „gefährlichen Imperialisten“ sehen, der aus der EU herausgeworfen gehört.

Daß man das Ganze auch sportlich sehen kann, beweist der slowakische Präsident.

Orbán wiegelte ab, man solle Sport und Politik trennen – das ist freilich eine Forderung, die gerade jetzt das mediale Establishment vor unlösbare kognitive Dissonanzen stellt. Es wäre naiv, dem Instinktpolitiker Orbán einen Lapsus zu unterstellen, andererseits sollte man die Petitesse nicht sinnlos aufblasen.

Wer sich nämlich ein klein bißchen in Ungarn auskennt, der weiß, daß die Königreich-Karte, die die Landesgrenzen vor dem Friedensdiktat von Trianon zeigt, in Ungarn allgegenwärtig ist. Sie klebt als Symbol an jedem zweiten Auto, Leute tragen sie als Kette oder Ring, sie prangt als T-Shirt auf dicken Bäuchen und selbst in offiziellen Büros in den Stadtverwaltungen kann man sie hängen sehen. Es gibt sogenannte Nemzeti Boltok, in denen man allerlei lokalen, traditionellen, nationalen Zierat, Tand und sogenannte Hungarica kaufen kann, von Kettchen, Bildchen, Klebern über Flaggen, T-Shirts, bis hin zu hochwertigen ungarischen Trachten, bestickten Blusen und Dolmanen und natürlich auch diese Landkarte in verschiedenen Versionen. Die Karte hängt sogar bei mir im Zimmer, 120 x 85 cm,  ich habe sie in einem solchen „Nationalgeschäft“ in Keszthely für 15 Euro gekauft – man braucht sie immer wieder, wenn man sich mit ungarischer Literatur und Geschichte beschäftigt.

Wird man als Deutscher erstmals damit in der Öffentlichkeit konfrontiert, kann man leicht erschrecken. Uns ist es abgewöhnt worden, Deutschland in seinen historischen Grenzen zu sehen, ohne Schock. Wir sind wie Pawlowsche Hunde, denen blitzartig das schrille Wort „Nazi!“ ins Hirn fährt, sehen wir die Grenzen des Deutschlands unserer Großeltern. Es in der Öffentlichkeit zu tragen, ist vermutlich sogar strafbar, wer es dennoch tut, ist Revanchist. Mit dieser Konditionierung hat man die historische Realität den tatsächlichen Nazis überlassen.

In Ungarn funktioniert das anders. Natürlich gibt es auch dort Kräfte, die das „Minden vissza!“ („Alles zurück!“) predigen, für die übergroße Mehrheit der Ungarn bedeuten diese Grenzen aber weniger Revanche als Schmerz. Sie zu zeigen ist ein bewußtes Anschließen an die Vergangenheit, die eigene Geschichte und keine Ansage für die Zukunft. Man will nicht vergessen, ein Großteil dessen, was heute im Restungarn kulturellen Wert hat, stammt aus Erdély, Felvidék, Délvidék, aus Pozsony, Kassa, Kolozsvár, Szabadka usw. Diese Regionen, diese Orte sind den Ungarn heilig, wer die klassische Literatur liest, wer Jokai liest oder Kosztolányi, kommt an ihnen gar nicht vorbei. Noch immer lebt jeder fünfte Ungar als ethnische Minderheit in einem der angrenzenden Länder.

An sie zu erinnern, hat meist mit Revanchismus nichts zu tun. Im Gegensatz zu Deutschland wäre Ungarn auch viel zu schwach, um auch nur einen seiner Nachbarn anzugreifen. Auch die Geschichte lehrte, daß Revisionsversuche nur zu noch mehr Leid führen. Selbst wenn der Schmerz über den Verlust nur langsam nachläßt und in weiten Teilen des Volkes noch präsent ist – in anderen dagegen nicht mehr – ist die Messe gelesen. Fast niemand, der die Karte als Symbol trägt, denkt sich was dabei. Sie ist zur Folklore geworden und als Folklore dient sie als Antidepressivum. Mehr muß man nicht hineinlesen.

Ein Gedanke zu “Viktor Orbáns Schal

  1. Andreas aus E. schreibt:

    Als an Ortssagen interessierter Mensch habe ich selbstverständlich auch eine Karte des Deutschen Reichs „zu Kaisers Zeiten“ stets griffbereit. Auf die Idee, Nachbarstaaten zu überfallen, bin ich deswegen aber bislang nicht gekommen. Wie Sie schreiben: Messe ist gelesen.

    Seidwalk: Hängt bei mir auch an der Tür – aber so, daß der Unbedarfte nicht gleich erschrecken muß.

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