Alles Virtuelle ist irreal!

Diesen Satz muß man sich immer wieder vor Augen halten. Ich sage ihn hin und wieder im persönlichen Umfeld, aber heute hatte ich ein Erlebnis, das ihn mir mit aller Macht erneut ins Gedächtnis hämmerte.

Es begann mit einem normalen Windows-Update. Schon beim Neustart konnte man stutzig werden: er dauerte ungewöhnlich lang. Dann paßte mein Paßwort nicht mehr. Nach mehreren Neustarts ging es dann doch. Was mich begrüßte, war ein komplett leerer Bildschirm.

Alles war weg! Alles! Sämtliche Dateien, alle Voreinstellungen, selbst mein Browser und das Hintergrundbild. Der Computerbildschirm sah exakt so aus, wie wenn man ihn neu aus dem Geschäft mitnimmt, leer und jungfräulich. Als auch der Dokumentenfolder leer war, kroch die Panik ein. Das war der Moment, in welchem obiger Spruch wieder präsent war.

Mit einem alten Gerät suchte ich nach Lösungen, fand auch eine und konnte das Gerät – erneut nach mehreren bangen Neustarts – endlich wieder in den Ausgangszustand versetzen.

Natürlich hatte ich die letzten Arbeiten alle extern gespeichert, aber dennoch: die Vorstellung, alles wieder neu einzurichten, ließ mich fast verzweifeln. Schon spielte ich mit den Gedanken, die Stunde zu nutzen und von allem zurückzutreten.

Anders sieht es mit der externen Festplatte aus, die nach dem Wechsel auf Windows 11 nicht mehr funktioniert, auch nicht mit neuen Speichern und stets nur den Befehl ausgibt, daß sie formatiert werden müsse, um wieder brauchbar zu werden.

Die Arbeit am Computer hinterläßt viele Spuren, formt diesen. Nach einer Weile sind die Abläufe verinnerlicht, alles, was irgendeinen späteren Wert verspricht, irgendwo abgelegt. Es stecken Jahre, wenn nicht ein Leben in diesem toten Ding.

Dabei ist das technische Versagen nur eine Form des Inhaltsverlustes. Es gibt eine Reihe an Möglichkeiten. Verlust oder physische Zerstörung.

Viren etwa und noch immer geistert die Theorie umher, daß eines Tages ein Supervirus oder die Eroberung eines „Generalschlüssels“ das ganze Netz lahmlegen könnte.

Oder Anbieter von Plattformen hören einfach auf. Seit acht Jahren lerne ich jeden Tag ein paar Vokabeln auf „Memrise“. Jetzt schreiben die: „Am 31. März 2024 ziehen deine Community Kurse zu einer neuen Website um. Sie werden nicht mehr in der Memrise App verfügbar sein.“ Keine Ahnung, was das bedeutet und ob oder wie ich an mein Material komme. Ich habe mir selbst einen Kurs mit tausenden Vokabeln aufgebaut („Ungarisch – erweitertes Vokabular“) mit mehr als 4000 Einträgen. Das alles kann sich über Nacht in Nichts auflösen.

So hatte der Provider meiner Seite zu Hans Kirk und der dänischen Literatur vor ein paar Jahren den Dienst eingestellt und hätte man mir nicht einen Fachmann empfohlen, der es auf eine andere Plattform spielte, dieses kleine Labyrinth wäre schon nicht mehr existent.

Zuletzt erhielt ich eine verdächtige Mail mit der Nachricht über meine alte Schachphilosophieseite: „Wir möchten Sie heute freundlich daran erinnern, daß die Domain http://www.koenig-plauen.de Ihrer Firma, mit der dieses E-Mail-Konto verbunden ist, am 02.03.2024 abläuft.“ Noch steht sie – ich nehme an, das war ein Phishingversuch; aber eine gute Erinnerung, daß auch dort jahrelange Arbeit aus dem Nichts vernichtet werden kann.

Auch WordPress wird es nicht ewig geben. Hier gilt wie überall: wenn man etwas behalten möchte, dann sollte man es besser heute als morgen abspeichern – aber auch das hat keine Ewigkeitsgarantie.

Oder man wird gesperrt. Martin Sellner kann ein Lied davon singen. Sein Youtube-Kanal mit hunderten Videos und 100 000 Anhängern verschwand von einem Tag auf den anderen, ersatzlos. Stefan Molineaux, ein libertärer konservativer Autor und Philosoph war einst ein Riese in der Branche, bei dem Millionen Menschen Rat gesucht haben. Sehr sanft der Mann, sehr nachdenklich, nirgendwo „extrem“. Gecancelt. Gott weiß warum. Seither haben seine Videos auf anderen Plattformen 3000 Views; virtuelle Existenz vernichtet. Oder der Youtube-Kanal der „Sezession“ mit den wertvollen Autorenportraits und Stammtischrunden, auch der verschwand unter fadenscheinigen Begründungen über Nacht und damit die Arbeit von vielen Wochen[1].

Oder aber – und das ist die ultima ratio der Skepsis – der Strom ist weg: dann stehen wir alle machtlos da.

Dabei ist alles ganz logisch und einfach: je moderner ein Medium, um so kürzer die Halbwertszeit. Die Hammurapi-Stele (1750 v. Chr) können wir noch heute lesen und die Tontafeln aus Byzanz ebenso. Alte Papyri halten schon wesentlich kürzer, aber es werden immer neue noch lesbare gefunden und mit viel Technik auch die verblichenen oder verbrannten entziffert. Ein Buch, wenn es gut gemacht ist, geschöpftes Papier, und richtig gelagert wird, kann 500 Jahre überstehen. Neuere Bücher – aus Industriepapier – können 150 Jahre schaffen, zerfallen manchmal aber auch schon nach vier, fünf Jahrzehnten.

Was gab es nicht für einen Hype, als die CD die Schallplatte abgelöst hatte. Heute sehen wir, daß CDs weit kürzer halten als LPs. Auch Filmrollen verblassen.

Technische Speichermittel litten zuerst unter der Magnettechnik, die sich allmählich entlud. Hörkassetten, Videokassetten oder die ersten Computerdisketten – zuerst die „papierne“ floppy disc, dann die Plastikdiskette 3,5 Zoll – haben alle nur eine Lebenszeit zwischen 5 und 50 Jahren, vor allem aber fehlt es längst an Abspielgeräten. Auf meinem Boden lagern noch ganze Kartons an Disketten, die im Grunde entsorgt werden könnten. Filmfreunde fingen in den Nullerjahren damit an, ihre Filme zu digitalisieren, nur um zu erfahren, daß ihnen heute die Hardware fehlt, die CD noch irgendwo einzulegen, denn die Computer der neuen Generation haben gar keine Laufwerke mehr. Bald wird es den Sticks genauso ergehen. Die alten Programme werden nicht mehr erneuert oder geschützt … und so geht es weiter.

Der Gipfel der Nullifizierung des Inhalts ist die Cloud. Da hat man gar nichts mehr in der Hand und kann sich nicht mal sicher sein, daß nicht irgendein „Dienst“ die Luftdaten durchstöbert. Ich habe noch nie etwas in eine Cloud geladen und werde es freiwillig in meinem Leben auch nicht tun.

Die Cloud verpufft in dem Moment, in dem der Strom weg ist.[2]

Wir leben das virtuelle Leben und wir sollten nie vergessen, daß alles nur ein Konstrukt ist. Nirgendwo ist dieser Begriff treffender als hier. Die Schlußfolgerungen für sein jeweiliges Leben, muß jeder für sich selbst ziehen. Speichern ist gut und wichtig, schützt aber nicht vor der letztlichen Irrealität.

[1] Wurde mittlerweile zumindest teilweise wieder neu aufgespielt – auch eine enorme Arbeit.
[2] Von dieser Überzeugung bringen mich auch die Argumente von Experten nicht ab, auf die ich gespannt warte. Der Strom ist das unhintergehbare Apriori und auch er unterliegt dem Goetheschen Diktum.

2 Gedanken zu “Alles Virtuelle ist irreal!

  1. Michael B. schreibt:

    Wenn Ihr Haus brennt, geht die Papyrii-Sammlung genauso ueber den Jordan wie die der Buecher aus Papier, ob gut geschoepft oder aus saurer DDR-Papierqualitaet. Wird es heisser springen die Lehmtafeln wie auch die aus Stein, in die Sie im Lauf des Tages mit Muehe und Meissel 27 Symbole gehauen haben.

    Will mehreres sagen. Zuerst ist virtuell nicht binaeres Entweder oder Oder, sondern graduell. Das ist aber immer noch keine Skala auf einer Linie, die Qualitaeten sind auch unterschiedlich. Der Strom ist dabei nicht DAS Kriterium. Wenn der weg ist, sitzen Sie bestimmt nicht mit Ihren stromunabhaengigen Buechern unbesorgt wo auch immer, dann haben Sie andere Probleme. Wie auch der Brand heutzutage wohl nicht mehr das naheliegende Beispiel ist. Ein paar Leute in Polizeiuniform frueh halb Sechs moegen Ihre Wohnung gruendlicher zerlegen als ein Feuer. Oder ein paar marodierende Banden, wenn das und anderes/folgendes laenger dauert.

    Man nutze, was da ist bestmoeglich. Das Netz (das mehr ist als „die Cloud“) bietet auch Moeglichkeiten. Ansonsten mache man seine Backups, getrennt nach Daten und Technik (wie dem Betriebssystem). Man entwickle Redundanz (ja, hier hat Cloud ihren Platz), verschluessele gescheit, was man selbst hochlaedt und wichtig ist. Es ist uebrigens ein Irrtum, dass nur weil man das (das Hochladen) nicht mit Daten explizit tut – die Art ist nach eben Gesagtem noch am Besten zu schuetzen – nicht mit jeden Internetzugriff eh tut. Schon auf kommerzieller Ebene ist z.B. Fingerprinting voelliger Standard. Dinge wie wenigstens ein VPN sagen wir mit dem Anspruch von Mullvad sollte man staendig vorschalten.

    V.a.D. filtere man straff die inhaltliche Seite der aktuellen, ahem, Inkarnation des Virtuellen. Damit tut man sich wohl das Beste. Das heisst – noch einmal wiederholt – aber nicht, dass man jegliche Werkzeuge gegen den Faustkeil tauschen sollte.

    Like

  2. externnet schreibt:

    Wenn der Strom weg ist, erreichen wir nicht nur die Daten in der Wolke nicht, sondern einander auch nicht mehr, da unsere eigenen Geräte defekt sind.

    Denken allerdings ginge noch, wenn ich dazu klug genug wäre und nicht zu faul. Euler zum Beispiel war fleißig auch ohne elektrischen Strom, sonderbegabt, vgl. de.wikipedia.org/wiki/Eulersche_Formel

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..